Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Eröffnung der „No Hate“ Konferenz der Parlamentarischen Versammlung des Europarats
[Es gilt das gesprochene Wort.]
Anrede
„Hass kann Hass nicht besiegen.“ Diese eindringliche Mahnung stammt von Martin Luther King. Heute vor 55 Jahren wurde bekannt gegeben, dass ihm wegen seines Kampfes gegen Diskriminierung und Rassismus der Friedensnobelpreis verliehen werden sollte. Wenige Jahre später starb er – als Opfer eines hasserfüllten Gewaltverbrechens.
Hass ist kein neues Phänomen. Es hat ihn schon immer gegeben. Aber unter den Bedingungen der digitalen Kommunikation sehen wir uns heute mit einem völlig neuen Resonanzraum von Hass und Hetze konfrontiert. Persönliche Verunglimpfung, Lüge und Denunziation, der Aufruf zur Gewalt: all das findet nicht nur einen potenziell unbegrenzten Abnehmerkreis; einmal in der Welt, im world wide web, lässt es sich auch kaum mehr löschen.
Der französische Philosoph André Glucksmann beklagte bereits 2005 die „Rückkehr einer elementaren Gewalt“. Er fasste sie in die beunruhigende Formel: „Ich hasse, also bin ich.“ Gluckmann beschreibt, wie Hass funktioniert: „Der Hass klagt an ohne Kenntnis der Fakten. Der Hass urteilt, ohne begreifen zu wollen. Der Hass verurteilt willkürlich. Er hat vor nichts Respekt, er sieht sich als Objekt einer universellen Verschwörung. Am Ende, erfüllt vom Ressentiment, gegen alle Argumente gefeit, zieht er eigenmächtig und großspurig einen Schlussstrich, indem er zubeißt.“
Das Internet scheint prädestiniert für diesen Mechanismus. Die sogenannten sozialen Medien wirken als Katalysator von Emotionen, insbesondere von negativen Gefühlsausbrüchen in digitalen „Echokammern“, in denen sich Gleichgesinnte nur noch ihrer – zumeist negativen – Sicht der Dinge bestätigen. Im Schutz der Anonymität der online-Kommunikation fallen die Schranken von Anstand und Moral.
Es ist ein bekanntes Verhaltensmuster: Unbeobachtet erlauben wir uns manches, was wir im Beisein anderer nicht täten. Im Netz lassen viele – scheinbar unbeobachtet – ihrer Wut, ihrem Hass, freien Lauf, steigern sich in Zuspitzungen hinein, die sie sich im bürgerlichen Leben nicht erlauben würden. Sobald eine Regelverletzung online kursiert, regt sie dazu an, überboten zu werden – und letztlich zieht das eine gefährliche Rückwirkung nach sich: Der Hass im Netz verändert auch die reale Welt.
Die Folgen für die politische Streitkultur und das gesellschaftliche Klima sind fatal – zumal sich hier mit den Möglichkeiten der technischen Verbreitung – Stichwort social bots – eine Waffe herausbildet, die politisch gezielt eingesetzt werden kann. Repräsentanten, gerade vor Ort, in den Kommunen, aber auch viele Kolleginnen und Kollegen in den Parlamenten, sind Zielscheibe von Beleidigungen, Diffamierungen, Anfeindungen, Drohungen, denen kaum noch Grenzen gesetzt sind. Und es bleibt nicht bei verbalen Entgleisungen. Weder bei uns noch in anderen Ländern. Im Januar wurde in Polen der Danziger Bürgermeister Paweł Adamowicz auf offener Bühne erstochen. Zu den beklemmenden Erfahrungen in Deutschland gehören die Abgründe an Häme und Hass, die sich im Netz auftaten, nachdem der Regierungspräsident von Kassel vor seinem Haus kaltblütig getötet worden war. Schlimmer noch: Straftaten werden nicht heimlich begangen, sondern über das Netz direkt vor den Augen der Öffentlichkeit: Im März erlebten wir fassungslos, wie der Attentäter von Christchurch seinen Anschlag auf zwei Moscheen via Facebook in die ganze Welt verlegte. Mörder wie der Norweger Breivik oder der Extremist, der in Halle eine Synagoge zu stürmen versuchte und zwei Menschen tötete, zeigen ihre Verbrechen im livestream.
Woher kommt diese blinde Wut, die überhaupt keinen Respekt vor anderen Menschen mehr kennt? Die Gewalt rechtfertigt, Opfer von Anschlägen verhöhnt, und bei der über das Leid der Angehörigen gespottet wird? Woher kommt diese Gier nach Öffentlichkeit?
Es gibt dafür keine monokausale Erklärung, so wie sich aus keiner der Erklärungen irgendeine Rechtfertigung ergibt. Angeklungen ist bereits, dass die aktuelle Entwicklung viel mit der digitalen Revolution zu tun hat. Ich denke dabei aber nicht allein an die technischen Möglichkeiten. Vielmehr geht es auch um das atemberaubende Tempo, in dem sich in Zeiten der Digitalisierung unsere Welt auf allen Ebenen wandelt, um die von vielen als disruptiv empfundenen Veränderungen. Die Auflösung des Bekannten, des Vertrauten hat weitreichende Folgen für den einzelnen Menschen und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Viele Menschen fürchten, davon überrollt zu werden, einer immer komplexeren Wirklichkeit ausgeliefert zu sein. Zusammenhänge lösen sich auf, Zugehörigkeiten brechen auf. Alte Gewissheiten und Identitäten werden infrage gestellt. Unter den Bedingungen der Globalisierung wächst die Komplexität der offenen Fragen. Die postindustriellen Gesellschaften werden immer heterogener, unübersichtlicher und konfliktreicher.
Der Entwicklungsökonom Paul Collier spricht angesichts der gesellschaftlichen Fragmentierung inzwischen von einer „Rottweiler-Gesellschaft“: Die gegenseitige Achtung voreinander sinke, vielen gehe es nur noch darum, das eigene Recht durchzusetzen. Dahinter träten das Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft und die Empathie für andere Menschen immer mehr zurück. Die Tonlage der gesellschaftlichen Debatten verschärft sich mit der heftigen Konfrontation zwischen Eliten und jenen, die sich bevormundet fühlen, die ihre Positionen in Diskursen nicht mehr wiederfinden. Es herrscht die Logik des „Wir-gegen-die“. Die einen berufen sich auf den vermeintlichen „gesunden Menschenverstand“, der alles infrage stellt, was nicht in ein einfaches Schema passt. Die anderen moralinsauer auf politische Korrektheit. Dazwischen scheinen sich unüberwindbare Gräben aufgetan zu haben.
Philosophen, Neurologen und Publizisten beschäftigen sich mittlerweile mit diesem Phänomen. „Miteinander reden, aber wie?“ – so lautet die oft hilflose Frage in den Feuilletons und wissenschaftlichen Analysen. Studien zeigen, dass Hasskommentare die freie Meinungsäußerung beeinträchtigen – und damit die Meinungsvielfalt. Rund 50 Prozent der Internetnutzer bringt sich aufgrund drohender Hasskommentare seltener mit ihrer politischen Meinung in Diskussionen ein. Umgekehrt müssen wir uns als Gesellschaften die Frage stellen, ob wir in der Vergangenheit nicht auch versäumt haben, Debatten offen genug zu führen. Aus letztlich paternalistischer Rücksicht, die Menschen vor schwierigen Diskursen bewahren zu wollen. Vielleicht ist dies mit ein Grund für das in Teilen der Gesellschaft verbreitetes Gefühl, wegen politischer Korrektheit „Dinge“ nicht sagen zu dürfen, stattdessen Empfindungen, Sorgen und Ängste, unterdrücken zu müssen. Wenn wir uns dem nicht offen stellen, bleiben die berühmten „rosa Elefanten“ im Raume stehen, von denen Psychologen sprechen – und wir driften in unseren Gesellschaften weiter auseinander.
Wir alle müssen raus aus den Blasen. Raus aus den Gräben der „feindlichen Lager“. Wir brauchen eine neue Streitkultur abseits des „Shitstorms“. Dialogische, offene Gespräche statt Konfrontation zwischen „absoluten Positionen“, die nicht an einer ernsthaften Debatte, sondern nur an vermeintlicher „Entlarvung“ des anderen interessiert sind – ohne jemals mit den vermeintlich Entlarvten gesprochen zu haben.
Wir brauchen eine Kultur des Zuhörens. Die Bereitschaft, den Blickwinkel des jeweils anderen mitzudenken. Nur so wird möglich, sich einander besser zu verstehen und – auf politischer Ebene – konstruktive Entscheidungen zu treffen. Aus der Nähe betrachtet, schwinden Gegensätze oder gar Feindschaften. Ein interessantes Beispiel dafür ist die Plattform „Deutschland spricht“, die auf Initiative der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT vor der Bundestagswahl 2017 entstanden ist. Sie bringt Menschen mit diametral unterschiedlichen Meinungen zusammen. Mittlerweile ist daraus die internationale Plattform „My Country Talks“ entstanden, auf der sich bereits mehr als 80.000 Menschen aus über 30 Ländern registriert haben.
Eine wissenschaftliche Untersuchungen dazu zeigt: Das Gespräch zwischen Menschen mit völlig unterschiedlichen politischen Ansichten trägt dazu bei, der Polarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Das persönliche Treffen baut Vorurteile gegenüber Andersdenkenden ab und steigert den Glauben an den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Publizist Bastian Berbner bringt es auf die einfache Formel: „Aus der Nähe hasst es sich sehr viel schwerer als aus der Distanz.“
Was folgt daraus für uns, für politisch Verantwortliche? Als Parlamentarier haben wir den politischen Streit zu führen, mit aller Leidenschaft. Das erfordert die parlamentarische Demokratie. Streit darf nicht nur sein. Streit gehört zur parlamentarischen Demokratie. Die Durchsetzung und der Ausgleich von Interessen in einer liberalen Gesellschaft funktionieren nur über Streit. Wir müssen ihn aushalten und ertragen. Aber es ist ein Streit nach Regeln. Und im Respekt voreinander. Daraus erwächst uns Abgeordneten eine besondere Verantwortung. Sprache ist eine Waffe. Wir alle wissen es, und gehen doch häufig leichtfertig damit um. Manchmal unbedacht, manchmal auch gezielt.
Wenn uns an der Demokratie gelegen ist, muss der politische Wettstreit vor Gewalt geschützt werden. Dazu reicht es nicht, an den gesunden Menschenverstand zu appellieren. Es braucht auch das Vertrauen in den Rechtsstaat, der gegen menschenfeindlichen Hass und Hetze als Nährboden von Gewalt konsequent vorgeht, auch in der digitalen Welt.
Wir sollten dabei nicht außer Acht lassen: Die digitale Kommunikation bietet eigentlich eine Chance, Gräben zu überwinden – Transparenz zu schaffen, Öffentlichkeit und Teilhabe. So lautete einst das optimistische Versprechen. Jede Innovation birgt – zumeist unvorhersehbare – Risiken und Folgen. Mit ihnen sind wir konfrontiert: Der Zugang zum Netz ist zwar niedrigschwellig, aber gerade deshalb wirkt die Online-Kommunikation nicht nur aufklärerisch-demokratisch, sondern auch als Multiplikator für Fake-news und Hate Speech.
Eine besondere Ambivalenz zeigt sich im Übrigen am Phänomen der Whistle-blower im Netz. „Die Wahrheit ist unterwegs und niemand kann sie aufhalten“, bemerkte Edward Snowden einmal. Daten sind nicht zu bremsen – ebensowenig wie derjenige, der sie öffentlich macht: Ist er Menschenrechtler oder Spion und Verräter, geltungsbedürftig oder getrieben von der Absicht, das Gespräch über Verfehlungen in staatlichem Auftrag in Gang zu bringen?
Das Beispiel zeigt: Die Gesellschaft, aber auch die Gesetzgeber bleiben hier gefordert. Bei der Hate speech sind die Strafverfolgungsbehörden in der Pflicht: In mehreren deutschen Bundesländern gibt es inzwischen Sonderermittler der Justiz, die sich auf Hetze und Verleumdungen im Netz spezialisieren. Die Kölner Staatsanwaltschaft hat ein Sonderdezernat mit dem Namen „Hate Speech“ eingerichtet. All das läuft allerdings ins Leere, wenn die Brisanz der Lage nicht auch in den Gerichten erkannt wird, die am Ende zwischen zulässiger zugespitzter Meinungsäußerung und Hassbotschaft befinden müssen. Diese Grenze ist nicht immer einfach zu ziehen, das ist wahr. Aber es gibt diese Grenze.
In seinem Buch „Redefreiheit“ schreibt Timothy Garton Ash: „Wir werden uns niemals alle einig sein, sollen wir auch nicht. Doch wir müssen uns darum bemühen, Bedingungen zu schaffen, unter denen wir uns darüber einig werden, wie wir uneinig bleiben.“ Diese Konferenz kann ein weiterer Schritt in diese Richtung sein.
Deshalb möchte ich der Kollegin Gabriele Heinrich herzlich danken – für die Initiative zu dieser Konferenz und für ihre Arbeit als Generalberichterstatterin der Parliamentary Alliance der Parlamentarischen Versammlung für den Kampf gegen Rassismus und Intoleranz. Sie haben in Ihrer Amtszeit, die jetzt endet, viel auf den Weg gebracht. Herzlichen Dank im Namen des ganzen Hauses!