Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble auf dem Parlamentarischen Abend beim BDA, BDI und der DIHK
[Es gilt das gesprochene Wort]
Anrede
Ein parlamentarischer Abend bei den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft könnte ein Anlass zur selbstzufriedenen Rückschau sein – im siebzigsten Jahr der Gründung dieser Republik, mit der sich untrennbar die Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft verbindet. Oder aber es ist die Gelegenheit, den Blick gemeinsam nach vorne zu richten: auf die großen Herausforderungen, vor denen beide heute stehen: Politik und Wirtschaft.
Wir sehen uns mit fast beispiellosen disruptiven Veränderungen konfrontiert, ausgelöst durch zwei Entwicklungen, die sich wechselseitig verstärken und deren jeweiligen Anfänge in die Zeit unmittelbar nach Ende des Ost-West-Konflikts vor 30 Jahren datieren: Globalisierung und Digitalisierung. „Alles ist Wechselwirkung“ – im Alexander-von-Humboldt-Jahr lässt sich diese Quintessenz der umfassenden Weltanschauung des großen Entdeckers und Universalgenies als frühe Vorwegnahme dessen verstehen, was unsere Welt heute maßgeblich bestimmt: Interdependenz. Alles hängt mit allem zusammen.
Die Folgen sind beträchtlich.
Im globalen Vergleich erweisen sich die westlichen Demokratien noch immer als Hort von Stabilität, Wohlstand und sozialer Sicherheit. Trotzdem spüren wir alle: Unsere offenen Gesellschaften stehen erkennbar unter Druck, die freiheitlichen Demokratien werden einem regelrechten Stresstest unterzogen. Die tiefgreifenden Veränderungen in vielen Lebensbereichen – und das in immer schnellerem Tempo – haben weitreichende Konsequenzen für den einzelnen Menschen und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die postindustriellen Gesellschaften werden heterogener, unübersichtlicher und konfliktreicher. Sie sind – immens beschleunigt durch die neuen Formen der Kommunikation im digitalen Zeitalter – zunehmend fragmentiert.
In einer zersplitterten, individualisierten Welt sehnen sich viele nach einem Umfeld, in dem sich der Einzelne sicher und gut aufgehoben fühlt. Unproblematisch ist das nicht. Der US-amerikanische Philosoph Michael Sandel spricht von kaum mehr kompatiblen Lebenswelten in eng begrenzten sozialen Kleingruppen, die auf diese Weise entständen – und deutsche Soziologen wie Cornelia Koppetsch und Andreas Reckwitz sehen gar ein neues Klassenbewusstsein wachsen. Das entwickle sich nicht mehr entlang von Besitzverhältnissen, sondern es erwachse aus unterschiedlichen, maßgeblich kulturell bestimmten Lebensstilen – mit der entscheidenden Bruchstelle bei der Frage, ob man der globalen Welt mit Offenheit begegnet oder mit Furcht und Ablehnung. Also zwischen den viel zitierten mobilen „Anywheres“, deren Identität nach David Goodhart auf individuellen Bildungs- und Berufserfolgen basiert, und den sicherheitsorientierten, heimatverbundenen „Somewheres“, deren Identität stark in einer Orts- und Gruppenzugehörigkeit gründet.
Für jede Demokratie wird die gesellschaftliche Zersplitterung zu einer Herausforderung. Deshalb haben wir es heute auch mit einer generellen Krise im Westen zu tun, deren Ursachen über das hinausgehen, was national, auch in Deutschland, für eigene Fehler gemacht wurden. Aus der unendlichen Vielfalt von Meinungen, Anschauungen und Interessen am Ende zu Entscheidungen zu kommen, wird unter diesen Bedingungen jedenfalls immer schwieriger. Aber Entscheidungen sind das Ziel alles Politischen, darauf gründet das Vertrauen in das politische System. Wenn wir im System nichts mehr umgesetzt bekommen, werden sich immer mehr Menschen fragen, ob das System eigentlich noch taugt.
Diese nüchterne Bestandsaufnahme gewinnt an Brisanz, weil das, was unserem Land in den vergangenen Jahren große Stabilität verliehen hat, ein Stück weit zu wanken beginnt: Die deutsche Wirtschaft läuft nicht mehr so rund. Die Kennzahlen sind eindeutig. Das Bruttoinlandsprodukt wächst allenfalls noch mit geringen Raten. Konjunkturindikatoren trüben sich ein. Der ifo-Index weist zum wiederholten Male niedrigere Werte aus als noch im Vormonat. Auch der Arbeitsmarkt zeigt nach Jahren faktischer Vollbeschäftigung erste Zeichen der Erschöpfung. Der lange Aufschwung des letzten Jahrzehnts könnte an seinem Ende angelangt sein. Natürlich spürt gerade die exportorientierte deutsche Wirtschaft die Folgen der multiplen internationalen Krisen. Das darf aber nicht davon ablenken, dass sich hinter der beginnenden wirtschaftlichen Schwäche ganz wesentlich die disruptiven strukturellen Veränderungen durch die Globalisierung und Digitalisierung verbergen. Und auf die haben viele Unternehmen bislang nur unzulängliche Antworten gefunden. Womöglich haben wir uns zu sehr im Wohlstand eingerichtet, in einer selbstgefälligen Genügsamkeit, die von der Substanz zehrt.
Wirtschaftliches Wachstum entsteht am Ende nur durch mehr Arbeitsleistung oder höhere Qualität bei der Arbeitsleistung, durch Innovation und Produktivitätsfortschritt. Wir produzieren derzeit immer noch unter Volllast. Unser Produktionspotential ist ausgeschöpft, zumindest auf dem heutigen Stand des technologischen Fortschritts. Eigentlich paradox: Obwohl wir kein Wachstum haben, wirkt sich die Konjunkturkomponente in Artikel 115 GG immer noch leicht begrenzend aus. Wer trotzdem glaubt, wir könnten mehr Wachstum erzielen durch staatliche Konjunktur-, Schulden- oder sonstige Programme, wird am Ende scheitern. Der Grundgedanke der Neuverschuldungsgrenze ist und bleibt ordnungspolitisch sinnvoll. Unser Hauptproblem ist ja nicht Geldmangel. Die Unternehmensbilanzen zeigen hohe Liquidität, auch die Sparquote der privaten Haushalte ist unverändert hoch. Und selbst die staatlichen Kassen sind prall gefüllt. Die Mittel für Innovationen stehen also bereit, sie werden aber nicht abgerufen. Von insgesamt 7 Milliarden Euro des Kommunalinvestitionsförderungsfonds sind bis Mitte des Jahres nur knapp 1,7 Mrd. abgeflossen. Beim Kita-Ausbaufonds sieht es nicht besser aus: Erst 225 Millionen von 1,1 Mrd. wurden ausbezahlt. Und aus dem Topf des für die Wirtschaftsinfrastruktur 2.0 so wichtigen Digitalfonds, der mit immerhin 9 Mrd. Euro bestückt wurde, war bis Mitte September 2019 noch gar nichts abgeflossen – Null Komma Null – Zero.
Auffällig ist unser niedriger Workload – bei historisch höchster Zahl an in unserem Land aufhältigen Menschen und hohem Beschäftigungsstand. Der OECD zufolge ist die Zahl der jährlichen Arbeitsstunden in Deutschland im Vergleich mit anderen OECD-Ländern am niedrigsten. In den USA 1.800 Arbeitsstunden je Beschäftigtem, in Polen 1.900, in Südkorea und Mexiko sogar über 2.000 stehen in Deutschland – je nach Berechnungsmethode – zwischen 1.400 und 1.600 Arbeitsstunden gegenüber. Darin spiegelt sich eine veränderte work-life-balance, die ich gar nicht kritisieren will, über deren Konsequenzen wir uns aber bewusst sein sollten. Jedenfalls sollten wir besser nicht der Illusion erliegen, wir könnten an der Wachstumsschwäche allein mit finanz- oder geldpolitischen Maßnahmen etwas ändern. Was wir brauchen ist eine veränderte Grundeinstellung gegenüber der Veränderbarkeit unserer Zukunft und der Notwendigkeit dafür zu sparen und zu investieren. Nur wer an eine Zukunft glaubt und sie gestalten und genießen will, erweitert seine work life balance vom gegenwärtigen Konsum für sich selbst hin zur Verbesserung der Lebensverhältnisse aller und überall.
Die Politik des leichten Geldes, die ja nicht nur die EZB betreibt, sondern alle Notenbanken und die durch die Aufhebung des Zeitwerts des Geldes letztlich auch ein hilfloser Ausdruck des Verharrens in der Gegenwart ist, setzt die Anreize falsch, sie schafft ein moral hazard Problem, indem sie den Druck auf diejenigen verringert, die in der Lage wären, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Die so gerufenen Geister lassen sich für die Notenbanken kaum mehr beherrschen. Nachhaltiges Wachstum entsteht so nicht. Vielmehr werden wir unsere Probleme nur lösen können, wenn wir innovativ sind, wenn wir die große Kraft des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts mobilisieren, die in der marktwirtschaftlichen Ordnung liegt, in der Suche nach der intelligenteren Lösung. Also: wenn wir in Bildung und Forschung investieren.
Deutschland sieht sich dabei wie der Westen insgesamt einem System-Wettbewerb ausgesetzt – auch das ist Teil der Globalisierung. China wirbt mit einem ungefährdeten Effizienz- und Wohlstandsversprechen für sich, freilich ohne seinen Bürgern die Freiheiten zu gewähren, die uns im Westen selbstverständlich scheinen. Die Geltung von Werten, Prinzipien und Regeln ist für die Stabilität einer demokratischen Ordnung das eine. Der ökonomische Erfolg das andere. Es braucht beides. Unsere Aufgabe ist, Freiheit, sozialen Ausgleich und auch ökologische Verantwortung zu verbinden mit Marktwirtschaft, Effizienz und Wachstum. Das sichert den gesellschaftlichen Frieden, das fördert den Zusammenhalt. Es muss uns auch zukünftig stets neu gelingen, hier das richtige Maß zu wahren.
Derzeit wächst mehr und mehr die Einsicht, dass da im vergangenen Jahrzehnt etwas außer Kontrolle geraten ist, dass es global betrachtet mit der Internationalisierung der Produktion und der immer perfektionierteren Ausweitung der modernen internationalen Arbeitsteilung nicht immer so weitergehen kann. Die „Hyperglobalisierung“ vor Augen, bei der es den globalen Märkten an Begrenzung durch Regeln einer demokratisch legitimierten Weltregierung fehlt, sprach der Entwicklungsökonom Dani Rodrik schon vor Jahren von einem „fundamentalen politischen Trilemma der Weltwirtschaft“: Nationalstaat, Demokratie und grenzenlose Globalisierung seien unvereinbar, so Rodrik. Wir könnten nicht gleichzeitig Demokratie, nationale Selbstbestimmung und wirtschaftliche Globalisierung betreiben. Wer Demokratie und nationale Selbstbestimmung wolle, müsse der Globalisierung deshalb wenigstens etwas in die Speichen greifen. Rodrik fordert eine „Globalisierung mit Augenmaß“.
Wir beobachten seit geraumer Zeit, dass inmitten unseres Wohlstands Verunsicherung wächst. Obwohl es unserem Land gegenwärtig objektiv so gut geht wie nie zuvor und die meisten Menschen dies auch so sehen, dominiert Zukunftspessimismus. Unbegrenzte Freizügigkeit weckt auch Unbehagen. Die Freiheiten, die wir in unseren offenen Gesellschaften haben, durch die Globalisierung und die neuen Kommunikationsmittel, können überfordern. Glück und Zufriedenheit der Menschen entscheiden sich eben nicht alleine am weiter wachsenden materiellen Wohlstand, sondern daran, ob man sein Leben so führen kann, dass man mit sich im Einklang ist. Dass man Bindungen erfährt, sich verwurzelt fühlt, geborgen ist, dass man Halt hat. Das ist keine Frage des Entwicklungsstandes eines Landes, das ist eine anthropologische Konstante. So ist der Mensch.
Die veränderte Einstellung zur work-life-balance, also Ansprüche in Teilen gerade der jungen Generation an die eigene Arbeit und den materiellen Wohlstand, die sich nicht mehr zwangsläufig am immer mehr, immer weiter, immer schneller orientieren, sondern in denen nicht zuletzt Bindungen, etwa in der Familie, wieder eine größere Rolle spielen: Sie erscheinen vor diesem Hintergrund in einer Welt, die unglaubliche Möglichkeiten bereithält, angesichts der menschlichen Hybris aber auch unglaubliche Möglichkeiten zur Ressourcenzerstörung, in einem ganz anderen Licht.
Verantwortliche Politik muss versuchen, den Menschen das Gefühl zu geben, dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden, dass sie Schritt halten und mit den Veränderungen fertig werden können. Deshalb braucht es unseren gestalterischen Willen, eine Balance zu finden zwischen unaufhaltsamer Veränderung und notwendigem Halt.
Und deshalb bin ich auch überzeugt, dass der Sozialen Marktwirtschaft noch immer die Zukunft gehört. Ihre Prinzipien sind doch nicht plötzlich falsch. Sie sind unverändert aktuell. Die Soziale Marktwirtschaft war anderen Ordnungen überlegen, weil sie die Effizienz von Markt und Wettbewerb mit sozialer Chancengleichheit verbunden hat. Und sie ist noch immer die intelligenteste Form, weil sie den Menschen fordert, aber moralisch nicht überfordert. Für Oswald von Nell-Breuning entsprach sie der Doppelnatur des Menschen damit besser als andere Ordnungen. Denn wir sind befähigt zu Großem, aber wir machen auch schlimme Fehler. In der Sozialen Marktwirtschaft bleibt der Mensch frei, sich so zu entfalten, wie er ist. Sie nimmt den Menschen aber auch in die Pflicht und setzt seinen Fehlern Grenzen. Wer nur dem Markt vertraut, macht den Markt hypertroph, sodass er sich am Ende selbst zerstört. In der Finanzmarktkrise haben wir diesen Prozess erlebt. Freiheit ohne Grenzen funktioniert nicht, gefährdet ihr eigenes Fundament. Freiheit braucht Regeln, auch jemanden, der dafür sorgt, dass die Regeln eingehalten werden. Ein Problem entsteht, wenn sich an diesen Teil der Sozialen Marktwirtschaft immer weniger halten wollen. Selbst diejenigen, die gern von der sozialen Verantwortung der Marktwirtschaft redeten, versuchten immer häufiger, sich der notwendigen Regelsetzung zu entziehen. Dafür stehen die Exzesse in der Finanzbranche, die zur Lehman-Pleite führten, genauso wie der Cum-Ex-Skandal und auch der Diesel-Skandal, der große Teile unserer Automobilindustrie in Verruf gebracht hat. Und der neben den Fahrzeugbauern auch die Zulieferer betrifft, den Mittelstand, das Rückgrat unserer Wirtschaft.
Es sind Beispiele von Elitenversagen und eines verlorenen moralischen Kompasses. Nicht alles, was möglich ist, ist deshalb auch gut, wusste bereits Paulus im Ersten Brief an die Korinther. Versuchungen auch einmal zu widerstehen, unterscheidet den ehrbaren Kaufmann vom Hasardeur. Dahin müssen wir zurück. Es braucht das Bewusstsein, dass das Verhalten wirtschaftlicher Akteure nicht frei von moralischen Selbstverpflichtungen sein kann. Kurz: Es braucht wieder mehr Anstand. Martin Wolf hat erst vor kurzem in einem bemerkenswerten und in vielem an die Werke Röpkes und Rüstows vor 80 Jahren erinnernden Essay in der Financial Times gemahnt, dass der zeitgenössische Kapitalismus vor sich selbst gerettet werden müsse. Zu sehr würden ein überbordender, inhärent unproduktiver und letztlich nur sich selbst dienender Finanzsektor und eine in vielen Belangen zu einseitig gewerblichen Interessen nutzende Gesetzgebung in den westlichen Gesellschaften zu einem schwachen Wettbewerb, niedriger Produktivität, steigender Ungleichheit und zunehmender Skepsis gegenüber der Demokratie führen. Das stand so in der in London für die ganze Welt verlegten Financial Times und nicht im Neuen Deutschland.
70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik stehen Politik und Wirtschaft vor der gemeinsamen Aufgabe, die Soziale Marktwirtschaft unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung neu zu justieren. Auch um angesichts rasanter technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen in allen unseren Entscheidungen Nachhaltigkeit als eine zentrale Dimension mitzudenken. Wir müssen besser als bisher die drei Aspekte der Nachhaltigkeit – wirtschaftlich, sozial, ökologisch – miteinander verbinden.
Dazu gehört das Wagnis einzugehen, Neues hinter dem Status quo zu denken. Die Bereitschaft, die eigene Mentalität ein Stück weit zu hinterfragen, womöglich auch unser tradiertes Modell, zunächst einmal zu sparen, um das Gesparte dann zu investieren – weil es sich angesichts der Veränderungen, auf die wir reagieren müssen, als zu wenig dynamisch erweist. Es geht darum, flexibler, auch mutiger zu werden – ohne es allerdings zu übertreiben. Auch bei der Aufgabe, ökologische mit ökonomischer Nachhaltigkeit dauerhaft zu vereinen, müssen wir weiter Maß halten. Ich vermute übrigens, dass das ökonomische Knappheitsgesetz mehr mit ökologischer Nachhaltigkeit zu tun hat, als jenen bewusst ist, die meinen, einfach mit mehr Schulden das Klima zu retten.
Peter Graf Kielmansegg hat unlängst in der FAZ darauf aufmerksam gemacht, wie sich unter dem Druck eines ausgerufenen großen Ziels der „Sinn des komplexen Regelsystems des demokratischen Verfassungsstaates immer mehr [verdunkelt], bis es nur noch als Hindernis wahrgenommen wird.“ Die Politik müsse zeigen, die gebotenen Prioritäten zu setzen, ohne in den Sog apokalyptischer Panik zu geraten. Anders ausgedrückt: Es braucht Führungsstärke. Dazu gehört, die Komplexität der Herausforderungen, gerade auch ihre innere Verwobenheit, deutlich zu machen, und nicht – wie bei der Migrationsfrage zu besichtigen war und sich derzeit mit der einseitigen Fokussierung auf das Thema Klima erneut abzeichnet – die öffentliche Debatte auf ein Thema zu reduzieren. Die weltweiten Migrationsströme haben zwar auch eine Ursache in den Klimaveränderungen und deren Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Menschen, sehr viel stärker noch werden sie aber laut Paul Collier und Björn Lombog hervorgerufen durch die Zunahme der Weltbevölkerung und die daraus sich ergebenden Entwicklungsprobleme. Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen wird angesichts der Zunahme der Weltbevölkerung um weitere 2 Milliarden Menschen bis 2050 daher wiederum global nur dann gelingen, wenn wir Antworten darauf finden, wie der berechtigte Drang der Menschen in anderen Weltregionen zu Wohlstand durch Wachstum zu kommen mit dem Nachhaltigkeitsgedanken wirkungsvoll zu verbinden ist. Das gilt umso mehr, als die globale Verfügbarkeit von Informationen in Echtzeit die zumindest subjektive Wahrnehmung von sozialen Unterschieden und Ungleichheiten verstärkt – innerhalb unserer Gesellschaft, aber eben auch zwischen den westlichen Gesellschaften und anderen Regionen der Welt. Dadurch wachsen Begehrlichkeiten, das ist legitim und schlicht menschlich.
Deshalb werden wir auch sehr viel stärker außerhalb unseres Landes, außerhalb Europas investieren müssen – zumal die beträchtlichen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse bereits heute von vielen als ein Problem für die Welt angesehen werden. Die großen Probleme sind doch heute grenzüberschreitend. Uns geht es nur dann auf Dauer gut, wenn wir mithelfen, den Wohlstand der Menschen in unserer Nachbarschaft zu mehren, in Süd- und Mitteleuropa, im Nahen Osten, vor allem auch in Afrika. Das ist kein Altruismus. Es liegt in unserem recht verstandenen Eigeninteresse, anderen bei ihrem Streben nach materieller Annehmlichkeit und beim Klimaschutz zu helfen. Wir müssen uns deshalb als fähig erweisen, das, was wir in Europa an Stabilität brauchen und das, was zur Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen an nachhaltigem Wachstum notwendig ist, aus unserem Wohlstand heraus anderen Regionen zu vermitteln. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist in Wahrheit ein globales Problem und wahrscheinlich die Menschheitsfrage schlechthin. Vor allem Afrika braucht sehr viel mehr Investitionen – nicht nur aus China. Wir müssen uns mehr engagieren, politisch und wirtschaftlich, wirksam helfen, nachhaltig mehr Perspektiven ermöglichen – auch weil die europäischen Länder auf Dauer mit Flüchtlingsbewegungen, wie wir sie 2015 erlebt haben, überfordert wären. Aber auch, weil sich wirksamer Klimaschutz nicht im nationalen Rahmen eines Landes mit einem Anteil von knapp 2 Prozent an den schädlichen Emissionen erreichen lässt, sondern entscheidend von den künftigen Schritten in anderen Regionen und unserer Bereitschaft dafür und dort massiv zu investieren und zu helfen abhängt. Davon müssen wir die Menschen bei den Freitagsdemonstrationen überzeugen und dafür müssen wir ihre Leidenschaft gewinnen.
Deshalb nochmal: Die globalen Probleme, von den Globalisierungsfolgen über die Migration bis hin zum Terror- und Stabilitätsrisiko, sind letztlich nur dann zu lösen, wenn wir auch mehr in andere Länder investieren. Dazu braucht es Ideen für neue Ansätze, die solche Investitionen innerhalb der begrenzten Spielräume unserer Schuldenbremse ermöglichen. Und hier gilt es wie überall, die richtige Balance zu finden, Maß zu halten, es nicht in die eine oder die andere Richtung zu übertreiben.
Für das Vertrauen der Bürger in das politische System und in die Soziale Marktwirtschaft bleibt am Ende zentral, dass es uns auch unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung gelingt, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren. Und zu Entscheidungen zu kommen. Heute sind wir allerdings bei der Umsetzung beschlossener Maßnahmen oft nur zweit-, wenn nicht gar drittklassig. Das hat mit bürokratischer Überregulierung zu tun, für die die Politik Verantwortung trägt. Es liegt aber ein Stück weit auch an den Bürgerinnen und Bürgern, die den großen Wurf, zum Beispiel im Bereich der Energiewende, wollen, aber Widerstand vor Ort mobilisieren, sobald notwendige Infrastrukturreformen für sie selbst Unannehmlichkeiten bedeuten. Davon dürfen wir uns nicht abschrecken lassen. Denn wenn es uns nicht gelingt, übergeordneten Interessen gegen den Partikularismus der Bedenkenträger Geltung zu verschaffen, werden wir die Zukunft verpassen. Implementation ist zentral, und das heißt für die Politik auch: Wer nach Perfektion strebt, wird scheitern. Das ist teilweise bereits bürokratische Wirklichkeit in Deutschland. Unser Drang nach vollkommener Regelung bis ins Detail verhindert Resultate. Am Ende ist die Gefahr groß, dass wir auf der Suche nach der perfekten Lösung unglaublich schwerfällig werden und am Ende gar nichts hinkriegen.
Dabei, unsere innovative Kraft wieder zu steigern, könnten gerade die immensen Herausforderungen der Gegenwart helfen. Denn sie haben das Potential, uns aus der Starre und Saturiertheit zu lösen, in die wir durch Jahrzehnte stetig wachsenden Wohlstands geraten sind. Über Aufgaben gewinnen wir die Zukunft – wenn wir in ihnen die Chancen sehen, die in uns steckende Energie zu mobilisieren und das Vertrauen in uns zu stärken, Großes leisten zu können, statt uns an das Bestehende zu klammern, weil wir fürchten, den Veränderungen nicht gewachsen zu sein.
Das gilt nicht zuletzt für das repräsentative System. Denn auch wenn inzwischen die überwältigende Mehrheit davon überzeugt ist, dass wir angesichts der Erderwärmung handeln müssen, bleibt das Wie umstritten. Dabei zeichnet sich ab, dass über die vorgeschlagenen Konzepte die Unterschiede zwischen den Parteien wieder sichtbarer werden. Das fördert den Wettbewerb um die besten Ideen und belebt den Streit. Diese große strittige Debatte braucht es im Parlament als Ort der Bündelung, der Konzentration auf die wichtigen Fragen unserer gesellschaftlichen Zukunft, der Einordnung und der lebhaften Diskussion. Gelingt und das, dann kann, so paradox es klingt, in der diagnostizierten „Krise des Allgemeinen“ sogar eine Chance für das Prinzip der Repräsentation liegen.
So wie wir auch die Soziale Marktwirtschaft stärken, wenn wir die Wechselbeziehung zwischen moralischen und ökonomischen Werten im Blick behalten. Wenn wir die Balance zwischen nicht zu viel und nicht zu wenig Regulierung halten und damit den alten Prinzipien der wertebegründeten Sozialen Marktwirtschaft auch unter den veränderten Zeit-Bedingungen Geltung verschaffen, einer menschengerechten Ordnung mit einem vernünftigen Gleichgewicht von wirtschaftlichem Wachstum, Freiheit, Nachhaltigkeit und sozialem Zusammenhalt.