18.06.2019 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zu 150 Jahre Volksbank Chemnitz „Finanzmoral und Zusammenhalt: Verantwortung in der offenen Bürgergesellschaft“

[Es gilt das gesprochene Wort]

Anrede

„Das Banksystem ist […] eins der wirksamsten Vehikel der Krisen und des Schwindels.“ Dieses Verdikt stammt von Karl Marx – der für Chemnitz eine besondere Bedeutung hat, wie sich nicht nur die Älteren unter uns erinnern werden. Es ist keine schmeichelhafte Beschreibung finanzwirtschaftlicher Zusammenhänge. Und sicher nicht die generelle Erfahrung der vor 150 Jahren gegründeten Volksbank Chemnitz. Vor elf Jahren war der apodiktische Satz von Marx allerdings auch nicht ganz falsch. Die von der Lehman-Pleite ausgehende Weltwirtschaftskrise ließ selbst überzeugtesten Marktwirtschaftlern die Krisenprophezeiungen des Trierer Philosophen aktuell erscheinen. Wir erinnern uns daran alle. Ungern – erst recht im Rahmen einer Festveranstaltung. Aber nun bin ich eingeladen, über die Verantwortung von Banken zu sprechen. Und das geht nicht, ohne einen Blick auf die damaligen Ereignisse, die Finanzmoral und ihre Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu werfen. 
Spekulationen mit zweifelhaften Finanzprodukten führten damals zum Zusammenbruch des Interbankenmarkts. Zinsspreads explodierten und erschwerten die Refinanzierung von Kreditinstituten, später auch von Staaten. In vielen Ländern verlangten die Banken nach Rettungsschirmen, um Konkurse abzuwenden. Was in den USA begann, wurde zu einer Finanzkrise globalen Ausmaßes. Eine schlimme Zeit!

Märkte, Regierungen und Bevölkerungen waren damals beunruhigt – zu Recht. Eine Welle der Empörung gegen Banker und ihre Boni brandete auf. Brechts spitze Worte machten die Runde: Der Einbruch in eine Bank sei nichts im Vergleich zur Gründung einer Bank. Die Geldwirtschaft war in der Krise, wirtschaftlich, strukturell und moralisch. Eine „Kernschmelze des Finanzsystems“ drohte. Um sie zu verhindern, unternahmen die Regierungen vieler Länder – auch die deutsche – große Kraftanstrengungen zur Bankenrettung, mit einigem Erfolg. Heute lässt sich rückblickend feststellen: Wir haben den Peak der Krise überwunden – nicht überall gleich gut, aber so, dass der damals befürchtete Kollaps der Weltwirtschaft vermieden wurde. Vor allem konnten die Einlagen der Sparer gesichert werden, die Rücklagen von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Vermieden wurde der katastrophale Vermögensverlust für die breite Masse der Bevölkerung. Das war und ist essentiell für die Legitimation der Marktwirtschaft. Es gehörte zu den unvermeidlichen Nebeneffekten unseres Krisenmanagements, dass durch die staatlichen Garantien auch die Jobs von Bankmanagern gerettet wurden. Das war weder Zweck der Übung noch deren wichtigstes Resultat. Auch wenn Kritiker das damals behaupteten.

Umso wichtiger ist es, die damaligen Entscheidungsträger in der Finanzwirtschaft heute an ihre Mitverantwortung für diese Krise zu erinnern. An ihren Beitrag zum Moral Hazard, bei dem Gewinne privat verbucht, Verluste aber auf die Gemeinschaft abgewälzt werden. Das führte zu Investmentexzessen mit hochriskanten Derivaten. Volks- und Raiffeisenbanken agieren in der Regel vorsichtiger. Aber selbst sie waren gegen die Versuchung des scheinbar sicheren und schnellen Gewinns nicht gefeit. Auch sie haben ihren Kunden Papiere verkauft, die sich als toxisch erwiesen, und dazu eigene Zweckgesellschaften in Luxemburg unterhalten. Gerade weil Volksbanken einen besonderen Kontakt zu ihren Kunden pflegen, ist auch die Verantwortung dieser Banken besonders hoch, Kundeninteressen und Geschäftspolitik nachhaltig im Gleichgewicht zu halten.

Dazu wäre gesundes Misstrauen gegen vermeintlich vielversprechende neue Finanzinstrumente ein Anfang. Warren Buffet hat Derivate als „Massenvernichtungswaffen“ der Finanzindustrie bezeichnet. Zu spät wurde klar, wie Recht er hatte. Trotzdem gibt es noch immer Verteidiger, die im Lehman-Schock nur einen „kleinen“ Betriebsunfall sehen. Sie kehren zum Business as usual zurück, nachdem die Erinnerung an die Finanzkrise zu verblassen beginnt. Aber „der Anfang des Heils ist die Kenntnis des Fehlers.“ Das wusste schon Epikur. Und die Kosten der letzten Krise waren zu hoch, als dass wir uns eine neue Krise dieses Ausmaßes leisten könnten. 

Deshalb braucht es Regulierung. Das ist die Aufgabe der Politik. Sie soll die wirtschaftlichen Akteure allerdings nicht gängeln. Ein Übermaß an Regeln kann ebenfalls Moral Hazard auslösen. Aber an Regeln binden müssen wir den Bankensektor schon. Er droht sonst zu sehr selbstreferentiell zu werden. Alle finanzwirtschaftlichen Intermediäre müssen sich ihrer dienenden Rolle in der gesamtwirtschaftlichen Ordnung bewusst bleiben. Deshalb darf, deshalb muss die Politik Grenzen ziehen, Anreize schaffen, damit die Freiheiten des Finanzmarktes nicht missbraucht werden. Eine solche Gefahr besteht immer. Banker sind wie Politiker: Menschen. Und Menschen sind, wie schon Kant wusste, aus krummem Holz geschnitzt. Befähigt zu Großem, aber auch egoistisch, verführbar. Überlässt man sie ganz sich selbst, wird Fehlverhalten wahrscheinlich. Deshalb braucht es Begrenzungen der Freiheit. 

Diese Erkenntnis ist keineswegs neu. Schon der Vater des Wirtschaftsliberalismus Adam Smith sah den besten Schutz wirtschaftlicher Freiheit nicht in einer Abschaffung von Regeln. Das haben ihm erst Marktradikale unserer Zeit unterstellt. Der Schotte war ein werteorientierter Denker, der einen Lehrstuhl für Moralphilosophie innehatte. Er argumentierte nicht gegen Regeln an sich. Nur gegen ein Übermaß an Regeln, weil dies – wie alle Übertreibung – schade. Weil zu viele Regeln wirtschaftliche Initiative hemmen. Maß und Mitte, auch bei der Regulierung: das war dem Klassiker ökonomischen Denkens wichtig. Damit ist er unverändert aktuell. Und daran sollten gerade jene Vertreter des Bankensektors denken, die schon wieder Forderungen nach Deregulierung erheben. Die jede Regelbindung als unzumutbaren Angriff auf ihr Geschäftsmodell betrachten. 

Regeln und Anreize sind aber nur das Eine. Es braucht auch intrinsische Motivation, Verantwortungsbewusstsein. Das Verhalten wirtschaftlicher Akteure kann nicht frei von moralischen Selbstverpflichtungen sein. Wer sich Steuern zurückerstatten lässt, die er gar nicht bezahlt hat, der macht sich im Zweifel strafbar, in jedem Fall aber handelt er unethisch – besonders wenn er sich zuvor nur dank Steuergeldern durch die Finanzkrise gerettet hat. Kommerz, auch bei Banken, kommt nicht ohne Moral aus. Der entschuldigende Hinweis mancher Profiteure von Steuerschlupflöchern auf eine Mitverantwortung des Staates macht die Sache übrigens nicht besser. Nicht alles, was möglich ist, ist deshalb auch gut. Das sagt schon Paulus im Ersten Brief an die Korinther. Und Versuchungen auch einmal zu widerstehen, unterscheidet den ehrbaren Kaufmann vom Hasardeur. 

Die gute Nachricht lautet: Ehrbare Kaufleute sind bei uns keine aussterbende Spezies. Führende Manager gehen ihrer Arbeit mit jenem Augenmaß nach, das Thomas Mann in seinen „Buddenbrooks“ anschaulich beschrieben hat. Dort lässt er den Firmenpatriarchen zu seinem Erben sagen: „Mein Sohn, sey mit Lust bei den Geschäften bei Tage, aber mache nur solche, dass wir in der Nacht ruhig schlafen können.“ 
Vorstände der Volks- und Raiffeisenbanken orientieren sich an dieser Maxime und gelten deshalb in den Augen ihrer Kunden als „Banker mit Verantwortung“. Dies wird durch die Struktur der Institute erleichtert. Sie macht Genossenschaftsbanken zu einer Besonderheit Deutschlands, die ich in meiner Zeit als Finanzminister meinen ausländischen Kollegen immer wieder erklären musste. Als eine Säule unseres differenzierten Bankensystems gewähren sie mehr als die meisten Privatbanken auch kleine bis kleinste Kredite, finanzieren bevorzugt den Mittelstand, der das Rückgrat unserer Volkswirtschaft ausmacht. Volksbanken sind nah am Kunden. Kennen die Bedürfnisse der Realwirtschaft. Sie sind Experten für die Finanzierungswünsche auch jenes Teils des Mittelstandes, der sich auf den Export spezialisiert hat. „Global denken, lokal handeln“, lautet das dazu passende Motto der Genossenschaftsbanken. Neudeutsch könnte man auch sagen: „Local Payers for Global Players.“ Für die Volksbank in Chemnitz, das als „sächsisches Manchester“ bekannt ist und schon immer über den regionalen und nationalen Tellerrand hinausgeschaut hat, gilt das besonders. Gemeinsam mit dem benachbarten Zwickau unterstützt sie Maßnahmen zur Förderung der Energiewende in Deutschland. Mit einer Energiegenossenschaft zur Förderung regenerativer Energiegewinnung reagiert sie auf den Klimawandel, der uns alle bedroht und kein Land, keine Region verschont. Auch hier zeigt sich das Prinzip: Global denken, lokal handeln.

Die Volksbank Chemnitz fördert zudem ehrenamtliches Engagement. Ihr Crowdfunding kommt vielen Gruppen zugute, Sportvereinen, Bildungseinrichtungen oder Kulturprojekten wie der Initiative „Grabsteine retten“ der Jüdischen Gemeinde. All das trägt dazu bei, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Das ist angesichts der wachsenden Fragmentierung unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung wichtiger denn je. Auch in Chemnitz. Zusammenhalt braucht es – gegenseitigen Respekt und Bürgersinn, sonst sind wir auf dem Weg in die „Rottweiler-Gesellschaft“, wie sie der Brite Paul Collier nennt. In ihr gehe es nur noch darum, so Collier, die verabsolutierte eigene Meinung durchzusetzen – lautstark und mitunter gewalttätig. Dagegen braucht es gesellschaftliche Schranken, „checks and balances“, die nicht allein vom Staat kommen können, sondern auch und vor allem aus der Res publica heraus entstehen müssen: Anstand, Toleranz, die Bereitschaft, einander zuzuhören.
Die Grundsätze der Genossenschaftsbanken zeigen ein hohes Bewusstsein dafür. Sie orientieren sich am Verhalten des Einzelnen und zielen auf Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Diese Prinzipien haben ihren Wert schon oft unter Beweis gestellt. In der Finanzkrise wirkten gerade die Genossenschaftsbanken stabilisierend. Dem Verbund der kleineren Kreditinstitute verdanken wir wesentlich mit, in Deutschland schneller und mit geringeren Reibungsverlusten als anderswo die Auswirkungen der Lehman-Pleite überstanden zu haben. Genossenschaftsbanken sind deshalb auch kein auslaufendes Modell, wie bisweilen ausländische Kritiker, darunter EU-Kommissarinnen, behauptet haben. Sie sind bewährtes Element unserer Wirtschaftskultur. Gerade in Zeiten beschleunigten Wandels können Genossenschaftsbanken ein wertvoller, ja unverzichtbarer Puffer gegen die Volatilitäten des weltweiten Finanzsektors sein.

Der Wandel wird allerdings auch vor den Genossenschaftsbanken nicht Halt machen. Sie müssen sich ihm stellen, ihn konstruktiv begleiten, mitgestalten. Dazu zählt die Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion. Sie ergibt sich aus Deutschlands Verantwortung für Europa. Nur mit Hilfe grenzübergreifender Zusammenarbeit auch im Finanzsektor können wir den wachsenden Herausforderungen von Globalisierung und Digitalisierung begegnen. Der ehemalige Vorstand der Bundesbank Andreas Dombret empfiehlt: „Banken und Sparkassen müssen sich ein Stück weit neu erfinden.“ Das heißt für Genossenschaftsbanken aber nicht Selbstverleugnung. Ihre Identität, ihre Grundprinzipien dürfen und sollen sie sich bewahren: Kooperation, Solidarität und Subsidiarität. 

Für diese Prinzipien trat bereits Friedrich Wilhelm Raiffeisen als einer der Gründerväter des Genossenschaftswesens ein. „Was den einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele…“, lautete sein Motto. Voriges Jahr wäre Raiffeisen 200 Jahre alt geworden. Aber anders als dem gleichaltrigen Karl Marx wurden ihm kaum Gedenkveranstaltungen gewidmet. Dabei war Raiffeisen ein Mann von hohen ethischen Prinzipien. Ähnlich wie Marx trieb ihn die „Soziale Frage“ um, die Armut des 19. Jahrhunderts. Seine Schlussfolgerungen waren jedoch andere. Marx richtete seine Hoffnungen auf revolutionären Umsturz. Reformen stand er gleichgültig gegenüber – darin übrigens ganz „tatenarm und gedankenschwer“, wie Hölderlin einmal die Deutschen allgemein charakterisierte. Raiffeisen dagegen sah im Tun das Entscheidende. Nach einer Missernte im Winter 1846/47 gründete er einen „Brodverein“, der über eine Schuldscheinmethode das Prinzip der Kleinkredite vorwegnahm. Und 1864 ging Raiffeisen weiter, als er den Schritt vom wohltätigen Verein zur „echten“ Selbsthilfe in Genossenschaften vollzog. Heute gibt es rund 900 Genossenschaftsbanken mit über 11.000 Bankstellen in Deutschland. Sie zeigen sich in guter Verfassung – auch die Chemnitzer Volksbank, wie wir gehört haben.
Ich bin zuversichtlich, dass sich die Mehrgliedrigkeit des deutschen Bankwesens auch in den kommenden Jahren als Plus erweisen wird. Und dass wir jenem Trend zur finanzwirtschaftlichen Monokultur widerstehen, wie sie etwa Großbritannien zugelassen hat – deren Folgen nach einem Brexit mit seinen Auswirkungen auf den Finanzstandort noch gar nicht absehbar sind.

Meine Damen und Herren,
das Jubiläum Ihrer Bank fällt in ein Jahr, in dem wir an die Ereignisse erinnern, die vor 30 Jahren auch diese Stadt veränderten – unser Land, Europa und die Welt. Die Friedliche Revolution, der Mut ostdeutscher Bürger, riss damals die Berliner Mauer ein, fegte eine Diktatur davon und ermöglichte mit der Wiedervereinigung den glücklichsten Moment unserer wechselvollen Geschichte. 
Neben vielem, was wir in allen Landesteilen seitdem erreicht haben und worauf wir – nach einem Wort Richard Schröders – gemeinsam stolz sein können, gibt es noch unerledigte Aufgaben. Die Chancen auf Wohlstand sind keineswegs überall gleich verteilt. Zu den historisch überkommenen Strukturproblemen treten die immensen Herausforderungen der Globalisierung und Digitalisierung. Unter dem Druck des rasanten globalen Wandels wird auch unsere Gesellschaft heterogener, unübersichtlicher und auch konfliktreicher. Die Freiheiten, die wir in unseren offenen Gesellschaften haben, können überfordern. Unbegrenzte Freizügigkeit und Mobilität wecken auch Unbehagen, schaffen nicht zuletzt demographische Verwerfungen. Die Einwohnerzahl in Ostdeutschland ist laut Zahlen des ifo-Instituts auf den Stand von 1905 gesunken. Das bleibt nicht ohne Folgen.
Es braucht hier den gestalterischen Willen, ein Gleichgewicht zu finden zwischen Wohlstandsmehrung und gerechter Verteilung. Zwischen unaufhaltsamen Wandel und notwendigem Halt. Damit die Menschen Schritt halten und mit den Veränderungen fertig werden können. Verantwortliche Politik muss den Menschen das Gefühl geben, dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden: Sicherheit, der Erhalt sozialer Bindungen, Zusammengehörigkeit. Das schließt den Finanzsektor ausdrücklich mit ein. Hier haben es die Akteure selbst in der Hand, Verantwortung zu übernehmen – und damit den Druck zu politischer Regulierung und Begrenzung zu verringern.
Wir alle wissen, dass die Akzeptanz einer freiheitlichen Ordnung nie dauerhaft gesichert ist. Erweist sie sich als unfähig, aus Krisen Lehren zu ziehen und zu den notwendigen Beschränkungen und Begrenzungen zu kommen, ist sie der Gefahr ausgesetzt, sich durch Übertreibung selbst zu zerstören. Beispiele gibt es in der Geschichte genug. Nicht zuletzt ihretwegen glaubte Marx, Menschen würden von den Umständen gebildet, seien Marionetten der Produktionsverhältnisse und folglich nicht im Stande, ihr eigenes Schicksal zu wenden. Damit lag er falsch, sonst würde heute Chemnitz immer noch Karl-Marx-Stadt heißen – ein Beleg dafür, dass wir prinzipiell lernfähig sind. Es kann uns ermutigen und ist Ansporn für verantwortungsbewusstes Handeln. Mit Maß und Mitte. 

In diesem Sinne gratuliere ich der Volksbank Chemnitz zu ihrem Jubiläum und wünsche ihr alles Gute für die nächsten 150 Jahre. 

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