Worte von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble vor Eintritt in die Tagesordnung zum 80. Jahrestag des Kriegsausbruchs und zur Würdigung des ungarischen Beitrags zur Maueröffnung
[Es gilt das gesprochene Wort]
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich begrüße Sie zur ersten Sitzung nach der Sommerpause.
Besonders herzlich begrüße ich im Namen der Mitglieder dieses Hauses unsere Gäste:
Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Nationalversammlung der Republik Ungarn, Seine Exzellenz Herr Dr. László Kövér, mit seiner Delegation Platz genommen.
Außerdem begrüße ich den Botschafter der Republik Polen, Seine Exzellenz Herr Professor Dr. Andrzej Przyłębski.
Heute vor achtzig Jahren endete die Schlacht bei Wizna. Anders als bei uns, sind diese Kämpfe zehn Tage nach Beginn des deutschen Überfalls auf Polen Teil der Erinnerung unserer Nachbarn – als Geschichte ihres Freiheitswillens, der heroischen Verteidigung durch wenige Hundert gegen eine Übermacht von zehntausenden deutschen Soldaten. Polen wurde 1939 das erste Opfer eines historisch beispiellosen rassenideologischen Vernichtungsfeldzugs, von dem vor 80 Jahren noch niemand ahnen konnte, welche Ausmaße er annehmen würde. Der von Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg hinterließ einen zerstörten Kontinent und Narben, die noch immer schmerzen.
Die Polen litten am längsten unter der Besatzung durch die Wehrmacht, unter dem Terror von SS und Sicherheitsdienst. Sie erlebten die gezielte Ermordung ihrer intellektuellen Elite, die Verwüstung ganzer Landstriche, die völlige Zerstörung ihrer Hauptstadt Warschau – die Vernichtung jüdischen Lebens. Der polnische Staat wurde als Folge des Hitler-Stalin-Paktes unter zwei übermächtigen Nachbarn aufgeteilt und seiner Souveränität beraubt. Der Hinweis auf den sowjetischen Einmarsch von Osten am 17. September 1939 relativiert deutsche Verbrechen nicht, aber er ist für das Verständnis der traumatischen Nachwirkungen des Krieges in Polen wichtig.
Der Bundespräsident hat am 1. September in Polen unseren Willen bekräftigt, die deutsche Schuld nicht zu vergessen. Am selben Tag hat meine polnische Amtskollegin mit mir gemeinsam in der deutschen Hauptstadt bei einem deutsch-polnischen Gottesdienst im Berliner Dom des Kriegsausbruchs gedacht. Danach warben wir vor der Kriegsruine des Anhalter Bahnhofs gemeinsam für ein sichtbares Zeichen des Gedenkens an die Millionen polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges, eine Initiative, die von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses unterstützt wird. Auch das kann zu Versöhnung und zur Verständigung beitragen – über Jahrestage hinaus.
Ein Denkmal allein reicht aber nicht, um die wichtigsten Lehren aus dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkrieges wach zu halten: Den Erhalt des Friedens, den Schutz unseres zivilen Miteinanders, den Respekt vor dem anderen, die Anerkennung seiner Freiheit, Unabhängigkeit und Würde. Im zusammenwachsenden Europa, als der anspruchsvollsten Antwort auf die historischen Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts, braucht es – wie der Historiker Karl Schlögel seit langem fordert – eine konsequente „Osterweiterung des westlichen Horizonts, aber auch eine Westerweiterung des Ostens“.
Dazu kann dieses Gedenkjahr beitragen, in dem wir an die Verheerungen des Krieges vor 80 Jahren erinnern, aber auch an die historischen Glücksmomente vor 30 Jahren. 1939 und 1989: Beide Jahre bilden eine historische Klammer im „kurzen 20. Jahrhundert“ – ein Begriff, der oft Eric Hobsbawn zugeschrieben wird, der aber auf den ungarischen Historiker Iván T. Berend zurückgeht.
Auf die Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft folgte die Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges, die jahrzehntelange Spaltung Europas. Erst in den friedlichen Revolutionen 1989 erkämpften sich die Menschen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks ihre Unabhängigkeit und Freiheit. Ihnen verdanken wir die Überwindung der am Ende des Weltkriegs auf der Konferenz von Jalta begründeten Teilung der Welt – nicht zuletzt: unsere staatliche Einheit.
Heute vor 30 Jahren, am 10. September 1989, öffnete Ungarn seine Grenze für die DDR-Flüchtlinge. Allein in Budapest hielten sich rund 30.000 DDR-Bürger auf. Im ganzen Land warteten etwa 200.000 Ostdeutsche auf eine Gelegenheit zur Flucht. Die Botschaft der Bundesrepublik war überfüllt – wie die Vertretungen in Warschau und Prag auch. Die Grenzöffnung in Ungarn löste eine neue Dynamik aus. Zwei Monate später fiel die Berliner Mauer – das Symbol des Kalten Krieges. Wir Deutschen vergessen den mutigen Beitrag Ungarns zur Wiedervereinigung unseres Landes nicht!
Es ist die Aufgabe von uns allen, aber gerade auch die der jungen Generation, die Idee eines vereinten Europas als Erbe des Krieges weiterzutragen, sie angesichts der Herausforderungen in einer gründlich veränderten Welt mit Leben zu füllen.
Deshalb freue ich mich besonders, dass heute auch die Teilnehmer des Deutsch-Ungarischen Jungen Forums anwesend sind. Seien sie uns herzlich willkommen!
Europa braucht Begegnungen wie diese, den beständigen Austausch über unsere unterschiedlichen historischen Erfahrungen, kulturellen Prägungen und Erwartungen an die Zukunft. Dabei müssen wir nicht immer einer Meinung sein, aber neugierig aufeinander bleiben und uns respektvoll begegnen. Nur so wird gelingen, was der polnische Dichter Czesław Miłosz bereits 1983 forderte: „Europa den Europäern näherzubringen“! Daran zu arbeiten, das ist die eigentliche Verpflichtung, die uns aus dem Kriegsbeginn vor 80 Jahren erwächst.