24.12.2017 | Parlament

Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble: Der Kompromiss als Mutprobe

„Früher war mehr Lametta!“ Loriots legendärer Stoßseufzer wird manchem heute unter dem Tannenbaum wieder entfahren. Aber die Zeiten ändern sich. Und die Welt auch. Nicht zuletzt politisch. 


Globalisierung und Digitalisierung bestimmen unsere Wirklichkeit. Das bedeutet rasanten gesellschaftlichen Wandel. 2017 hat er auch unser Parlament sichtbar verändert: Sieben Parteien zogen in den Bundestag ein, sie bilden sechs Fraktionen – so viele wie seit 60 Jahren nicht mehr. Auf diese Weise spiegelt das Parlament die gewachsene Vielfalt und Verschiedenheit unserer Gesellschaft. Das kann die parlamentarische Debatte lebendiger machen. Und es stellt das politische System vor Herausforderungen. Auch bei der Mehrheitsfindung. 


Seit Jahrzehnten durchlaufen die postindustriellen Gesellschaften einen Prozess zunehmender Individualisierung. Neuerdings wird aber auch wieder von einer Klassengesellschaft gesprochen – als werfe der 200. Geburtstag von Karl Marx 2018 seine Schatten voraus. Dem Soziologen Andreas Reckwitz zufolge entwickelt sich das neue Klassenbewusstsein nicht mehr entlang von Besitzverhältnissen. Es erwachse aus unterschiedlichen, maßgeblich kulturell bestimmten Lebensstilen. Lebensqualität statt Lebensstandard. Demnach suche die heute gesellschaftlich tonangebende obere Mittelklasse stets das Außergewöhnliche und Einzigartige, die individuelle Befriedigung im Besonderen. Stimmt das, stellt sich zwangsläufig die Frage nach Zugehörigkeit und nach dem Gemeinwesen. 


Mehr als jeder dritte Deutsche sieht laut einer Bertelsmann-Studie schon jetzt den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land gefährdet. Reckwitz fordert deshalb, das Allgemeine müsse gegenüber dem Besonderen neu austariert werden. Aber wie, wenn sich ein gemeinsamer Erfahrungs- und Diskursraum in der „Gesellschaft der Singularitäten“ aufzulösen scheint? 


In der „Krise des Allgemeinen“ liegt eine Chance für das Prinzip der Repräsentation. Wenn das Parlament ein Ort der Bündelung ist, der Konzentration auf die wichtigen Fragen unserer gesellschaftlichen Zukunft – in Deutschland wie in Europa. Dazu braucht es verantwortlich handelnde Akteure, die neben der Vertretung legitimer Interessen ihrer Wähler auch das auszuhandelnde Gemeinwohl im Blick behalten. Und es braucht das Verständnis in der Öffentlichkeit für die Komplexität der Aufgabe, bei der Vielzahl von Interessen, Meinungen und Befindlichkeiten am Ende zu Entscheidungen durch Mehrheit zu kommen, die zu Recht von der Politik erwartet werden. Nur so wird sich das Grundvertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre gewählten Repräsentanten erhalten.


Die schwierige Regierungsbildung zeigt es: Der Wählerauftrag, eine handlungsfähige Regierung zu bilden, konkurriert mit dem Wählerwillen, der in der Stimmabgabe für verschiedene Parteien zum Ausdruck kommt. Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen habe ich deshalb im Parlament um Verständnis für die Gratwanderung geworben, die es für alle Beteiligten bedeutet, für mehrheitsfähige Kompromisse auch in Teilen vom eigenen Wahlprogramm abzurücken. Manche Reaktionen, die mich daraufhin erreichten, belegen, dass Kompromissbereitschaft oft als Betrug am Wähler, als Umfallen und Ausdruck von Profilschwäche angesehen wird. 


Ein fatales Missverständnis – allerdings mit Tradition. Denn der Kompromiss hatte in Deutschland noch nie einen guten Leumund. Anders als in angelsächsischen Ländern. Hier hat der harmonische Ausgleich der Interessen bis heute einen guten Klang. Der Ausdruck „best of both worlds“ etwa steht für die optimistische Sicht, das Ergebnis eines Kompromisses für besser noch als die bloße Summe seiner Teile zu halten. Demgegenüber ätzte der junge Nietzsche: „Nur die halben Naturen suchen den Kompromiss.“ Durchaus typisch für das deutsche Ver¬ständnis: Wer Kompromisse schließt, kompromittiert sich. Denn er kann Maximalpositionen nicht durchsetzen. 


Aber ist es nicht eine alltäglich Erfahrung, Mittelwege zu beschreiten? Nur zwischen politischen Parteien halten wir sie allenfalls für die zweitbeste Lösung. Wir übersehen dabei, wie stark unsere politische Ordnung in der offenen und paritätisch verfassten Gesellschaft vom Kompromiss bestimmt ist. Schon die Soziale Marktwirtschaft ist eine geniale Kompromissformel, wie Joachim Gauck einmal feststellte. Gleichberechtigte Tarifparteien handeln den Ausgleich von unternehmerischer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit beständig neu aus. Das macht den Erfolg unseres Landes aus.


Die Haltung der Kompromiss-Verächter ist die eines Alles-oder-nichts. Sie ist angesichts der Komplexität unserer Gegenwart wirklichkeitsfremd. Auf komplizierte Herausforderungen gibt es keine einfachen Antworten. Und Lösungen sind nicht im Hauruckverfahren zu haben. Es braucht die Einigung im Detail – auch das Zurückstecken eigener Erwartungen, die immer in Konkurrenz zu Erwartungen anderer stehen. Die plurale Gesellschaft ist voll widerstreitender Einzelinteressen. Demokratie verlangt deshalb Mehrheiten für das, was für alle gelten soll. Aber keine Mehrheit ohne Kompromiss! Das beginnt bereits in den Parteien – und ihn braucht es auch zwischen den Parteien. 


Wer den Kompromiss vom Standpunkt des vermeintlich moralisch Erhabenen als Verrat an sich selbst denunziert, wer sich gesinnungsethisch den Luxus einer aufs eigene Ideal gerichteten Absolutheit leistet, verzichtet in Wirklichkeit auf seine politische Gestaltungsfähigkeit. Das ist verantwortungslos. Wer Kompromisse schließt, gibt nicht einfach seine Haltung auf. Er gewinnt Entscheidungskraft, indem er sich Mehrheiten beschafft. Kompromissbereitschaft ist eine Haltung – sie ist keine Schwäche, sondern eine Kardinaltugend der parlamentarischen Demokratie.


Sich durch gegenseitiges Nachgeben einigen zu können, erfordert Zuversicht – und auch Mut. Unterschätzt wird, dass darin eine Chance liegt: Ein gezielter Kompromissvorschlag eröffnet inhaltliche Perspektiven, setzt in der Öffentlichkeit das Thema und bestimmt die Richtung, in die sich die Mehrheit bewegt. Das ist kein Kuhhandel, sondern kluge Abwägung – und politische Führung, die es in der Demokratie braucht.


Der Teilverzicht darf nicht Taktik und Berechnung folgen, etwa zum bloßen Machterhalt. Er muss auf der Verantwortung für das beruhen, was über die Einzelinteressen hinausgeht. Gut ist ein Kompromiss, der im Ringen um Maß und Mitte zwischen Maximalforderungen dem gesellschaftlichen Frieden dient, dem Fortschritt und dem Wohle aller. Er orientiert sich an den realen Möglichkeiten und fordert beiderseitigen Verzicht, ohne Sieger und Verlierer. Das geht nur über Streit – einen Streit nach Regeln und im Respekt vor der Meinung des anderen. Kompromissbereitschaft setzt die Achtung des Gegenüber voraus. Kompromisslos hat sich die Politik in der Demokratie nur da zu geben, wo ihre rechtsstaatlichen Regeln und die ihnen zugrunde liegenden Werte in Frage gestellt werden. 


Konsens, wie häufig fälschlich angenommen wird, bedeutet der Kompromiss gerade nicht. Er erkennt bestehende Differenzen, widerstreitende Interessen, Meinungen und Auffassungen an, also den Konflikt. Sein Wesensmerkmal ist der bleibende Vorbehalt beider Parteien. Ein Kompromiss ist vorläufig, Interessensgegensätze bleiben bestehen. Kompromisse schließen die derzeit viel geforderte Unterscheidbarkeit der Parteien also nicht aus. Und sie bedeuten gerade nicht den Verzicht auf Führung. Im Gegenteil: Um aus der Vielzahl an Meinungen und Interessen zu Entscheidungen zu finden, sind beide gefragt: Führung durch Richtungsvorgabe und die Bereitschaft zur Mehrheitsbildung durch Kompromisse. 


Ohne Kompromisse geht es auch nicht, wenn wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt wahren wollen. Aber auch der Kompromiss ist keine „‘höhere’ absolute Wahrheit, ein über den Gruppeninteressen stehender absoluter Wert“ (Hans Kelsen). Demokratie beruht schließlich auf der Erkenntnis, dass niemand im Besitz einer absoluten Wahrheit in politischen Angelegenheiten ist. Das hat Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle unlängst eindringlich betont. Und er bezeichnete zu Recht die häufig gegen politische Eliten in Stellung gebrachte Behauptung, das Volk sei im Besitz der Wahrheit (vox populi – vox Dei) als den fundamentalen Widerspruch populistischer Ideologien zum Grundgesetz. Ein ‚Volkswille‘ bildet sich überhaupt erst im politischen Diskurs. In den Auseinandersetzungen, die die gewählten Vertreter des Volkes stellvertretend für die Gesellschaft führen – und in den Entscheidungen, die durch parlamentarische Mehrheiten getroffen werden. Sich Kompromissfähigkeit zu bewahren, ist so betrachtet auch ein Schutzmantel der parlamentarischen Demokratie gegenüber der populistischen Herausforderung. 


Beim Nachdenken über den Kompromiss stößt man auf den israelischen Philosophen Avishai Margalit. Er hat den Kompromiss im Spannungsfeld aus Verantwortungs- und Gesinnungsethik wunderbar so verortet: „Ideale können uns etwas Wichtiges darüber sagen, was wir gerne wären. Kompromisse aber verraten uns, wer wir sind.“ Das neue Jahr und diese 19. Legislaturperiode werden uns darüber noch Auskunft geben.


(erschienen in Welt am Sonntag, 24.12.2017)