Parlament

Rede des Bundestagspräsidenten anlässlich der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages „Die Zerstörung der Demokratie in Deutschland vor 75 Jahren“

 

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Verehrte Repräsentanten der Verfassungsorgane unseres Landes! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Exzellenzen! Meine Damen und Herren!

Als am 10. Mai 1933 mitten in der Hauptstadt unter staatlicher Regie und Aufsicht 20 000 Bücher verbrannt wurden, darunter die Werke der bedeutendsten deutschen Schriftsteller und Publizisten, direkt neben der Staatsoper Unter den Linden, vor der Hedwigs-Kathedrale, gegenüber der Humboldt-Universität - ein bizarres Staatsschauspiel in der unglaublichen Kulisse der Berliner Repräsentationsbauten von Kunst, Kirche und Wissenschaft -, war das sogenannte Tausendjährige Reich gerade einmal 100 Tage alt. Damals hatte das neue Regime innerhalb weniger Wochen nach einem legalen Regierungswechsel schon beinahe alles durchdekliniert, was die nächsten zwölf Jahre bestimmen sollte: Rechtsbruch, Verfassungsbruch, Zivilisationsbruch.

Mit dem Weg in die nationalsozialistische Diktatur vor 75 Jahren verbindet sich eine Reihe bedeutsamer Gedenktage, an die wir in dieser Stunde im Deutschen Bundestag erinnern. Die Zeit des NS-Regimes hat am 30. Januar 1933 begonnen - die Auflösung der Weimarer Republik zweifellos früher. Das eine ist aber ohne das andere nicht erklärbar.

Am 10. April 1932, heute auf den Tag genau vor 76 Jahren, gewann im zweiten Wahlgang der greise Paul von Hindenburg als Amtsinhaber die Reichspräsidentenwahl. Um Hitler zu verhindern, hatten sich alle demokratischen Parteien hinter diesen Mann gestellt, der als bekennender Monarchist sieben Jahre zuvor gegen ihren begründeten Widerstand mit den Stimmen der Republikfeinde ins Amt gehoben worden war.

Dass die Republik von Weimar neben vielen anderen Problemen gewiss zu wenig überzeugte und engagierte Demokraten hatte - bis in die Spitzen der Verfassungsorgane hinein -, gehört zu ihren größten Belastungen, unter denen sie schließlich zusammengebrochen ist.

Die politische Kultur der Weimarer Republik litt von Beginn an unter dem weitverbreiteten Zweifel über die Vorzüge und die Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie. Diese Skepsis war genährt von Vorbehalten gegenüber dem Prinzip der Repräsentation und vom Misstrauen in die pluralistisch-demokratischen Entscheidungsprozesse. Das verbreitete Unverständnis für die Notwendigkeit von Kompromissen stürzte 1930 die letzte von einer parlamentarischen Mehrheit getragene Reichsregierung. In der Auseinandersetzung um eine Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge erwiesen sich in der damaligen Großen Koalition aus SPD, Zentrum, Deutscher Volkspartei, Deutscher Demokratischer Partei und Bayerischer Volkspartei die jeweiligen Parteiinteressen größer als die gemeinsame Verantwortung für stabile politische und wirtschaftliche Verhältnisse. Schließlich wurde das Scheitern der Regierung eher in Kauf genommen als der Konflikt mit der eigenen Klientel. Die Republik ist deshalb keineswegs nur an ihren vielen Gegnern, die es zweifellos gab, zugrunde gegangen, sondern auch durch das Versagen ihrer demokratischen Stützen. In einer beispiellosen Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung, mit der sich in Straßen- und Saalschlachten zunehmend der Eindruck eines begonnenen Bürgerkrieges verbreitete und Pöbeleien und Prügeleien als Obstruktionsstrategie der Republikfeinde zum parlamentarischen Alltag wurden, wuchs sich die Missachtung des Reichstages zu einer Parlamentsverachtung breiter Bevölkerungsschichten aus, die schließlich auch im Parlament selbst immer hemmungsloser zum Ausdruck kam.

Das Ende der Weimarer Demokratie war weder zufällig noch zwangsläufig. Dies ist bei allen offenen Fragen über die tieferen Ursachen des Siegeszuges der Nationalsozialisten ein fundiertes historisches Urteil. Am 30. Januar 1933 wurde an die Spitze der ersten deutschen Republik ein Mann gestellt, der diese nicht nur öffentlich verhöhnte, sondern auch geschworen hatte, sie zu vernichten. „Ich prophezeie feierlich“, äußerte sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein prominenter Zeitgenosse, der über persönliche Erfahrungen mit Hitler verfügte, „dass dieser unselige Mann unser Reich in den Abgrund stürzen und unsere Nation in unfassbares Elend bringen wird.“ Es war General Erich Ludendorff, der nur zehn Jahre zuvor noch maßgeblich an Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle in München und am damals missglückten Umsturzversuch beteiligt gewesen war.

Illusionen über die künftigen Verhältnisse hätte niemand haben dürfen. Adolf Hitler hatte nie einen Zweifel daran gelassen, was er mit der Macht anstellen würde, wenn er sie nur bekommen würde. Im sogenannten Ulmer Reichswehrprozess hatte er 1930 nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal offen erklärt, die NSDAP werde, sollte sie an die Macht kommen, die Weimarer Verfassung auf legalem Wege in eine völlig andere staatliche Grundordnung umformen.

Viel Zeit hat er sich dafür nicht genommen. Mit seinem Einzug in die Reichskanzlei begann die systematische Zerstörung einer Demokratie, der seine Partei unmissverständlich den Kampf angesagt hatte.

In dieser Republik, der es erkennbar an Demokraten fehlte, war der Anspruch auf politische Teilhabe des Volkes bereits seit 1930 unterlaufen. Mit den Präsidialregierungen auf der Grundlage des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung war die parlamentarische Demokratie weitgehend ausgeschaltet. Die präsidialen Notverordnungen hatten immer häufiger die Gesetzgebung unter parlamentarischer Kontrolle verdrängt. Nach den Juliwahlen 1932 tagte der Reichstag gerade noch zweimal - Hermann Göring war inzwischen Reichstagspräsident -, nach den Neuwahlen vom November dreimal.

Vor diesem Hintergrund entwirft die vom NS-Regime geprägte, bis heute oft wiederholte Behauptung, die Nationalsozialisten hätten 1933 in einer Demokratie mit demokratischen Mitteln die Demokratie besiegt, ein allzu simples Bild der politischen Realitäten am Ende der Weimarer Republik. Ebenso ist der zeitgenössische zynische Kommentar Oswald Spenglers, die Machteroberung der Nationalsozialisten sei kein Sieg gewesen, denn es hätten die Gegner gefehlt, schlicht falsch. Vielmehr wurde unmittelbar mit dem Machtantritt am 30. Januar unter Berufung auf die erlassenen Notverordnungen mit beispiellosem politischem Terror der Weg in die Diktatur eingeschlagen. 500 bis 600 Regimegegner wurden bereits damals ermordet. Allein in Preußen kam es im März/April zu Festnahmen von annähernd 30 000 politischen Gegnern, die Mehrzahl von ihnen Kommunisten.

Der Reichstagsbrand am 27. Februar und in dessen unmittelbarer Folge die Außerkraftsetzung der Grundrechte durch die sogenannte Verordnung zum Schutz von Volk und Staat, die Reichspräsident Paul von Hindenburg auf Antrag der Reichsregierung schon am folgenden Tag erließ, bot das Mittel zur verschärften staatlichen Verfolgung politischer Gegner, zur brutalen Zerschlagung jeder Opposition, in den Parteien, den Gewerkschaften, den Kirchen und unter den Intellektuellen. Sie wurden politisch kaltgestellt, verfolgt, in Gefängnisse verschleppt, aus dem Land getrieben, ermordet.

Von insgesamt 1 583 damals noch lebenden amtierenden oder ehemaligen Reichstagsabgeordneten mussten nach dem 30. Januar 1933 über 300 massive Behinderungen und soziale Einbußen hinnehmen, wurden aus ihren Berufen verdrängt und um ihr Vermögen gebracht. Wenigstens 416 Mandatsträger wurden von der Justiz verurteilt und von SA oder SS inhaftiert, wobei mindestens 73 während dieser Haft ums Leben kamen. Nicht weniger als 167 ehemalige Parlamentarier waren ab 1933 zur Ausreise gezwungen. Von sechs Parlamentariern ist bekannt, dass sie in den Selbstmord getrieben wurden.

Unter den noch am 28. Februar 1933 in sogenannte Schutzhaft genommenen Literaten und Publizisten befanden sich Carl von Ossietzky, Erich Mühsam und Egon Erwin Kisch. Noch am selben Tag verließen Bertolt Brecht und Alfred Döblin Berlin. Mit der Machtübernahme war bereits Lion Feuchtwanger von einer Vortragsreise im Ausland nicht mehr zurückgekehrt, ebenso Albert Einstein. Am 11. Februar ging Thomas Mann ins Exil. Viele prominente Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur, aber auch Betroffene aller Bevölkerungsschichten, insbesondere deutsche Juden, folgten diesem Beispiel. Die Emigration aus Deutschland nach 1933 umfasste annähernd eine halbe Million Menschen; schätzungsweise 30 000 davon sind als aktive Regimegegner geflohen.

Unter diesen Bedingungen fanden die Hitler zugesagten Neuwahlen zum Reichstag am 5. März 1933 statt, die den politischen Behinderungen und dem massiven Straßenterror zum Trotz der NSDAP dennoch mit 44 Prozent weniger und den Parteien der Linken mit einem Drittel der Stimmen mehr als erwartet einbrachten.

Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, das als Ermächtigungsgesetz in die Geschichte einging, zementierte am 23. März 1933 die nationalsozialistische Diktatur. Es wurde in einem Parlament verabschiedet, in dem die Mandate der KPD in einem offenen Verfassungsverstoß als nichtexistent behandelt wurden, einem Parlament, in dem die neuen Machthaber die Geschäftsordnung handstreichartig geändert hatten, um der NSDAP die nötige Mehrheit zu sichern, die sie selbst unter den Bedingungen der Wahl vom März 1933, die weder frei noch fair war, alleine nicht erzielt hatte.

Weder die breite Öffentlichkeit noch die meisten Vertreter der Parteien und Verbände hatten die ganze Dimension und die weitgehenden Folgen dieses Gesetzes erkannt, das an Tragweite alle Ermächtigungen übertraf, die das Parlament jemals einer Regierung bewilligt hatte. Ohne jede parlamentarische Kontrolle war den Befugnissen der Reichsregierung künftig keine rechtliche Schranke mehr gezogen. Die Regierung, nicht das Parlament, war künftig befugt, Gesetze zu „erlassen“, die auch von der Verfassung abweichen konnten - und sollten. Dies bedeutete das Ende des Rechtsstaates mit Folgen nicht nur für die staatliche Ordnung, sondern auch für das Leben jedes einzelnen Bürgers.

Ich bin Ihnen, Herr Kollege Vogel, außerordentlich dankbar, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind, die Bedeutung dieses Ereignisses im Kontext der Geschichte der Weimarer Republik und für dieses Land in dieser gemeinsamen Gedenkstunde in besonderer Weise zu würdigen.

Meine Damen und Herren, im Völkischen Beobachter lieferte zu dieser Zeit eine kleine Meldung eine Vorahnung dafür, was in einem nie gesehenen Terrorsystem enden sollte. Sie kündigte die Errichtung eines ersten Konzentrationslagers mit einem Fassungsvermögen für 5 000 Menschen in der Nähe von Dachau an, wo „ohne Rücksicht auf kleinliche Bedenken“ die kommunistischen, aber auch sozialdemokratischen Funktionäre untergebracht werden sollten.

Der Artikel erschien am 21. März 1933. An diesem sogenannten Tag von Potsdam reichten sich in der Potsdamer Garnisonskirche die Republikgegner über dem Grab Friedrich des Großen und 62 Jahre nach der ersten Reichstagseröffnung durch Bismarck die Hand. Es war die symbolische Versöhnung von einer am Kaiserreich orientierten konservativ-reaktionären Tradition mit der vermeintlich „nationalsozialistisch-revolutionären Erneuerung“. Diese beinahe operettenhafte Potsdamer Inszenierung ging dem tragischen Schauspiel in der Kroll-Oper am 23. März voraus. Hier folgte - schon unter der demonstrativen, doppelt symbolkräftigen Dekoration eines riesigen Hakenkreuzes auf der Stirnwand einer als Parlamentssaal ausstaffierten Opernbühne - der Auslieferung des Staates durch die konservativ-reaktionären Machteliten Ende Januar die Selbstaufgabe des Parlamentes zugunsten der Regierung, einer Regierung, deren Kanzler den Reichstag noch unmittelbar vor der Abstimmung mit der unglaublichen Herablassung düpierte, sie - die Regierung - behalte sich „auch für die Zukunft vor, ihn von Zeit zu Zeit über ihre Maßnahmen zu unterrichten oder aus bestimmten Gründen, wenn zweckmäßig, auch seine Zustimmung einzuholen.“ Das deprimierende Protokoll dieser Reichtagssitzung kann heute auch und gerade denjenigen als abschreckendes Beispiel für die mutwillige Zerstörung einer Demokratie dienen, die die damaligen Verhältnisse in Deutschland, wenn überhaupt, nur vom Hörensagen kennen.

Staatshörigkeit und Legalitätsglaube, vage Zusicherungen und Versprechen, politische Einschüchterung und brutale Bedrohung brachten die Zustimmung der notwendigen Zweidrittelmehrheit. Das Ermächtigungsgesetz war im bürgerlichen Lager das Ergebnis von Erpressung, Täuschung und Selbsttäuschung, sagt der Historiker Heinrich August Winkler. Er hat den politischen „Mehrwert“ dieses Gesetzes für die Stabilisierung des Regimes pointiert in die Worte gefasst:

Der Schein der Legalität förderte den Schein der Legitimität und sicherte dem Regime die Loyalität der Mehrheit, darunter, was besonders wichtig war, der Beamten.

Bei der Abstimmung im Reichstag fehlten 107 Abgeordnete: die 81 Fraktionsmitglieder der KPD und auch 26 Abgeordnete der SPD, die bereits in Haft saßen oder sich aus berechtigter Angst um ihr Leben auf der Flucht befanden. Es ist das historische Verdienst der 94 verbliebenen sozialdemokratischen Abgeordneten, mit großem persönlichem Mut der Repression widerstanden zu haben. Sie weigerten sich, dem gewalttätigen Umsturz hinter der Fassade einer scheinbaren parlamentarischen Normalität den Ausweis von Legalität zu geben. Sie sind damit - die meisten von ihnen damals wie heute der breiten Öffentlichkeit unbekannt - zu stillen Helden der Demokratie und des Parlamentarismus in Deutschland geworden. Einer von ihnen war Paul Löbe, langjähriger Präsident des Reichstages, später Alterspräsident des ersten Deutschen Bundestages; er wertete das Ermächtigungsgesetz 1949 als einen „illegalen Akt“ und den Widerstand dagegen als „eine patriotische Tat“. Als das wollen und werden wir es in ehrendem Gedenken behalten.

Der Fraktionsvorsitzende der SPD, der Abgeordnete Otto Wels, aus dessen Rede wir gleich im Anschluss den zentralen Abschnitt hören werden, sprach die letzten wirklich freien Worte im Deutschen Reichstag, der damals in diesem Gebäude schon nicht mehr zusammentreten konnte und nach dieser Sitzung auch nicht mehr gebraucht wurde. Angesichts der Machtlosigkeit und des Verlustes an Freiheit reklamierte er für alle im Widerstand stehenden Deutschen nur mehr die Ehre, die offensichtlich mehr als eine „Sekundärtugend“ ist.

Auf sie bezog sich auch der nach Österreich emigrierte Schriftsteller Oskar Maria Graf, als im Mai 1933 in über 50 deutschen Städten - übrigens auf Initiative der Deutschen Studentenschaft - die Bücher von mehr als 250 Autoren verhöhnt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, darunter die Werke der Gebrüder Mann, von Bertolt Brecht, Stefan Zweig, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Erich Kästner, Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky. „Diese Unehre habe ich nicht verdient!“, hieß es in Grafs öffentlichem Aufschrei, als er sich selbst auf der Liste verfemter Schriftsteller nicht fand.

Joseph Roth hatte schon ein Jahr vor diesem Akt der Unkultur gegenüber Freunden geäußert: „Sie werden unsere Bücher verbrennen und uns damit meinen.“ In seinem Fall meinte dies zweierlei: den Intellektuellen und den Juden. Nur eine knappe Woche nach dem Ermächtigungsgesetz, am 1. April 1933, zeigte sich die menschenverachtende Rassenideologie in einer von den neuen Machthabern gesteuerten und reichsweit durchgeführten Aktion gegen die deutschen Juden. Der Boykott jüdischer Geschäfte, der von nackter Gewalt auf offener Straße begleitet war, und das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, mit dem Beamte „nicht-arischer Abstammung“ in den Ruhestand versetzt wurden, bildeten das unübersehbare Fanal einer brutalen Ausgrenzung, die in die Vernichtungslager führen sollte. Den Frontalangriff der Nationalsozialisten auf die Menschenrechte zeichnete Joseph Goebbels in seinem Boykottaufruf in gewohnt großen historischen Linien. Seine Parole, das Jahr 1789 aus der Geschichte zu streichen, machte deutlich: In Abkehr von den westlichen Prinzipien - Toleranz, individuelle Freiheit, Gewaltenteilung, Demokratie und Rechtsstaat - meinte die Idee der Nation im NS-Verständnis die Volksgemeinschaft in einem autoritär geführten Staat. Der ausdrückliche Abschied von der unantastbaren Würde des Menschen führte schließlich in den Holocaust als beispiellosem Menschheitsverbrechen.

Das Jahr 1933 lässt sich ebenso wenig aus der Geschichte streichen wie irgendein anderes davor oder danach. So weit reicht der maßlose Anspruch auch von Despoten nicht. Aber er reicht erschreckend weit:

Am 2. Mai, unmittelbar nach dem Tag der Arbeit, werden überall in Deutschland die Gewerkschaftshäuser gestürmt, am 22. Juni wird die SPD verboten, die anderen Parteien lösen sich scheinbar freiwillig auf.

Schon Mitte des Jahres, nach gerade einmal fünf Monaten, ist das Parteiensystem - wie angekündigt - beseitigt, die NSDAP die einzig verbliebene selbstständige Organisation. Bis dahin waren ihr mehr als 1,5 Millionen Menschen als Mitglieder beigetreten - mehr als alle demokratischen Parteien in Deutschland heute zusammen an Mitgliedern haben. Freie Wahlen haben danach nicht mehr stattgefunden. Es fehlten dafür inzwischen auch sämtliche Voraussetzungen.

Die Auflösung der Weimarer Demokratie hat nicht erst am 30. Januar begonnen. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler war eben nicht der Anfang vom Ende, sondern der Abschluss einer langen politischen Agonie, die als „nationale Erhebung“ gefeiert in den nationalen Untergang führte.

Zu dieser fast unbegreiflichen Entwicklung beigetragen hat nicht zuletzt ein erschreckender Mangel an Einsicht und Zivilcourage auch bei prominenten Vertretern der Wirtschaft, der Medien, der Kirchen wie der Universitäten. Die Weimarer Zeit kennzeichnete in Politik, Verwaltung, Justiz und Kultur ein gewiss facettenreiches, in seinem Kern aber oft antidemokratisches Denken. Das machte auch und gerade vor den Universitäten und der Wissenschaft nicht halt. Im Gegenteil: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat unlängst in einer Ausstellung hier in Berlin über die eigene Vergangenheit dokumentiert, dass viele Wissenschaftler in Deutschland keineswegs erst hätten gleichgeschaltet werden müssen. Vielmehr habe sich „die Mehrheit geradezu aufgedrängt, nationalsozialistische Politik zu gestalten, und das häufig schon in den 20er Jahren, ganz ohne Not“, so Dieter Hüsken, der für die DFG die Ausstellung ausgerichtet hat.

Dass Berlin nicht Weimar ist, so wie Bonn nie Weimar wurde, manifestiert sich nicht zuletzt in dem großen Konsens, mit dem wir heute im deutschen Parlament - und nicht nur hier - auf das Jahr 1933 und seine Lektionen zurückblicken. Der deutsche Parlamentarismus ist auch heute nicht unangefochten, aber er erweist sich auch am Ende seines sechsten Lebensjahrzehnts als robuster und vitaler als gemeinhin vermutet - vielleicht nicht ganz so stark, wie er sein könnte, und nicht immer so selbstbewusst, wie er gelegentlich sein sollte. Doch wo hatten und haben im internationalen wie im historischen Vergleich Parlamente ähnlich viel oder gar mehr Einfluss auf die Bildung und die Kontrolle von Regierungen, auf die Gesetzgebung und die öffentliche Meinung als in Deutschland heute?

Aus der Doppelerfahrung des Scheiterns von Weimar und der nationalsozialistischen Diktatur begründete sich der den westlichen Werten verpflichtete Geist des Grundgesetzes: der Schutz der individuellen Freiheitsrechte, die Mitwirkung des Bürgers in einer pluralistisch und repräsentativ verfassten parlamentarischen Demokratie und die Verhinderung einer verselbstständigten Staatsgewalt. Vor 60 Jahren wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat als Lehre von Weimar nicht allein die Funktionsfähigkeit des Regierungssystems verbessern. Sie leitete in ihren Verfassungsberatungen vor allem das Ziel einer wehrhaften Demokratie, in der sich demokratische Freiheiten nicht für die Zerstörung der freiheitlichen Demokratie missbrauchen lassen sollten. Während in der Weimarer Reichsverfassung die Grundrechte nur nach Maßgabe der Gesetze galten, sind sie im Grundgesetz unmittelbar geltendes, gerichtlich durchsetzbares Recht und damit verbindliche Orientierung für die Gesetzgebung.

Die Weimarer Verfassung hatte bei ihrer durchaus ehrgeizigen Formulierung naturgemäß noch nicht die Erfahrung ihres späteren Scheiterns, die wiederum zur prägenden Orientierung der Schöpfer des Bonner Grundgesetzes führte, die neue politische Ordnung in ihrem rechtsstaatlichen Kern durch den berühmten Art. 79 Abs. 3 mit den Grundrechten und den Strukturprinzipien der Republik, der Demokratie, des Rechtsstaates, des Sozialstaates und des Bundesstaates unter besonderen, verfassungsrechtlich irreversiblen Schutz zu stellen. Bis heute ist das gelungen.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, 75 Jahre sind inzwischen seit der Auflösung und Zerstörung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland vergangen. Sie wurde keine vierzehn Jahre alt. Nach grausamen, unvorstellbaren, entsetzlichen zwölf Jahren war die Nazi-Herrschaft zu Ende - und mit ihr das Deutsche Reich als selbstständiger Staat zerstört, politisch und militärisch gescheitert, wirtschaftlich ruiniert und moralisch diskreditiert.

Im nächsten Jahr können wir das 60-jährige Bestehen der Bundesrepublik Deutschland feiern. Ihre politische Stabilität und ihr großes Ansehen in der Welt war wie das Scheitern der Weimarer Demokratie weder zufällig noch zwangsläufig.

Zur demokratischen Erinnerungskultur gehört, das eine genauso wenig für selbstverständlich zu halten wie das andere. Für beides gibt es Ursachen und gibt es Verantwortliche, nicht nur in den Parlamenten, aber hier ganz besonders.

Wir verneigen uns heute vor allen Opfern der nationalsozialistischen Diktatur, und unser besonderer und dankbarer Respekt gilt all denen, die während und nach der brutalen Zerstörung der ersten deutschen Demokratie den politischen, sozialen und moralischen Wiederaufbau unseres Landes möglich gemacht haben.