10.11.2018 | Parlament

Vortrag „Reform oder Niedergang? Zur Entwicklung des Föderalismus unter dem Grundgesetz“ von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble am 10. November

Es gilt das gesprochene Wort

Der Föderalismus ist mit der Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und – zu oft unterschlagen – den Kommunen das Organisationsprinzip unseres Staates. Der Föderalismus gehört zu den historischen Grundtatsachen der Deutschen. 
Unsere Geschichte lässt sich über die Jahrhunderte hinweg als eine Geschichte des steten Ringens zwischen Vielfalt und Einheit erzählen: im partikularstaatlich organisierten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ebenso wie im Deutschen Bund. Oder bei der Reichsgründung 1871 und in den Anfängen Weimars vor 100 Jahren, als sich dem Wortlaut der Präambel nach „das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen“, eine erste republikanische Verfassung gab. Nicht zu vergessen: Im Nationalsozialismus, als neben der Demokratie mit der Gleichschaltung der Länder auch die historisch überkommene bundesstaatliche Ordnung umgehend abgeschafft wurde.
1990 wiederum war der Föderalismus die juristische Voraussetzung für die Wiederherstellung der staatlichen Einheit über den Beitritt der „neuen Länder“ nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Und ein wesentlicher Erfolgsfaktor für das Gelingen der Deutschen Einheit – nicht allein wegen der Aufbauhilfen, die westdeutsche Länder in den Anfangsjahren geleistet haben. Es gerät in unseren Debatten über Ost und West schnell in Vergessenheit, dass die 1990 wiedergegründeten, sogenannten ‚neuen‘ Länder für viele Ostdeutsche Heimat waren. Sie haben zur Akzeptanz des zwar von den meisten gewollten, aber eben doch fremden Systems beigetragen. „Unbehaust im vereinigten Deutschland, aber doch in ihrem Land zu Hause“: So hat es Richard Schröder beschrieben. Ein Effekt, den man schlecht in DM oder Euro ausdrücken kann – und der sich mit Geld ohnehin nicht aufwiegen lässt.
Die allermeisten Menschen fühlen sich ihrem Bundesland verbunden, auch wenn nicht wenige künstliche administrative Schöpfungen der Besatzungsmächte sind. Das hat – wie nicht zuletzt wir Badener wissen – mit der historisch überkommenen, lange gewachsenen und allenfalls unterschiedlich stark ausgeprägten landsmannschaftlichen Verbundenheit in den Regionen zu tun. Diese Erfahrung haben alle gemacht, die sich in der jüngeren Vergangenheit mit noch so rationalen Argumenten für eine Länderneugliederung eingesetzt haben.

Die Deutschen sind als Sprach- und Kulturgemeinschaft erst spät zusammengewachsen. Wir hatten als nationale Besonderheit die längste Zeit unserer Geschichte keinen gemeinsamen Staat und keine Hauptstadt – bis in das ausgehende 19. Jahrhundert hinein. Deswegen spielt die Frage des staatlichen Territoriums bei uns eine ganz andere Rolle als etwa in Frankreich. Die Franzosen sind zentralistisch geprägt. Sie haben historisch die Erfahrung eines starken, effizienten Staates gemacht, der Krisen flexibel bewältigen kann – und auf Regeln in der Not nicht allzu viel Rücksicht nimmt. Deutschland war als föderal verfasstes Land dagegen lange Zeit auf nationaler Ebene schwach, Kostgänger der Territorien, und daher zuletzt stärker als Frankreich auf finanzielle Disziplin angewiesen. Auf das Aushandeln und Verhandeln – zur Bewahrung von Unterschieden bei gleichzeitiger Minimierung von Konflikten. Im Zuge der Krise in der Eurozone haben Wissenschaftler die Differenzen in den wirtschaftspolitischen Handlungsmustern in Deutschland und Frankreich auch aus diesen unterschiedlichen Erfahrungen in der Geschichte hergeleitet.

Föderaler Aufbau: Das also ist deutsche Geschichte, es ist historische Erfahrung und Teil unserer nationalen Identität – prägend bis heute. Wäre das nicht so, müssten wir es erfinden. Denn in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung wird eine föderale Ordnung „from the bottom up“ wichtiger denn je: Um der freiheitlichen Demokratie Stabilität zu verleihen. 
Wir erleben einen rasanten gesellschaftlichen Wandel. Ein immer größerer Anteil von Menschen bewegt sich – zumindest teilweise – immer mehr in der „virtuellen Welt“, wodurch Bindungen geschwächt werden. Jede freiheitliche Gesellschaft, jede stabile Demokratie braucht aber Bindungen und Zugehörigkeitsgefühl. 
Der Föderalismus trägt regionalen Unterschieden Rechnung und hilft, kulturelle Vielfalt zu bewahren. Damit wirkt er identitätsstiftend, bietet er Bürgern eine Verankerung in ihrer Region, ihrem lokalen Lebensumfeld. Nicht zuletzt: Der Föderalismus fördert politische Teilhabe auf allen Ebenen und wirkt der Machtkonzentration entgegen. Gerade in einer grenzenlosen Welt wächst das Bedürfnis der Menschen, irgendwo verankert zu sein. Zu Hause zu sein. Heimat zu haben. Nicht nur als Rückzugsraum, als nostalgisches Idyll – den es in Zeiten der Digitali-sierung sowieso nicht mehr gibt –, sondern als ein Gestaltungsraum, in dem sich die Demokratie beweisen muss. 
Die kommunale Selbstverwaltung ist deshalb für mich der Kern unserer föderalen, unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung. Auch wenn die örtliche Gemeinschaft Konkurrenz bekommen hat durch Online-Marktplätze und soziale Netzwerke: Das Internet ersetzt nicht die Kommunikation unter Menschen vor Ort, wo die Gesellschaft auf Sichtweite und in Zusammenhängen lebt, wie es Gustav Seibt formuliert hat. Gerade die kommunale Selbstverwaltung schützt vor zentralistischen Tendenzen. Sie kann Entfremdung zwischen Bürgern und politischen Entscheidungsträgern entgegenwirken und so Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie stärken. 

Zur komplexen Realität gehört der Widerspruch, dass wir Deutschen zwar einerseits in der lokalen und regionalen Vielfalt Geborgenheit suchen. Dass wir andererseits jedoch ständig nach zentralen, einheitlichen Lösungen verlangen. Auch unter überzeugtesten Föderalisten ist die paradoxe Neigung verbreitet, sobald ein Problem groß genug geworden ist, auf bundeseinheitliche Regelungen zu setzen – bei Bürgern und Politikern gleichermaßen.
Hinzu kommt, dass wir in einer Welt leben, in der tatsächlich immer mehr Entscheidungen gefordert sind, die sich aus der lokalen, regionalen und sogar der nationalstaatlichen Entscheidungskompetenz heraus auf die europäische und internationale Ebene verlagern. Für viele der Herausforderungen, mit denen wir umzugehen haben – seien es weltweite Migrationsbewegungen, Umweltschutz und Klimawandel oder der internationale Terrorismus – liegen die Lösungsansätze auf globaler, mindestens auf europäischer Ebene. 
Je mehr aber dadurch ein Element der Ferne in unsere politischen Konzepte und in unser Handeln kommt, desto wichtiger sind jene Ebenen, auf denen Politik erfahrbar bleibt – durch Nähe zur Wirklichkeit vor Ort mit ihren konkreten Problemen, durch Nähe zu den Menschen, durch Verbundenheit. In eigenständigen Ländern und starken Kommunen.
Die voranschreitende Integration auf europäischer Ebene gehört deswegen zu den zentralen Herausforderungen für unseren föderalen Staat. Und deshalb muss uns die Frage bewegen, ob und wie die Länder auch in Zukunft eine selbstbewusste Rolle im föderalen Gefüge einnehmen werden. Subsidiarität ist eben nicht nur ein Prinzip, das wir zurecht immer wieder in der Europäischen Union geltend machen müssen. Sie fängt bei uns an: in den Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen. 

Grundsätzlich gilt, dass im Bundesstaat die Aufgaben jeweils von derjenigen staatlichen Ebene erfüllt und finanziert werden sollten, die das am besten und effizientesten leisten kann. Müssen unterschiedliche Präferenzen vor Ort in Betracht gezogen werden, sollte die Aufgabe auf Länder- oder Gemeindeebene übernommen werden. Ist hingegen eine einheitliche Erfüllung von gesamtstaatlich bedeutsamen Aufgaben angezeigt, ist der Bund gefragt. 
Das ist das föderale Ordnungsprinzip – das Ideal, wie es die Mütter und Väter des Grundgesetzes vor 70 Jahren entworfen haben. Sie haben damit die historische Erfahrung der Deutschen berücksichtigt – wenn auch nicht gänzlich freiwillig. Denn die dezentrale Staatsstruktur gehörte auch zu den Auflagen der Besatzungsmächte für die künftige Verfassung des westdeutschen Teilstaates – in Abkehr von der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Länder mit ihren fatalen Konsequenzen. Tatsächlich hat der Föderalismus gerade in den Anfangsjahren maßgeblich zur politischen Integration und damit zur Stabilität der Bundesrepublik beigetragen. Er zwang zu Kompromiss und Kooperation über die politischen Lager hinweg. Und zugleich band er die Opposition ein: Die SPD stellte erst nach 20 Jahren den Kanzler, aber sozialdemokratische Ministerpräsidenten gab es von Anfang an. Kurz: Der Föderalismus der Bundesrepublik lehrte die Parteien, woran es ihnen in der Weimarer Republik gemangelt hatte: staatspolitische Verantwortung.

Das Grundgesetz begründet einen spezifisch deutschen Föderalismus: den „kooperativen Föderalismus“. Dieser Begriff wurde Mitte der sechziger Jahre von der Kommission für die Finanzreform geprägt, der Troeger-Kommission. Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger hat den kooperativen Föderalismus in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag im Dezember 1966 zum Leitbild für die damalige Verfassungsreform gemacht. 
Das unterscheidet uns von anderen dezentral organisierten Staaten wie den USA oder der Schweiz. Dort hat im Prinzip jede Ebene ihre eigene Gesetzgebungszuständigkeit und ist für den Vollzug dieser Gesetze verantwortlich: Wenn die Schweizerische Eidgenossenschaft die Gesetzgebungskompetenz hat, hat sie auch die Kompetenz, die Gesetze zu vollziehen. Die amerikanische Bunderegierung, soweit sie Gesetzgebungskompetenzen hat, vollzieht die Gesetzgebung in der Regel durch Bundesverwaltungen. Und das gleiche gilt für die amerikanischen Bundesstaaten: Sie haben die Gesetzgebung und vollziehen sie auch. 
Wir haben in Deutschland hingegen das Prinzip, dass der Bund die Gesetze macht und die Länder die Bundesgesetze in eigener Verantwortung ausführen. Deswegen ist die Mitwirkung der Länder an dieser Gesetzgebung zwangsläufig. Und daraus ergeben sich unterschiedliche Gestaltungsspielräume – auch bei der Gestaltung der Einnahmen und Ausgaben. 

Mit Verschränkung und Kooperation in den föderalen Beziehungen ist unserer staatlichen Ordnung ein Spannungsverhältnis zwischen Bund und Ländern eingeschrieben. Konflikte ließen da nicht lange auf sich warten. Es ist kein Geheimnis, dass Adenauer nicht allzu viel von den Ministerpräsidenten hielt – den „Zaunkönigen“, wie er sie gelegentlich nannte. Und der erste Bundesjustizminister Thomas Dehler hätte dem Bundesrat am liebsten untersagt, die allgemeine Regierungspolitik auch nur zu debattieren und zu kommentieren.
Deshalb verwundert auch nicht, dass sich die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1951 mit Kompetenzübergriffen des Bundes zu befassen hatte. Hintergrund war die Auseinandersetzung um die Gründung des Südwest-Staates und die beiden Neugliederungsgesetze, die der Bundestag im Frühjahr 1951 verabschiedet hatte. Der Versuch, die Wahlperiode der Landtage der Länder Baden und Württemberg-Hohenzollern um fast ein Jahr zu verlängern, scheiterte an den Verfassungsrichtern, die in ihrem Urteil daran erinnerten, dass die Länder als Glieder des Bundes (Zitat) „Staaten mit eigener – wenn auch gegenständlich beschränkter – nicht vom Bund abgeleiteter, sondern von ihm anerkannter staatlicher Hoheitsmacht“ sind. Das erste Neugliederungsgesetz bedeutete demnach einen Eingriff in die Verfassungsordnung der Länder und damit die Verletzung des im Grundgesetz garantierten bundesstaatlichen Prinzips.

Die staatliche Qualität der Länder steht verfassungsrechtlich nicht mehr in Frage. Aber für einen lebendigen Föderalismus braucht es mehr: Es braucht Länder mit eigenständigen Gestaltungskompetenzen. Länder, die Verantwortung übernehmen wollen – und können. Und es braucht starke, handlungsfähige Kommunen. 

Und die Verfassungswirklichkeit? 
Konrad Hesse, Bundesverfassungsrichter und langjähriger Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Albert-Ludwigs-Universität, beschrieb bereits 1962 die Bundesrepublik als einen „unitarischen Bundesstaat“. Das heißt: Als einen Bundesstaat, der zur Vereinheitlichung strebt und in dem die politische Substanz der Länder schwindet. Mit diesem Paradigma lieferte Hesse in der 2. Hälfte der 60er Jahre auch eine verfassungspolitische Grundierung für den Zeitgeist. Nicht alle, aber viele derjenigen, die politische Verantwortung in diesem Land trugen, waren von der Notwendigkeit einer zentralen politischen Steuerung im modernen Sozial- und Interventionsstaat überzeugt – und auch von den Möglichkeiten. Es herrschte eine regelrechte „Planungseuphorie“ in Politik, Wissenschaft und Verwaltung. Beim „Durchregieren“ konnte der Zweck des Föderalismus schnell hinderlich erscheinen.

Die von Konrad Hesse herausgearbeiteten Tendenzen prägen unseren Föderalismus bis heute. In drei Punkten lässt sich das zeigen:
Erstens: Das Schwergewicht der staatlichen Aufgaben konzentriert sich zunehmend beim Bund. Was sich nicht nur, aber insbesondere an der Gesetzgebung ablesen lässt. 
Nach Artikel 70 GG haben die Länder das Recht der Gesetzgebung – soweit das Grundgesetz dem Bund keine Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Eine irritierende Aussage, wenn man um die tatsächlichen Verhältnisse weiß. 
Roman Herzog hat bereits 1992, damals war er noch Präsident des Bundesverfassungsgerichts, beim Festakt zum vierzigjährigen Bestehen des Landes Baden-Württemberg in Stuttgart davon gesprochen, dass der Bund seine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz so exzessiv in Anspruch nehme, dass den Ländern zu wenig Raum für Eigengestaltung bliebe. Aus Ausnahmen ist in der Verfassungswirklichkeit das Gegenteil geworden. 
Geholfen hat dabei, dass das Grundgesetz in der alten Fassung des Artikels 72 bis 1994 ein „Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung“ legitimierte, wenn es um „die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ ging. Das bedeutete geradezu eine Einladung zur Bundesgesetzgebung. 
Aus der „Bedürfnisklausel“ ist inzwischen eine „Erforderlichkeitsklausel“ geworden. Und es geht auch nicht mehr um einheitliche, sondern um „gleichwertige Lebensverhältnisse“. Aber geändert hat sich im Ergebnis wenig. Auch das mit der Föderalismusreform 2006 eingeführte Recht der Länder, von Bundesregelungen abweichende Gesetze zu beschließen, kommt nur selten zur Anwendung. 

Zweitens: Parallel dazu hat sich die politische Wirksamkeit der Länder auf den Bundesrat verlagert, wo sie Einfluss auf die Angelegenheiten des Bundes nehmen. Das bedeutet: Beteiligung statt Gestaltung! Denn ein Mehr an Eigenständigkeit der Länder geht damit gerade nicht einher. 
Das Grundgesetz räumt den Ländern überall dort ein Mitspracherecht ein, wo ihre Interessen durch Bundesgesetzgebung berührt werden. Daher gibt es seit Beginn der Bundesrepublik Gesetze, die zustimmungspflichtig durch den Bundesrat sind. Der frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm hat darauf hingewiesen, dass diese sinnvolle Regelung schleichend ausgedehnt worden ist. Mit Unterstützung des Bundesverfassungsgerichts. 1958 hatten die Richter befunden, dass schon eine einzige zustimmungspflichtige Vorschrift die Zustimmung zum gesamten Gesetzeswerk notwendig mache. Zu Hochzeiten dieser föderalen Verquickung waren fast zwei Drittel der Bundesgesetze von der Zustimmung des Bundesrates abhängig. Diese Quote ist nach der Föderalismusreform 2006 auf etwa 40 Prozent zurückgegangen – immerhin. 
Dennoch bleibt fraglich, ob der Einfluss der Ländergesamtheit auf die Bundespolitik von den Mütter und Vätern des Grundgesetzes in diesem Ausmaß eigentlich beabsichtigt war. Man muss nicht so weit gehen, den Bundesrat als „Zentralkomitee des deutschen Partikularismus“ zu bezeichnen, wie das einmal pointiert formuliert wurde. Aber es ist eben auch nicht unproblematisch, wenn die Länder auf beiden Seiten des Tischs sitzen. Im Bundesrat wirken sie als Verfassungsorgan, als föderatives Bundesorgan, direkt an Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit. Über die Ministerpräsidentenkonferenz, von der im Grundgesetz nirgends die Rede ist, koordinieren sie wiederum ihre eigenen Interessen gegenüber dem Bund. Was das heißt, wenn die Ministerpräsidenten der 16 Länder mit ihrer eigenen Staatsqualität dem Bund gegenübersitzen, habe ich lange genug erlebt. Längst kommt dabei der Ministerpräsidentenkonferenz eine zentrale Entscheidungs- und Verhandlungsposition zu – zu Lasten des Bundesrates und oft auch zu Lasten des Bundes. Hier werden eigentlich strenge Unterscheidungen zunehmend verwischt.

Das führt zu Drittens: Was nicht seitens des Bundesgesetzgebers vereinheitlicht wird, unterziehen die Länder häufig einer freiwilligen Angleichung: in den Ministerpräsidentenkonferenzen; in den Fachministerkonferenzen – von denen die Kultusministerkonferenz die älteste, aber bei weitem nicht die einzige ist; in unzähligen Koordinierungsgremien auf Beamtenebene. Bereits 1960 hatten die Länder untereinander mehr als 300 Staatsverträge und Verwaltungsabkommen geschlossen. Bekanntestes Beispiel jüngeren Datums sind die Staatsverträge zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, mit denen die 16 Länder bundeseinheitliche Regelungen für das Rundfunkrecht geschaffen haben. 
Diese sogenannte „dritte Ebene“ ist von Verfassungswegen gar nicht vorgesehen und – zugespitzt formuliert – ein Stück weit Ausdruck des schlechten Gewissens eigentlich zuständiger Länder, dem Wunsch in der Bevölkerung nach Vereinheitlichung zu begegnen. Nur am Rande erwähnt sei, dass diese Art der Koordinierung der Länder untereinander die Landesparlamente ihres gestaltenden Einflusses zu großen Teilen beraubt. 

Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die „Kooperation“ zur „Politikver-flechtung“ entwickelt, oder, um es mit dem Politik- und Rechtswissen-schaftler Fritz Scharpf zu sagen, zur „Politikverflechtungsfalle“. Scharpf hat in Freiburg promoviert. Als langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung lautete 1985 sein Befund: Der „unitarische Bundesstaat“ hat sich – begleitet von einem Ausbau der Mischfinanzierungen und steigender Finanzflüsse des Bundes an die Länder – in eine weitgehende politische Unbeweglichkeit und Handlungsunfähigkeit hineinmanövriert. Anders ausgedrückt: Bund und Länder einigen sich aufgrund des hohen Kooperationsaufwands am Ende nur noch auf den kleinsten gemeinsamen Nenner – zu Lasten der Problemlösung.
Ausdruck davon ist Kompetenzwirrwarr, diffuse Verantwortlichkeiten, ein Wust an miteinander verschränkten Verhandlungsarenen und eine intransparente föderale Finanzverflechtung, die zudem falsche Anreize setzt. Kurz: Alle für alles zuständig und niemand für irgendetwas verantwortlich. 

Die Politik hat das Problem durchaus erkannt und sich in zwei Föderalismuskommissionen der zentralen Frage in jedem föderalen Staat angenommen: Wie verteilen wir die Zuständigkeiten zwischen den einzelnen staatlichen Ebenen und – damit auf engste verbunden – wie verteilen wir das Geld? Seit Bundestag und Bundesrat 2003 – vor 15 Jahren – die Föderalismuskommission I einsetzten, mühen sich Bund und Länder in immer neuen Aushandlungs- und Reformrunden in Beantwortung dieser Fragen um einen besseren Föderalismus. Nichts ist so häufig am Grundgesetz geändert worden, wie jene Artikel, die die Beziehungen zwischen Bund und Ländern ausbuchstabieren. Auch aktuell berät der Bundestag über eine Grundgesetz-Novelle, die erneut in die föderale Ordnung eingreifen wird. 

Wie kann diese Ordnung besser werden, zeitgemäßer, zukunftsgerichteter? Es braucht dazu die Rückbesinnung auf alte und bewährte Grundsätze, die vielfach auch der Freiburger Schule entsprechen. 
Wie das Haftungsprinzip: Wer politisch handelt, muss dafür auch Verantwortung tragen. Erkennbar Verantwortung tragen. Das bedeutet konkret: Entscheidungs- und Finanzierungszuständigkeiten dürfen nicht zu weit auseinanderfallen. Wer für eine Sache zuständig ist, sollte auch für die dafür benötigten Mittel verantwortlich sein. Und die Verantwortung für die Finanzierung sollte in der Regel einhergehen mit der Möglichkeit, Art und Umfang der Aufgabe weitgehend selbst zu bestimmen. 
Wo das nicht der Fall ist, werden Anreize möglicherweise falsch gesetzt. Die Ökonomen sprechen von Moral Hazard. Wenn derjenige, der die Ausgaben gestaltet, nicht auch die Verantwortung für deren Finanzierung hat, dann besteht die Gefahr, dass mehr ausgegeben wird als notwendig. Dann besteht die Gefahr, dass Steuergelder nicht wirtschaftlich eingesetzt werden. 
Mehr Gestaltungsrechte bei den Einnahmen und Ausgaben: Das braucht es gerade in den Kommunen. Man muss gelegentlich daran erinnern: Staatsorganisatorisch sind Kommunen Teil der Länder. Diese tragen die prioritäre Verantwortung für eine angemessene Finanzausstattung ihrer Kommunen. Auch deshalb bekommen sie über 50 Prozent des Steuerauf-kommens in Deutschland.
Ich bin seit langem der Auffassung: Auf der Einnahmeseite sollte Kommunen, auch den Ländern, das Recht eingeräumt werden, in begrenztem Umfang Hebesätze etwa auf die Einkommensteuer und Körperschaftsteuer einzuführen. Ein solches System würde die Eigenverantwortung von Kommunen und Ländern stärken und ihr Handeln verändern. Mehr Eigenverantwortung setzt Anreize für eine höhere Wirtschaftlichkeit des Verwaltungshandels. Und die Beziehung der Bürgerinnen und Bürger zu Kommune und Staat könnte stärker werden – ähnlich wie bei den Grund- und Gewerbesteuerpflichtigen in den Gemeinden. 
Zur eigenverantwortlichen Steuerung der Ausgaben sollten Kommunen und Ländern mehr Gestaltungsmöglichkeiten durch flexible gesetzliche Standards eingeräumt werden. Ein Dauerthema. Natürlich: Standards sind notwendig. Aber es sollte immer wieder geprüft werden, ob starre Vorgaben durch Korridore ersetzt werden können, ob Abweichungsrechte der Länder von bundesgesetzlichen Vorgaben ausgeweitet werden können.
Vorschläge gibt es: Ein immer wieder genannter Ansatzpunkt für mehr Entscheidungskompetenzen von Ländern und Kommunen könnte in der flexibleren Umsetzung von Vorgaben aus dem Bundesrecht im Sozialbereich liegen – stärker angepasst an die jeweiligen Bedingungen vor Ort. Also den Ländern mehr Möglichkeiten einzuräumen, für bestimmte soziale Leistungen das Anspruchsniveau selbst zu bestimmen. Das muss nicht deutschlandweit einheitlich sein.
Bei der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern ab 2020 habe ich dafür geworben, die Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmenverteilung zwischen den föderalen Ebenen grundsätzlich zu überprüfen. Länder brauchen einen eigenständig wahrzunehmenden Verantwortungsbereich, wenn sich ihre Rolle nicht im Abnicken und Abarbeiten erschöpfen soll. 
Aber: Die Mehrheit der Länder wollte davon nichts hören. Sie wollten keine zusätzlichen Gestaltungskompetenzen, die natürlich mit einem Mehr an Verantwortung einhergehen. Stattdessen bevorzugten die Länder am Ende nur das: Einen erheblichen Zuwachs an Bundesmitteln. Und die Verlagerung der Verantwortung für die finanzschwächeren Länder auf den Bund. Der solidarische Ausgleich der Länder untereinander, der in der Architektur unserer föderalen Finanzordnung eine zentrale Rolle gespielt hat, findet nicht mehr statt. Die Umverteilung wird zur Sache des Bundes. Der Preis dafür ist hoch: Mehr Einmischung des Bundes in die Angelegenheiten der Länder. Schließlich ist der Bundestag als Haushaltsgesetzgeber rechtlich verpflichtet, die ordnungsgemäße Verwendung seiner Mittel zu kontrollieren. Das ist gemeint, wenn vom „goldenen Zügel“ die Rede ist. Die Länder haben aus „ihrem Eigenen“ weiter abgegeben – mit dem Ergebnis: weniger Gestaltungsmacht, weniger Verantwortung. 
Diesem Muster folgt nach meiner Einschätzung auch das aktuelle Vorhaben mehrerer Grundgesetzänderungen in den Bereichen Bildung, Wohnungsbau und Verkehrsfinanzierung, die derzeit im Parlament beraten werden. Die Mittel des Bundes werden ausgeweitet – zugunsten dringend notwendiger Investitionen. Zugleich werden die Rechte des Bundes zu Lasten der Verantwortung der Länder gestärkt. Das ist einerseits richtig. Weil damit das ordnungspolitische Prinzip umgesetzt wird: Wer das Geld zur Verfügung stellt, soll auch über seine Verwendung entscheiden. Andererseits geht das auf Kosten einer klaren föderalen Kompetenz-abgrenzung und der Eigenverantwortlichkeit der politischen Ebenen. Sprich: zu Lasten der Übernahme von Verantwortung. Und in der Folge: Zu Lasten der Gemeinschaft. 

Das zweite Prinzip, dem wir wieder mehr Geltung verschaffen müssen, ist der Wettbewerb. Föderalismus ohne Wettbewerb macht keinen Sinn. Föderalismus heißt Wettbewerb. Deswegen darf der Begriff des Wettbewerbsföderalismus auch nicht als Schimpfwort aufgefasst werden –was leider zu oft geschieht. 
Erst der Wettbewerb zwischen den Ländern zeigt, was die bessere Lösung ist, welche Politik das Vertrauen der Bürger eher rechtfertigt als andere. Natürlich darf der Wettbewerb nicht rücksichtslos sein, und er muss mit der eben beschriebenen Verantwortung für das politische Handeln einhergehen. Ob es fair ist, dass ein Bundesland die Kita-Gebühren abschafft, obwohl es selbst auf Finanzhilfe anderer angewiesen ist, die sich solche Großzügigkeiten nicht erlauben, darüber wird man streiten dürfen. Wir brauchen die richtige Balance zwischen Solidarität und Wettbewerb, zwischen Kooperation und Eigenverantwortlichkeit. 
Dazu müssen wir für uns die wesentlichen Fragen beantworten: Sehen wir Unterschiede grundsätzlich als einen Vorteil, als Bereicherung an - oder setzen wir im Zweifel lieber auf Einheitlichkeit? Wollen wir alle an allem beteiligen, alle für alles zuständig sein, oder wollen wir, dass jeder in eigener Verantwortung seinen Bereich auch gestalten kann? Letzten Endes: Wollen wir einen echten Gestaltungsföderalismus oder einen kooperativen Zentralstaat im föderativen verfassungsrechtlichen Gewand?
Noch einmal: Ich werbe dafür, bei unseren Bemühungen, den föderalen Staat zu reformieren, nicht nur Finanzmassen hin und her zu schieben, sondern darüber nachzudenken, wie wir die Aufgaben möglichst optimal zuordnen können. Bund und Länder müssen sich darüber verständigen, ob sie zu einer grundsätzlichen Weiterentwicklung des gelebten Föderalismus bereit sind, oder ob sie im Wesentlichen nur innerstaatliche Finanzströme nachjustieren wollen.
Prinzipien lassen sich nie ganz rein verwirklichen, auch nicht die von mir beschriebenen föderalen Ordnungsprinzipien, die in abstracto ja weitgehend akzeptiert sind. Aber indem wir sie immer wieder neu diskutieren, besteht die Möglichkeit, sich ihnen immer wieder stärker anzunähern.

Damit sind im Übrigen auch Grundfragen zur Fortentwicklung der Europäischen Union berührt, also unser Subsidaritäts-Verständnis in Europa. Auch hier ringen wir um pragmatische Vorschläge und Konzepte, wie das europäische Projekt dauerhaft effizienter aufgestellt werden kann. Um Legitimation zurückzugewinnen. Damit Europa funktioniert, ohne in Bürokratismus zu versinken. Auch hier gilt: Wir verbessern die Legitimität der europäischen Entscheidungen nur im richtigen Austarieren der Kompetenzen zwischen den Entscheidungsebenen. 
Das heißt zum einen: Entscheidungen müssen auf der niedrigstmöglichen Ebene getroffen werden – und sie müssen dort demokratisch legitimiert und rechtlich kontrolliert oder eingehegt werden. Der Versuch, alle in Europa relevanten Entscheidungen auf europäischer Ebene durch siebenundzwanzig europäische Regierungen und Parlamente zu treffen, wird am Ende nicht zielführend sein. Vielmehr sollen nationale Belange bei den nationalen Parlamenten verbleiben und, wo möglich, können Kompetenzen sogar auf regionaler oder kommunaler Ebene angesiedelt werden.
Das heißt zum anderen: Wir werden einen Teil unserer Entscheidungen auf europäischer Ebene treffen, dann aber auch der europäischen Ebene Vollzugszuständigkeiten zugestehen müssen. Es kann nicht sein, dass man dort alles regelt, dann aber den Vollzug dieser Regelungen den Mitgliedstaaten überlässt – auch weil die Regelungen inzwischen höchstkompliziert sind. 
Mir erscheint deshalb evident, dass wir in unserer föderalen Debatte für Europa stärker über das Föderalismusmodell nach amerikanischem oder schweizerischem Vorbild nachdenken sollten. Unser deutsches Modell eignet sich jedenfalls nach meiner Überzeugung für die europäische Einigung nicht unbedingt. 

Die eine große, die perfekte Lösung gibt es nicht. Sie gibt es nicht in Europa, und sie gibt es auch nicht beim bundesdeutschen Föderalismus. Aber hier wie da dürfen wir nicht zulassen, dass unsere Ordnungen durch unseren Hang zur Perfektion so erstarren, dass wir sie gar nicht mehr reformieren können. Zumal alle Institutionen – wie in menschlichen Systemen immer – nach einigen Jahrzehnten erschöpft sind. 70 Jahre sind eine lange Zeit. Deshalb müssen wir uns immer um neue Dynamik bemühen. Für die Fortentwicklung des Verhältnisses von Bund, Ländern und Kommunen heißt das: Sich schrittweise dem eigentlichen föderalen Prinzip wieder anzunähern, mindestens das muss möglich sein. Und dazu braucht es Ideen jenseits des besonderen juristischen Perfektionismus, mit dem wir Deutschen bisweilen Regeln von vornherein so lesen, dass wir glauben, sie nicht mehr verändern zu können.

Ja: Die föderale Staatsstruktur ist als ein unabänderliches Prinzip im Grundgesetz festgeschrieben. Aber Föderalismus ist kein starres Konstrukt. Er muss politisch ausgestaltet und immer wieder neu justiert und austariert werden. Der Verlauf von zwei Föderalismuskommissionen hat gezeigt, dass daran nicht punktuell, sondern mit Geduld gearbeitet werden muss, wenn unsere föderale Ordnung nicht dauerhaft in eine Schieflage geraten soll. Damit unser föderales System in der Lage ist, die jeweils aktuellen Herausforderungen – die nicht zuletzt die Globalisierung und Europäisierung stellen – meistern zu können. 

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