Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas beim Festakt zum 60. Jahrestag des Elysée-Vertrages in Paris
[Stenografischer Dienst]
Präsidentin Bärbel Bas: Herr Präsident! Frau Präsidentin! Herr Bundeskanzler! Sehr geehrte Herren Präsidenten des französischen Senats und des Bundesrates! Liebe Kolleginnen und Kollegen beider Parlamente! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Jugendliche! Der Élysée-Vertrag war ein Neuanfang in der Geschichte unserer Länder und in der Geschichte Europas. Vor 60 Jahren legten unsere Staaten die Grundlage für eine tiefe Freundschaft, eine Freundschaft, die zum Motor der europäischen Einigung wurde.
Der Begriff „Versöhnung“ kommt im Élysée-Vertrag nicht vor. Dieser Vertrag steht aber für eine beispiellose Aussöhnung zwischen zwei Nationen und für einen neuen Geist der Verständigung.
1963 lag der Zweite Weltkrieg erst 18 Jahre zurück - und damit das Leid, das Deutschland über Europa brachte. Auch der verheerende Erste Weltkrieg war im Gedächtnis der Menschen noch sehr präsent.
Aussöhnung verlangt Mut, Menschlichkeit und Großherzigkeit. In der Zivilgesellschaft gab es früh Menschen, die sich für eine echte Versöhnung aussprachen.
Weitsichtige Persönlichkeiten wie Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, Alfred Grosser und Carlo Schmid haben die Verständigung vorangetrieben.
Ich verneige mich mit tiefer Dankbarkeit und Respekt vor allen Menschen, die sich für die Überwindung der Feindschaft und den Aufbau dieser Freundschaft unserer Länder engagiert haben.
(Beifall)
Simone Veil sagte 2004 im Deutschen Bundestag:
„Der Teufelskreis musste durchbrochen werden: die deutsch-französische Aussöhnung würde der Eckstein beim Aufbau eines befriedeten Europa sein.“
Als Jugendliche hatte Simone Veil Auschwitz überlebt. Sie verlor ihre Mutter, ihren Vater und ihren Bruder im Holocaust. Und doch brachte sie die Kraft auf, den Deutschen die Hand zu reichen. Zeitlebens hat sie sich für die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland eingesetzt.
Liebe Frau Präsidentin, chère Yaël, danke, dass Sie mich eingeladen haben, gemeinsam die Ruhestätte von Simone Veil im Pantheon aufzusuchen. Es hat mich tief bewegt, dieser außergewöhnlichen Frau die Ehre zu erweisen. Simone Veil bleibt ein großes Vorbild - als überzeugte Versöhnerin, visionäre Europäerin und leidenschaftliche Vorkämpferin für Frauenrechte.
(Beifall)
Ob die europäische Idee als Friedensprojekt noch verständlich sei, fragte manch einer noch vor Kurzem. Frieden schien selbstverständlich, vor allem für die junge Generation. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, dem 2014 die völkerrechtswidrige Annexion der Krim voranging, zeigt uns: Wir haben uns bitter geirrt.
Die Mahnung Jean-Claude Junckers ist schmerzlich aktuell:
„Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen!“
(Beifall)
Seit fast einem Jahr sterben jeden Tag in Europa Menschen in einem verbrecherischen Krieg.
Europa steht fest und unverbrüchlich an der Seite der Ukraine. Wir unterstützen die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrem Kampf um Freiheit, Souveränität und territoriale Integrität, genauso wie wir auch die Ukrainerinnen und Ukrainer auf der Flucht unterstützen.
Wir werden der Ukraine beim Wiederaufbau und beim Weg in die Europäische Union helfen. Vom ersten Moment dieses Krieges hat Europa eine überwältigende Solidarität mit der Ukraine geübt und große Geschlossenheit gegenüber dem russischen Aggressor gezeigt.
Das liegt auch in unserem Interesse. Es geht um die Sicherheit unseres Kontinents, um unseren Wohlstand und unser Lebensmodell, um die Werte, die uns verbinden, um Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Wir müssen die Grundlagen der Europäischen Union verteidigen - auch gegen Angriffe von innen. Nur wenn Europa im Inneren stark ist, können wir unsere Werte international behaupten.
Europa steht vor immensen Aufgaben. Die geopolitischen Umwälzungen, der Klimawandel, die Energieversorgung, die Wirtschaft oder die Migrationsbewegungen verlangen von uns neue, gemeinsame Antworten.
Deutschland und Frankreich sind stärker gefordert denn je. Unsere Partnerschaft spielt eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der großen Aufgaben unserer Zeit. Wie eng wir uns abstimmen, spielt eine wesentliche Rolle für die Zukunft unserer Länder und der Europäischen Union.
Wir haben unterschiedliche Verfassungstraditionen und Kulturen. Das spiegelt sich bei manchen Fragen auch in unterschiedlichen politischen Ideen wider. Auch das gehört zu einer Freundschaft. Unsere Stärke liegt darin, diese Unterschiede in Fortschritte für Europa zu verwandeln. Europa braucht das deutsch-französische Tandem.
Unsere Parlamente stehen hier in einer besonderen Verantwortung -
(Beifall)
erst recht in einer Zeit, in der Demokratien unter Druck stehen und das Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger in die Politik in besorgniserregender Weise schwindet.
Die Demokratie ist so stark wie ihre Parlamente. Deshalb ist mir so wichtig, dass wir unsere deutsch-französische parlamentarische Zusammenarbeit weiter stärken. Ich sehe es besonders als Aufgabe unserer Parlamente, einen vertieften Austausch zu pflegen und auf dieser Grundlage gemeinsame Positionen zu erarbeiten, so wie wir es heute Nachmittag auch in der Arbeitssitzung der Assemblée nationale und des Deutschen Bundestages tun werden.
Im Élysée-Vertrag war von den Parlamenten keine Rede. Doch inzwischen hat sich die parlamentarische Außenpolitik etabliert. Dank vieler engagierter Abgeordneter hat sich ein breites Netzwerk zwischen dem Deutschen Bundestag und der Assemblée nationale gebildet.
Mit dem deutsch-französischen Parlamentsabkommen von 2019 haben unsere Parlamente die Zusammenarbeit auf eine neue Stufe gehoben. Den Anstoß dazu gab übrigens Ihre leidenschaftliche Rede 2017 hier in der Sorbonne, sehr geehrter Herr Präsident Macron.
(Beifall)
Der Deutsche Bundestag und die Assemblée nationale haben Ihren Appell nach einer neuen Dynamik in unseren Beziehungen schnell aufgegriffen und dieses binationale Parlament gegründet. Und das ist weltweit einmalig.
An dieser Stelle möchte ich auch Wolfgang Schäuble und Richard Ferrand für ihr Engagement danken. Sie beide waren treibende Kraft hinter diesem Projekt.
(Beifall)
Unsere noch junge Parlamentarische Versammlung war während der Pandemie nicht nur arbeitsfähig, sondern hat auch an Profil gewonnen. Das zeigt, wie stark die deutsch-französische Partnerschaft insgesamt ist, und zeugt von gegenseitigem Vertrauen.
Es ist mir ein persönliches Herzensanliegen, die deutsch-französische Parlamentskammer intensiv zu nutzen und weiterzuentwickeln. Darin bin ich mir mit meiner Amtskollegin einig.
Ich habe eine gemeinsame Erklärung mit ihr zusammen für dieses Jubiläum erarbeitet. Damit wollen wir die Zusammenarbeit unserer beiden Parlamente weiter stärken und deutsch-französische Lösungen suchen für den Integrationsprozess in Europa.
Dieses Jubiläum ist auch ein guter Anlass, den deutsch-französischen Parlamentspreis wieder zu beleben. Die letzte Auslobung liegt schon sieben Jahre zurück. Wir hatten den Parlamentspreis anlässlich des 40. Jahrestages des Élysée-Vertrages beschlossen. Er zeichnet wissenschaftliche Werke aus, die zu einer besseren gegenseitigen Kenntnis der beiden Länder beitragen.
Sehr geehrte Damen und Herren, nach dem Zweiten Weltkrieg war klar, dass wir nur mit neuen Ansätzen Hass und Feindschaft in Europa überwinden können. Aussöhnung und Verständigung konnten kein Elitenprojekt sein. Sie brauchten eine möglichst breite Beteiligung der Bevölkerung, Begegnungen der Bürgerinnen und Bürger.
Es entstand ein immer dichteres Netz von Städtepartnerschaften. Mittlerweile sind es mehr als 2 200 deutsch-französische Partnerschaften unter Beteiligung von Städten, Departements und Regionen. Besonders intensiv ist die Zusammenarbeit in den Grenzregionen.
Hier sind unsere alltäglichen Beziehungen echt eng verflochten: zwischenmenschlich, wirtschaftlich und kulturell. Das hat sich in der Pandemie gezeigt. Die kurzzeitige Schließung der Grenze war ein Schock für viele Menschen. Heute sind die Grenzen wieder wie vor der Pandemie: kaum noch wahrnehmbar.
Sehr geehrte Damen und Herren, nach dem gescheiterten Verfassungsreferendum 2005 hat Simone Veil festgestellt:
„Die Jungen sind von der Selbstverständlichkeit Europas überzeugt. Wir haben es versäumt, ihnen das Gegenteil klarzumachen.“
Was wir in Europa in den vergangenen Jahrzehnten erreicht haben, ist keine Selbstverständlichkeit. Das vergessen wir manchmal. Das gilt für Europa, das gilt für die Demokratie, das gilt für den Frieden, und das gilt ebenso für die deutsch-französische Freundschaft.
Deswegen freue ich mich sehr, dass junge Menschen aus Frankreich und Deutschland an diesem Festakt teilnehmen. Danke, dass Sie alle hier sind!
(Beifall)
An dieser Stelle sage ich schon jetzt: Engagieren Sie sich weiter für die deutsch-französische Freundschaft, für die Demokratie und für Europa! Und vor allem: Stecken Sie andere Jugendliche mit Ihrem Elan an! Es geht um die Zukunft. Ihre Gestaltung liegt besonders in Ihren Händen.
Die Jugend war übrigens von Anfang an ganz wesentlich für unsere Aussöhnung. 35 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen 1951 bei dem europäischen Jugendtreffen auf der Loreley zusammen - vor allem Deutsche und Franzosen.
1963 wurde das Deutsch-Französische Jugendwerk gegründet. Diese Institution trägt seit 60 Jahren außerordentlich viel zu gegenseitigem Interesse, Verständnis und zu unserer engen Freundschaft bei.
Ich möchte bei diesem Festakt besonders den Bürgerinnen und Bürgern danken, die diese Freundschaft zwischen unseren Ländern aufgebaut, gelebt und immer wieder neu geknüpft haben. Auf Sie kommt es weiterhin besonders an.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, vertiefen wir unsere besondere Freundschaft weiter - mit neuen Ideen und frischen Impulsen! Seien wir ehrgeizig - für eine Zukunft unserer Länder und für eine Zukunft in Europa!
Merci. Vielen Dank.
(Beifall)