18.10.2018 | Parlament

Ansprache von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble bei der Einweihung des Porträts von Bundestagspräsident a. D. Wolfgang Thierse in Berlin

Es ist eine schöne Koinzidenz, dass Ihr Porträt, Herr Thierse, ab heute hier im Paul-Löbe-Haus hängt. Denn Sie und den Namensgeber des Hauses verbindet viel: gebürtige Schlesier, gelernte Schriftsetzer, überzeugte Sozialdemokraten, langjährige Präsidenten gesamtdeutscher Parlamente. 
Und: Sie beide haben parlamentarische Aufbrüche und politische Neuanfänge miterlebt und mitgeprägt: Paul Löbe als Vizepräsident der verfassungsgebenden Weimarer Nationalversammlung und als Mitglied des Parlamentarischen Rates. Sie als Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR – zuletzt als Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion. 
Diese Volkskammer schrieb keine neue Verfassung, aber Geschichte: Sie wickelte einen Staat ab und ließ ihre eigene Existenz als demokratisch gewählte Volksvertretung aufgehen im gemeinsamen Deutschen Bundestag. Von einem „Anlass zu staunender Freude“ haben Sie in Ihrer ersten Rede als Bundestagsmitglied am 4. Oktober 1990 gesprochen.

Wir stehen hier in einem Haus, dass es ohne die weitsichtige Entscheidung des Bundestages vom 20. Juni 1991 nicht gegeben hätte. Wolfgang Thierse hat in dieser denkwürdigen Debatte als erster Redner der Pro-Berlin-Fraktion ein leidenschaftliches Plädoyer für den Umzug gehalten. Und er hatte recht! – Was auch ich damals ahnte. Am Ende haben wir die Mehrheit – wenn auch nur eine knappe – überzeugt. Inzwischen fällt es selbst früheren Skeptikern schwer, sich Parlament und Regierung überhaupt woanders vorzustellen.

Dass Sie, Herr Thierse, nur einige Jahre später den neuen Bundestag in Berlin als Hausherr beziehen würden, konnten Sie damals nicht ahnen. Der Umzug vom Rhein an die Spree war eine organisatorische und administrative Mammutaufgabe gleich zu Beginn Ihrer ersten Amtszeit – und eine Mammutleistung! 
Wir werden in Kürze aus Anlass Ihres Geburtstages Gelegenheit haben, an die aufregenden Zeiten Ihres politischen Wirkens zu erinnern und Ihre Verdienste um unsere parlamentarische Demokratie zu würdigen. 

Ich möchte an dieser Stelle vor allem den Kulturpolitiker Wolfgang Thierse nennen, der sich in den teils hitzigen Debatten um Kunst und Gedenkkultur nicht nur von Amtswegen zu Wort meldete und engagiert Partei ergriff: für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, für das Mauermahnmal im Deutschen Bundestag, für das Freiheits- und Einheitsdenkmal, auch für Hans Haackes umstrittenes Kunstwerk „Der Bevölkerung“. 
Nicht zuletzt: für eine differenzierte Sicht auf Kunst aus Ostdeutschland. Manche erinnern sich noch daran: Im Zuge der künstlerischen Ausgestaltung des Reichstagsgebäudes entbrannte über die Entscheidung des Kunstbeirates für Bernhard Heisig ein Streit um ostdeutsche Kunst und ihren Stellenwert. Sie, Herr Thierse, haben damals mit Nachdruck darauf bestanden, dass Kunst aus der DDR nicht gleich DDR-Kunst sei. Ein kleiner sprachlicher Unterschied – aber von großer Bedeutung. Ihr Engagement galt auch hier einem deutsch-deutschen Zusammenwachsen, das statt auf Pauschalurteile und Arroganz auf gegenseitige Neugier, Empathie und Akzeptanz der unterschiedlichen, vielschichtigen Lebenserfahrungen setzt. 

Der Kunstbeirat unter Ihrem Vorsitz hat sich als besonders sensibel in dieser Sache erwiesen: Dass ostdeutsche Kunst im Bundestag unterrepräsentiert oder fehlbewertet wäre, lässt sich jedenfalls schwerlich behaupteten. Ganz besonders nicht in dieser Galerie. Die Neuzugänge nach der deutschen Einheit deuten jedenfalls eine interessante Präferenz für Maler mit ostdeutscher Biographie an, die noch dazu Bernhard Heisig in besonderer Weise verbunden sind.
Das gilt für das Porträt von Rita Süssmuth, das von Lutz Friedel, einem Heisig-Schüler, geschaffen wurde. Und das gilt erst recht für das Bildnis Wolfgang Thierses: Es stammt von Johannes Heisig. Für den Deutschen Bundestag hat er bereits einen anderen bedeutenden Parlamentarier und Sozialdemokraten porträtiert: Carlo Schmid. Seien Sie uns, Herr Heisig, besonders willkommen. Herr Thierse wird uns gleich skizzieren, weshalb er sich für Sie entschieden hat und was er an Ihrer Kunst besonders schätzt. 

Lieber Herr Thierse, Sie haben Kunstwerke einmal „als verschlüsselte Botschaften widerborstiger Wahrnehmungen und Gefühle, als Medien kritischer Kommunikation [...] oder einfach als überzeugend gestaltete Menschlichkeit in ihrer ganzen Schönheit“ bezeichnet. Ob Sie Ihre eigenes Porträt in dieser Weise wahrnehmen, weiß ich nicht. Ich freue mich jedenfalls über ein weiteres Stück zeitgenössischer Kunst, das der Bundestag ab heute sein eigen nennen darf und mit dem Sie als elfter Präsident dieses Hohen Hauses gewürdigt werden.

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