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Mitten in dieser Welt. Die Kirche in der Zeit, die Zeit in der Kirche. Rede anlässlich des 850. Jubiläums (1156) der Weihe der Abteikirche Maria Laach

Exzellenzen,
Herr Ministerpräsident,
verehrter Pater Abt,
hohe Repräsentanten der Kirchen, des Staates, der Gesellschaft,
liebe Freunde und Förderer der Abtei Maria Laach,
meine Damen und Herren,

I.

„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“, so lautet der Eingangssatz der Pastoralkonstitution des zweiten vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute. Die Botschaft dieses Satzes ist: die Probleme der Welt sind die Probleme der Kirche. Mitten in dieser Welt.

Der Text stammt aus dem Jahre 1965, ist mithin inzwischen gut 40 Jahre alt und heute noch so jung wie damals: Mitten in dieser Zeit.

Die mehr als 800 Jahre, auf die wir heute aus Anlass der Weihe der Abteikirche bis weit ins 12. Jahrhundert zurückblicken, sind eine ungewöhnlich lange, unsere Vorstellungskraft sprengende Zeit.

- Das ist etwa die Zeitspanne, die für die Aufzeichnung des alten Testaments benötigt wurde.

- Keines der großen Weltreiche hatte einen so langen Bestand: weder das persische noch das hellenische Reich, weder das römische Reich noch das der Araber oder der Osmanen. Die vermeintliche Weltherrschaft der Spanier und Portugiesen mit ihren südamerikanischen Eroberungen war nach vergleichsweise kurzer Zeit ebenso beendet wie das britische Empire.

- Das in der Ausdehnung größte Reich der bisherigen Geschichte, das Reich der Mongolen, ist vor genau 800 Jahren, 1206, gegründet und nach einer schnellen Eroberung großer Teile Asiens und Europas schon am Ende desselben Jahrhunderts vom Niedergang und allmählichen Verfall seiner Herrschaft gekennzeichnet gewesen. Maria Laach ist früher gegründet worden und steht in den Stürmen der Zeit noch immer.

Bestand in der Geschichte der Menschheit haben die großen Kulturen, nicht die großen Reiche - ein ebenso ernüchternder wie ermutigender Befund. Die großen Weltreligionen sind allesamt wesentlich älter, wesentlich beständiger und prägender: sie messen in Jahrtausenden, politische Systeme in Jahrzehnten.

II.

Die Chronik des 12. Jahrhunderts, die uns aus gegebenem Anlass besonders interessiert, ist durch Ereignisse mit nachhaltigen Wirkungen für Kirche und Staat gekennzeichnet. In diesem 12. Jahrhundert wird Europa fast flächendeckend vom Christentum erschlossen. Seit Beginn dieses 12. Jahrhunderts findet der Begriff „Deutsch“ zunehmend Verbreitung für Land und Leute im damaligen Heiligen Römischen Reich „Deutscher Nation“, wie dann etwas später hinzugefügt wurde.

1152 wurde Friedrich I. Barbarossa zum deutschen König gekrönt ; 1155, ein Jahr vor der Weihe dieser Abtei, in Rom zum römisch-deutschen Kaiser.

Das 12. Jahrhundert ist die Zeit der Kreuzzüge und mancher anderer umstrittener kirchlicher Entwicklungen und Entscheidungen.

1173 hat der Papst allen Christen untersagt, Handel mit den Arabern zu treiben.

1199 hat Papst Innozenz III. dem einfachen Volk das Lesen der Bibel verboten.

Das alles ist, nicht nur in Jahren gemessen, weit weg von unserer Gegenwart, die durch Globalisierung im Handel, ohne Rücksicht auf Weltanschauungen und Nationalitäten, und Säkularisierung geprägt ist. Kirche in der Zeit und Zeit in der Kirche.

III.

Die Bedeutung der Klöster, insbesondere im Mittelalter als Stätten der Bildung und Kultur weit über ihren kirchlichen Auftrag hinaus, ist schwerlich zu überschätzen. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass die europäische Kulturgeschichte anders und ärmer ausgefallen wäre, wenn es die Klöster und ihren Beitrag „mitten in dieser Welt“ nicht gegeben hätte. Der benediktinische Leitspruch „Ora et labora“ bedeutet nicht, in unsere moderne Zeit übersetzt: Wer nicht betet, der braucht auch nicht zu arbeiten, sondern er fordert auf: ein Gleichgewicht herzustellen zwischen Spiritualität und den Erfordernissen des Alltags. Diese Aufforderung ist heute nicht weniger aktuell als zum Zeitpunkt der Gründung des Klosters und der Weihe der Abteikirche.

Die Benediktinerabtei Maria Laach war wie andere bedeutende Klöster im Laufe ihrer Geschichte einerseits von ihrer Zeit beeinflusst und andererseits selbst Impulsgeber ihrer Zeit, z.B. durch ihre frühen wissenschaftlichen Arbeiten und als Zentrum der Liturgischen Bewegung. Um 1500 wird das Kloster ein Vorort des rheinischen Klosterhumanismus und ein Zentrum der Wissenschaften; damals wurde die Klosterbibliothek ausgebaut.

Das Kloster wurde zu einem ausstrahlenden Zentrum der Literatur und der Kunst.

Den Dreißigjährigen Krieg (1618-48), der nicht nur, aber auch ein Religionskrieg war, hat das Kloster ebenso überstanden wie die Napoleonischen Kriege, bis dann allerdings 1802 die französische Regierung die Abtei aufhob und sie in eine große Meierei umwandelte. Eine damals, wie man glaubte, abschließende, wie wir heute wissen, sehr vorübergehende Lösung. Nach dem zwischenzeitlichen Erwerb (1862) der ehemaligen Abteigebäude durch die deutsche Jesuitenprovinz und deren schon zehn Jahre später erfolgende Vertreibung durch das Jesuitengesetz im Zuge des Kulturkampfes erfolgte mit Beginn der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts dann die zunehmende Wiederbesiedlung durch Benediktinermönche aus der Erzabtei Beuron, nachdem diese bei Kaiser Wilhelm II. dazu eine Genehmigung erwirkt hatten.

Die zweitausendjährige Geschichte des Christentums , die noch älter ist als die Geschichte dieses Klosters, ist auch eine Geschichte der Irrtümer, der Verfehlungen und Verirrungen. Aber sie ist zugleich eine überwältigende Geschichte von Zeugnissen der Freiheit des Christenmenschen und der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Gerade in Zeiten politischer Umstürze und der Verachtung von Wert und Würde des Menschen, nicht zuletzt in der Zeit des Nationalsozialismus, hat es das Zeugnis von Christen wie Bernhard Lichtenberg, Alfred Delp, Dietrich Bonhoeffer oder Edith Stein gegeben. Und es sind übrigens auch in solchen Zeiten nicht zuletzt die Klöster gewesen, die eine diskrete Zuflucht für Verfolgte und ein Ort des Widerstandes gegen die Zustände der Welt gewesen sind. Dass in einer für ihn persönlich und für das Land besonders schweren Zeit der spätere erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, für ein Jahr im Kloster Maria Laach Zuflucht gefunden hat, registriere ich als bekennender Christ und Demokrat mit doppelter Genugtuung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Maria Laach an Bedeutung, auch an politischer Bedeutung, ganz offenkundig nicht eingebüßt. Hier haben auch wichtige politische Treffen stattgefunden, zwischen Kanzlern und französischen Staatspräsidenten beispielsweise. Und hier findet in einer schönen, ungefährdeten Tradition Jahr für Jahr ein Treffen katholischer Politiker aus Bund und Ländern zu jährlichen Exerzitien statt.

IV.

Die Kirchengeschichte ist wie die Nationalgeschichte voll von Aufbrüchen und Gründungen, von Aufstiegen und Niedergängen. „Zivilisatione n sind sterblich - Kirchen auch“, hat Hans Maier, der frühere Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken und langjährige Bayerische Kulturmister einmal in einem lesenswerten Beitrag formuliert und hinzugefügt: „Nichts lässt sich auf die Dauer schützen und konservieren, wenn Geist und Leben schwächer werden und absterben. Lebendig bleibt nur, was bei Menschen Wurzeln geschlagen hat und fortbesteht... Die Kirche muss den Glauben immer zugleich bewahren und der jeweiligen Zeit neu sagen. Der Glaube kann gar nicht unwandelbar durch die Zeiten weitergegeben und in jeder Zeit in gleicher Weise gelebt werden. Glaube und Kirche stehen stets im Wechselverhältnis mit Geschichte und Kultur. Wer dies leugnet, verteidigt in Wahrheit die Bindung von Kirche und Glauben an eine bestimmte geschichtliche Periode und eine bestimmte Kultur. Eine solche Bindung widerspricht der Erfahrung der Kirchengeschichte.“

Ganz offensichtlich hängt die Frage nach der Autorität der Kirche in diesen dramatischen Prozessen der Veränderung auch an ihrer Fähigkeit sowie ihrer Bereitschaft zur geschichtlichen Aktualisierung als Kirche Jesu Christi. Dazu gehört ganz wesentlich die Bereitschaft und die Fähigkeit, Neues wahrzunehmen und zuzulassen, das bislang noch nicht zur Entfaltung kommen konnte.

Im vierten Kapitel der dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“ (21.11.1964) wird das Apostolat der Laien als Teilhaber an der Heilssendung der Kirche ausdrücklich bekräftigt. Ihnen wird die Möglichkeit und „bisweilen“ sogar die Pflicht zugesprochen, sich in kirchlichen Fragen zu äußern: „Die geweihten Hirten aber sollen die Würde und die Verantwortung der Laien in der Kirche anerkennen und fördern. Sie sollen gern deren klugen Rat benutzen, ihnen vertrauensvoll Aufgaben im Dienst der Kirche übertragen und ihnen Freiheit und Raum im Handeln lassen, ihnen auch Mut machen, aus eigener Initiative Werke in Angriff zu nehmen... Sie können mit Hilfe der Erfahrung der Laien in geistlichen wie in weltlichen Dingen genauer und besser urteilen.“ (Lumen Gentium 37)

Die Kirche der Zukunft braucht kluge Hirten und eine aufgeklärte Herde, die sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst ist und von dieser Verantwortung Gebrauch macht. Dass die Wahrnehmung des Apostolats der Laien nicht immer einfach ist, frei von Spannungen und Irritationen, will ich an einem Thema verdeutlichen, das besonders wichtig und zugleich besonders schwierig ist: dem Schutz des ungeborenen Lebens.

Ich gehöre zu denjenigen, die an den ebenso schwierigen wie ernsthaften Bemühungen des Deutschen Bundestages beteiligt waren, eine angemessene gesetzliche Regelung für die Frage zu finden, ob überhaupt und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen Schwangerschaftsabbrüche straffrei bleiben sollten. Und obwohl ich mir gewiss nicht einbilde, bei diesem Thema ein besonderer Experte zu sein, habe ich aus diesen jahrelangen quälenden Beratungen mindestens eine subjektiv feste Überzeugung in Erinnerung behalten: Am ernsthaften Bemühen des deutschen Gesetzgebers, für dieses verzweifelte Problem eine halbwegs überzeugende menschengerechte Lösung zu finden, ist kein Zweifel erlaubt. Und deswegen hat mich persönlich die Reaktion der Amtskirche auf diesen damaligen Gesetzgebungsprozess mit den sich daraus ergebenden Beratungsstrukturen betroffen gemacht. Das Ausscheiden der katholischen Schwangerschaftskonfliktberatung aus dem Konfliktberatungssystem der Bundesrepublik Deutschland habe ich für einen schweren Fehler gehalten. Ich sage das jetzt nicht als Politiker, sondern als katholischer Christ. Jedenfalls hat diese Entscheidung, völlig unabhängig davon, ob man sie für zwangsläufig oder mutwillig, für begründet oder unbegründet hält, ganz offensichtlich ein Vakuum entstehen lassen, das dringend gefüllt werden musste. Mir liegt sehr daran, zwischen diesen beiden Aspekten zu unterscheiden. Selbst dann, wenn man die unter bekannten Bedingungen zustande gekommene Entscheidung der Deutschen Bischofskonferenz für richtig hält, was ich aus den angedeuteten Gründen ausdrücklich nicht kann, muss man sich doch immer noch der Einsicht stellen, dass die getroffene Entscheidung ein neues Problem hat entstehen lassen, und dass nach meinem Verständnis niemand, der sich der Ernsthaftigkeit dieses Problems nicht mutwillig entzieht, dieses dadurch entstandene neue Problem auf sich beruhen lassen durfte. Ungeborene Kinder kann man nicht ohne ihre Mütter schützen und schon gar nicht gegen sie.

Im Zusammenhang mit parlamentarischen Entscheidungsprozessen werden - wie die meisten wissen - gerne Gewissensentscheidungen reklamiert, die, wie auch die meisten wissen, selten vorkommen. Aber es gibt sie, und das ist so eine. Und es gibt eben auch Gewissensentscheidungen jenseits der Politik oder nach Abschluss getroffener politischer Entscheidungen.

Der Kern meiner persönlichen Motivation und vermutlich auch der vieler anderer, die damals zu den Gründungsmitgliedern von Donum Vitae gehört haben, war die Wahrnehmung genau dieses Dilemmas und die Vorstellung auch von einer ganz unmittelbaren persönlichen Verpflichtung, die sich daraus ergibt. Und wenn man denn schon der Argumentation folgt, dass die vom Gesetzgeber und damit staatlich verbindlich getroffene Ordnung den eigenen Ansprüchen und Glaubensüberzeugungen nicht genügt, dann ist die Schlussfolgerung doch erst recht nicht erlaubt, sich nun heimlich in die Büsche zu schlagen und zu beobachten, was denn nun wohl passiert. Und deswegen war für mich wie für viele andere klar, dass die persönliche Verantwortung als politisch engagierter Christ die aktive Mitwirkung an der Bewältigung der alten und neuen Probleme zur Folge haben musste, die sich aus der Entscheidung des Vatikans und der deutschen Bischofskonferenz für den Schutz des menschlichen Lebens ergaben - so unvollkommen das notwendigerweise bleiben muss. Aber der Hinweis auf die nicht verfügbaren perfekten Lösungen ist immer schon die beliebteste Ausrede für die Verweigerung eigener Beteiligung gewesen. Ich gebe gerne zu, dass mich in den inzwischen relativ langen Jahren meiner Zugehörigkeit zu dieser Kirche keine andere Frage so umgetrieben und auch so strapaziert hat wie diese. Ich will gerne hinzufügen, dass ich den begründeten Eindruck habe, dass das für manche Mitglieder der Bischofskonferenz auch gilt, deren Entscheidungsspielräume aus offensichtlichen Gründen jedenfalls anders, enger als unsere waren und sind, wodurch sich nicht nur die Möglichkeit, sondern, wie ich glaube, auch die Notwendigkeit unterschiedlicher politischer, persönlicher, auch religiös begründeter Schlussfolgerungen ergibt.

Mit Blick auf die jüngste Erklärung der Bischofskonferenz muss die Frage erlaubt sein: wollen die Bischöfe wirklich nicht, dass sich überzeugte engagierte Katholiken an der Beratung zum Schutz des Lebens in organisierter Weise beteiligen? Einer ebenso verantwortungsvollen wie wirkungsvollen Beratung, der viele tausend Kinder ihr Leben verdanken. Und was bedeutet die Ausgrenzung von Donum Vitae als „Vereinigung außerhalb der Kirche“, was bedeutet sie für das Wirken von Katholiken in einer säkularen Welt und damit auch ihrer Verlässlichkeit als Staatsbürger in einem demokratischen Rechtsstaat?

Mitten in der Welt, in der wir heute leben, sind die wirklich großen Fragen jedem vordergründigen Eindruck zum Trotz im Kern religiöse Fragen: Die Frage nach Leben und Tod, nach Gut und Böse, nach Schuld und Vergebung, nach Freiheit und Verantwortung, nach Frieden und Völkerverständigung. Sie sind freilich von den Kirchen ebenso wenig alleine zu beantworten wie von den Regierungen oder Parlamenten.

Trotz der Irrtümer, Verirrungen, Verfehlungen und auch Verbrechen, die es in der Geschichte des Christentums über die Jahrhunderte hinweg gegeben hat, ist der Kern der tragenden ethischen und moralischen Orientierungen der westlichen Zivilisation von keiner anderen Institution mehr geprägt und mehr gefördert worden als von den christlichen Kirchen. Auch deshalb gehört die Kirchenspaltung, die inzwischen seit fast 500 Jahren andauert, zu den größeren Katastrophen der europäischen Geschichte, im Lichte der Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft ist sie ein schwer erträgliches Ärgernis. In der Formulierung von Kardinal Kasper: „Wir dürfen und können uns mit dem Faktum der getrennten Kirchen nicht abfinden; wir dürfen uns nicht daran gewöhnen oder dieses Faktum gar rechtfertigen wollen. Die Trennung ist ein Skandal, den wir nicht verharmlosen dürfen, etwa dadurch, dass wir uns auf eine rein geistliche Einheit hinter den faktisch bestehenden Kirchentümern zurückziehen.“

Mir sind die Unterschiede zwischen den christlichen Konfessionen hinreichend geläufig, aber sie wollen mir im Kontext der gemeinsamen Aufgaben und Herausforderungen nicht hinreichend relevant erscheinen, um die Trennung weiter zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten.

V.

Die Politik scheint insoweit weitergekommen zu sein als die Kirchen. Dass Europa seine jahrzehntelange Trennung überwunden hat und nicht nur zum größten freien Markt der Welt, sondern auch zu einer politischen Gemeinschaft zusammenwächst, ist eines der Hoffnungszeichen zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts. Dass die Grundwerte dieser Europäischen Gemeinschaft, mehr oder weniger vollständig formuliert im europäischen Verfassungsvertrag, von christlichen Glaubensüberzeugungen geprägt sind, ist offenkundig. Es bleibt aber erklärungsbedürftig, warum schon unter den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft eine Einigung auf diesen Verfassungstext nur unter ausdrücklicher Ausklammerung dieses offensichtlichen und unbestreitbaren kulturellen und religiösen Zusammenhanges möglich war. Dieses erstaunliche Defizit hat in den vergangenen Jahren niemand hartnäckiger und eindrucksvoller und, ich hoffe, auch wirkungsvoller beschrieben als unser heutiger Papst Benedikt XVI.: „Europa braucht eine sicher demütige Annahme seiner selbst, wenn es eine Zukunft haben soll“. Und es sind keineswegs nur Theologen, es sind insbesondere Historiker, Philosophen, Politiker, Verfassungsjuristen, die hierauf immer wieder hinweisen.

„Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt“, schreibt unser Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 1993: „Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein.“

Gleichgültigkeit: das ist vielleicht die größte Gefährdung der westlichen Zivilisation, die sich kaum noch jemand als christliches Abendland zu bezeichnen traut. Der englische Religionssoziologe David Martin hat schon vor geraumer Zeit darauf aufmerksam gemacht, ausgerechnet in Europa habe der weltweite Prozess der Säkularisierung ein Ausmaß erreicht, das in der modernen Welt einmalig sei: „Europa ist der einzige wirklich säkulare Kontinent der Erde geworden“. Diese Befunde sind umso bemerkenswerter, als gleichzeitig weltweit geradezu eine religiöse Renaissance zu beobachten ist, für die es allerdings auch auf dem alten Kontinent durchaus Beispiele gibt. Die erstaunliche Beteiligung, keineswegs nur an den Teilnehmerzahlen gemessen, bei den Weltjugendtreffen ist dafür nicht das einzige, aber ein besonders aufschlussreiches Beispiel.

VI.

Wenngleich die christliche Botschaft zeitlos ist, so ist es doch eine Herausforderung für die Kirche, diese Botschaft in der jeweiligen Zeit bzw. unter den Bedingungen sich ändernder Zeiten zu verkünden. Kardinal Lehmann hat das einmal so formuliert: „Der christliche Glaube muss immer wieder neu vergegenwärtigt werden, auch wenn er derselbe bleibt.“ Und er hat aus guten Gründen hinzugefügt: „Es liegt auf der Hand, dass eine angepasste Kirche selbst überflüssig wird, weil sie ja ohnehin nur noch eine Verdoppelung dessen bietet, was schon ist.“

Zu diesem schon immer spannenden und spannungsvollen Verhältnis der Veränderungen in der Zeit und des ewig Gültigen über die Zeiten hinweg gibt es eine wunderschöne Formulierung in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et Spes“: „Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben (GS 4).“

Die Einlösung dieses Auftrages erfordert vermutlich ein neues Verhältnis von Beten und Arbeiten. Auf die bleibenden Fragen der Menschen in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise Antwort geben, die Zeichen der Zeit erforschen und diese im Lichte des Evangelismus zu deuten: das ist unsere gemeinsame Aufgabe - mitten in dieser Welt.

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