Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert in der Generaldebatte der Vierten Weltparlamentspräsidentenkonferenz am 1. September 2015 in New York
Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrte Präsidentinnen und Präsidenten,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,
in den vergangenen 15 Jahren - seit der Verabschiedung der Millenniums-Entwicklungsziele - hat die Weltgemeinschaft in einigen wichtigen Bereichen bemerkenswerte Fortschritte erzielt. Leider gilt dies nicht für die Entwicklung der Demokratien in der Welt. Im Gegenteil: Das vergangene Jahr 2014 war das 9. Jahr in Folge, in dem es gravierende Rückschläge für die bürgerlichen und politischen Rechte in einigen Ländern gab. Wissenschaftliche Studien weisen darauf hin, dass heute weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung in stabilen, funktionierenden demokratischen Staaten lebt.
Wir sind uns hoffentlich einig, dass Demokratie mehr ist als nur ein Begriff. Wir stimmen hoffentlich darin überein, dass Demokratie mehr bedeutet als die bloße Existenz eines Parlaments und mehr als freie und faire Wahlen und die Herrschaft der Mehrheit: Demokratie umfasst den Schutz von Minderheiten, die Kontrolle von Regierung und Verwaltung, Rede-, Presse- und Religionsfreiheit, Rechtstaatlichkeit und unabhängige Gerichte. Lediglich zwei Dutzend von etwa zweihundert Staaten werden diesen Ansprüchen in vollem Umfang gerecht. Und auf der anderen Seite gibt es über fünfzig Staaten, in denen autoritäre Regime an der Macht sind. Heute beobachten wir sogar, wie sich die Idee einer so genannten „illiberalen Demokratie“ ausbreitet, wobei dies natürlich ein Widerspruch in sich ist, denn entweder reden wir über liberale Lebensbedingungen oder wir haben eben keine funktionierende Demokratie.
Wir sind alle Parlamentarier, wir haben als Sprecher und Präsidenten unsere Verpflichtungen in unseren Heimatländern, aber wir sind uns hoffentlich alle bewusst, dass wir unter deutlich unterschiedlichen Arbeitsbedingungen agieren:
In manchen Ländern gibt es freie Wahlen, in anderen nicht; es gibt Länder, in denen ein fairer Wettbewerb zwischen mehreren Parteien und Kandidaten herrscht, und Länder, in denen dieser Wettbewerb nicht stattfindet.
Es gibt Länder, in denen alle Zugang zu öffentlichen Ämtern und Parlamentsmandaten haben, und es gibt Länder, in denen das nicht der Fall ist.
Es gibt Länder mit unabhängigen Gerichten und Länder ohne unabhängige Gerichte, Länder mit Pressefreiheit und Länder, in denen Zensur herrscht.
In vielen Ländern wird die Regierung vom Parlament kontrolliert; in einigen anderen kontrolliert umgekehrt die Regierung das Parlament.
Die Stärkung der Grundsätze der Demokratie beginnt damit, dass wir die Wirklichkeit so schildern, wie sie ist, und sie ändern, wo immer es notwendig ist. Fünfundzwanzig Jahre nach der gewaltigen Transformation der mittel- und osteuropäischen Länder in parlamentarische Demokratien gibt es zurzeit nur ein ermutigendes Beispiel für den erfolgreichen demokratischen Wandel: Tunesien. Und dieses Land sollte nicht nur unseren Beifall und unsere Glückwünsche erhalten, sondern auch unsere nachdrückliche Unterstützung für seine weitere Entwicklung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, es ist einfach, eine neue Entschließung zu verabschieden, die „die Demokratie in den Dienst von Frieden und Entwicklung“ stellt. Es ist viel mehr Ehrgeiz nötig, um das umzusetzen, „was das Volk will“. Ich hoffe sehr, dass wir diesen Ehrgeiz und die Stärke entwickeln, die wir brauchen, um das umzusetzen, was wir beschreiben. Vielen Dank.