Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung anlässlich des 100. Jahrestages der Ermordung Walther Rathenaus
[Stenografischer Dienst]
Präsidentin Bärbel Bas:
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche einen schönen guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet.
Vor 100 Jahren, am 24. Juni 1922, wurde Walther Rathenau ermordet. Weil der liberale Außenminister ein bedeutender Repräsentant der ersten deutschen Demokratie war. Weil er Jude war. Und weil er für Deutschlands Zukunft auf Ausgleich und Verständigung setzte.
Der Mord an Rathenau war Höhepunkt einer Serie von Attentaten, die die junge Weimarer Republik erschütterten. Sie entsprangen einem politischen Klima von Hass, Hetze und Gewalt. Es war keine Tat irregeleiteter Einzelner. Der Mord war Teil eines rechtsterroristischen Umsturzplanes, der die Republik zu Fall bringen sollte. Das Netzwerk reichte in rechtsnationale politische Kreise und in staatliche Institutionen hinein.
Der Plan scheiterte. Stattdessen kam es zu nie dagewesenen Massenkundgebungen für die Demokratie; allein in Berlin gingen 1 Million Menschen auf die Straße. Am Tag nach dem Mord erließ die Regierung zwei Verordnungen zum Schutz der Republik. Es schien, als hätte die ganze Republik begriffen, dass sie sich entschlossen gegen ihre inneren Feinde zur Wehr setzen muss. Wir wissen: Am Ende reichte das nicht.
Heute richtet sich unser Blick auf den Krieg, den ein aggressiver Autokrat zurück nach Europa gebracht hat. Auf den Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer um ihre Freiheit. Um ihr Recht, selbst zu bestimmen, wie sie leben wollen. Dieser Krieg ist auch ein Angriff auf die freiheitliche Demokratie.
Aber Demokratien sind und bleiben vor allem von innen her verletzlich. Auch unsere Demokratie, die sich seit mehr als sieben Jahrzehnten bewährt. Polarisierung, Unversöhnlichkeit und eine Enthemmung in Worten und Taten setzen ihr zu. Noch nie gab es so viele politisch motivierte Straftaten - auch antisemitische Straftaten! Das ist besonders beschämend.
(Dr. Alice Weidel (AfD): Documenta!)
Unsere freiheitliche Gesellschaft wird bedroht von Verschwörungstheorien und gezielter Desinformation, von Hetze und Hass. Hass, der zu den Morden des NSU, den Anschlägen von Halle, den Toten von Hanau geführt hat. Hass, der Walter Lübcke im Juni vor drei Jahren das Leben gekostet hat. Dem müssen wir entschieden entgegentreten.
(Beifall im ganzen Hause)
Mit allen Mitteln.
Ich betone das auch mit Blick auf unsere Arbeit: Wir, die Abgeordneten - und zwar alle Abgeordneten! -, sind für die politische Kultur in diesem Land maßgeblich verantwortlich. Unsere Demokratie muss sich mutig und entschlossen gegen ihre Feinde zur Wehr setzen. Nach innen und nach außen. Das ist die Lehre, die unser Grundgesetz aus der gescheiterten Weimarer Republik zieht.
Aber die Geschichte lehrt noch etwas: Die Demokratie braucht vor allem Demokratinnen und Demokraten. Es kommt auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger für die freie, demokratische Gesellschaft an. Heute nicht weniger als vor 100 Jahren.
(Beifall im ganzen Hause)