Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble am „Tag der deutschen Einheit“ in Berlin
28 Jahre sind in der Geschichte einer Nation keine lange Zeit. Im Leben von Menschen schon.
Nicht nur die Teilung, auch die Einheitsjahre haben Spuren hinterlassen. Im Privaten und beruflich. Dazu gehören erfüllte Wünsche und realisierte Träume, genauso wie erlittene Enttäuschungen, durch den Verlust von Arbeit, von Heimat, von Vertrauen, in sich und in andere. Aber doch vor allem: Viele neue Lebenswege. Gelungene und verschlungene.
Die Perspektive ist verschieden, in Ost und West, bei jung oder alt, in der Stadt oder in ländlichen Regionen, von Optimisten und Pessimisten. Jede Erfahrung hat ihren Wert. Und aus all diesen Geschichten setzt sich die Deutsche Einheit zusammen. Ein vielfältiges Bild – facettenreich und widersprüchlich.
Mit dem 3. Oktober 1990 vollendeten wir die staatliche Einheit. Einigkeit darüber, was uns verbindet: Das müssen wir immer wieder aufs Neue herstellen.
Wissen wir es heute?
Der 3. Oktober ist ein Anlass zum Feiern: das Glück der Einheit, unsere Freiheit, den Rechtsstaat – die Grundlagen unserer Demokratie. Und uns daran zu erinnern: Nichts davon ist voraussetzungslos. Nichts selbstverständlich.
Am 3. Oktober wurde in Deutschland bereits früher Geschichte geschrieben.
Demokratiegeschichte.
Heute vor 100 Jahren, am 3. Oktober 1918, wurde unter Max von Baden eine Regierung gebildet, die nicht weiter allein dem Kaiser verantwortlich, sondern auf das Vertrauen der Reichstagsmehrheit angewiesen war.
Auf die Volksvertretung.
Zum Feiern war damals niemandem zumute, im vierten Jahr eines sinnlosen Krieges. Und der Erfolg der Parlamentarier war teuer erkauft: Sie mussten alleine die Verantwortung für die militärische Niederlage übernehmen – eine verhängnisvolle Bürde.
Der 3. Oktober 1918 ist kaum noch in Erinnerung, weil er kurz darauf von der Geschichte überholt wurde – als Philipp Scheidemann am 9. November vom Fenster des Reichstages die Republik ausrief.
Ein deutscher Schicksalstag und der Beginn einer neuen Epoche. Geprägt vom demokratischen Aufbruch – überall in Europa, auch in den internationalen Beziehungen.
Einige unserer europäischen Partner erinnern 2018 an den 100. Jahrestag ihrer nationalen Unabhängigkeit und politischen Freiheit – darunter die Polen.
Ihr Beitrag zur Friedlichen Revolution 1989 und zum Fall des Eisernen Vorhangs bleibt unvergessen, wie der all der anderen ost- und mittelosteuropäischen Nachbarn. Auch deshalb dürfen wir, bei allen Meinungsunterschieden, die größte Errungenschaft der europäischen Einigung nie gefährden: die Überwindung der Teilung Europas!
Allerdings gab es bereits Mitte der dreißiger Jahre die meisten der jungen Demokratien nicht mehr. Vielerorts folgte der Absturz: in autoritäre Regime, in Diktaturen, nicht nur in Deutschland.
In der Rückschau sehen wir klarer, was damals hätte sein können, sein sollen. Vor allem wissen wir, was wurde – mit entsetzlichen Folgen.
Das alles ist heute Geschichte, aber es ist unsere Geschichte. Ein schicksalhaftes Band, das uns als Nation verbindet. Ein Teil unserer Identität. Unser Land wurde, was es heute ist, weil es den Mut fand, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Das war nie bequem. Aber wir hatten den Willen und die Kraft dazu. Das schuf international Vertrauen – und ermöglichte uns das Glück der „zweiten Chance“.
So hat der Historiker Fritz Stern das Geschenk der Wiedervereinigung bezeichnet, der als Zwölfjähriger wegen seiner jüdischen Abstammung aus Breslau fliehen musste.
Eine „zweite Chance“!
Ihr sind wir verpflichtet. Deshalb bleiben wir sensibel gegenüber jedem Versuch, sich aus der historischen Verantwortung zu stehlen.
Oder die freiheitliche Demokratie in Frage zu stellen:
Sie ist fragil und anspruchsvoll. Aber auf ihr gründet der Erfolg unseres Landes, um den uns in der Welt so viele beneiden.
Das ist kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Denn nichts ist gesichert – den Willen, diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben, müssen wir stets neu aufbringen. Gemeinsam.
Freiheitliche Demokratie: Das bedeutet für jeden von uns Freiheit zur Mitbestimmung – und bei den unveräußerlichen Grundrechten Freiheit von Fremdbestimmung!
Sie gründet auf Gewaltverzicht, auf Meinungsvielfalt, Toleranz, gegenseitigem Respekt.
Die Mehrheit regiert. Aber der Mehrheitswille ist begrenzt durch die Prinzipien von Gewaltenteilung und Minderheitenschutz.
Das ist der Kern dessen, was uns in der westlichen Staatengemeinschaft verbindet.
Verbinden sollte.
Denn wir spüren, dass alte Gewissheiten wanken. Als hätten wir den Blick für die Verbindung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verloren.
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus – die Gesetzgebung und ihre Andwendung, die Rechtsprechung. Ein sensibles Verhältnis.
Beide muss das Volk nachvollziehen können.
Recht und Gerechtigkeit stehen in einem Spannungsverhältnis. Das haben im inneren Einigungsprozess viele schmerzhaft erfahren, bei der Klärung von Eigentumsfragen, bei der Aufarbeitung begangenen Unrechts, beim Ausgleich erlittenen Leids.
Und auch heute wird unser Rechtsempfinden immer wieder auf die Probe gestellt. Gefühle sind aber nicht justiziabel.
Das Recht schützt den Schwächeren. Und der Rechtsstaat hat die Pflicht, das durchzusetzen. Das verlangt Respekt vor seinen Institutionen und Achtung vor dem staatlichen Gewaltmonopol. Wer immer daran rüttelt, legt Hand an unsere Ordnung.
Mehrheit sichert noch keine Freiheit. Das sieht man überall dort, wo die Demokratie gegen den Rechtsstaat ausgespielt wird – auf Kosten der Rechte, die den Einzelnen vor der Mehrheit schützen. Und vor staatlicher Willkür. Dann heißt es „Das Wohl der Nation steht über dem Recht“.
Auch in Deutschland begegnet uns die populistische Anmaßung, ‚das‘ Volk in Stellung zu bringen: gegen politische Gegner, gegen vermeintliche und tatsächliche Minderheiten, gegen die vom Volk Gewählten.
Aber: Niemand hat das Recht zu behaupten, er allein vertrete ‚das‘ Volk. Der Souverän ist keine Einheit, sondern eine Vielheit widerstreitender Kräfte. So etwas wie ein Volkswille entsteht erst in der Debatte. Und nur durch Mehrheiten – die sich ändern können.
Demokratische Reife beweist deshalb eine Nation nur, wenn sie sich ihrer Fundamente sicher ist, die Vielheit annimmt und trotzdem zu gemeinsamen Handeln kommt: durch Kompromiss und für alle tragbare Entscheidungen, die allerdings nie auf Ewigkeit angelegt sind.
Verschiedenheit zu akzeptieren, die Vielfalt legitimer Interessen, Blickwinkel und Meinungen anzuerkennen und die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu erklären: Das ist der gedankliche Schlüssel, um ein Mehr an Gemeinsamkeit zu schaffen.
Ohne den Willen, einander zuzuhören, ohne den Versuch, den anderen und seine Argumente zu verstehen, geht es nicht.
Das wird schwieriger in einer Gesellschaft, die sich immer weiter individualisiert. In der das Streben nach dem Eigenem, dem Besonderen jedes Interesse für das Allgemeine übersteigt.
Die rasante Entwicklung digitaler Kommunikationsmittel verleiht uns neue Freiheiten. Wir sind mit der ganzen Welt verbunden – ohne oft noch unser Gegenüber wahrzunehmen. Wir erleben es an Bahnhöfen, im Fahrstuhl, auch am Esstisch, bis in die Familien hinein. Täglich.
Unter der unendlichen Fülle von Möglichkeiten schwindet die Verbindlichkeit. Freiheit kann überfordern, wir neigen zu Übertreibungen. Es braucht deshalb Selbstbeschränkung, Maß und Mitte. Der Mensch ist auf Bindungen angewiesen. Er lebt in gesellschaftlichen Beziehungen. Die Freiheit des Einen begrenzt die des Anderen.
Unsere Ordnung baut auf dem Versprechen, allen die gleiche soziale und politische Teilhabe zu gewähren. Deshalb ist die Sorge vor zunehmender gesellschaftlicher Spaltung so ernst. Wir reden von sozialen Rissen und von Lebenswelten, die kulturell kaum mehr zueinander finden.
Streit ist notwendig. Der demokratische Zusammenhalt beweist sich gerade im Konflikt. Aber Gefahr entsteht da, wo wir uns nichts mehr zu sagen haben. Demokratische Willensbildung basiert auf Wettbewerb, auf Austausch und Verständigung. Wo das nicht mehr stattfindet, wird die Legitimation von Politik infrage gestellt.
Unsere Gesellschaft ist heute bunter, unübersichtlicher. Das macht sie konfliktreicher und Regeln noch wichtiger – vor allem die Durchsetzung dieser Regeln!
Vielfalt ist nicht nur ein Wort, um die gesellschaftliche Realität zu benennen. Sie ist ein Wert. Der Neugier fordert, Interesse am anderen, Austausch – auch um ihr das Bedrohliche zu nehmen, das manche dabei empfinden. Sich für die Herkunft des anderen zu interessieren, heißt nicht, ihn darauf zu reduzieren. Aber die Herkunft darf nicht dazu missbraucht werden, um herabzusetzen und auszugrenzen. Da müssen wir entschieden einschreiten, mit rechtsstaatlicher Härte, wenn Hass geschürt und Aggression auf die Straße getragen wird – von wem auch immer.
Wo Vielfalt herrscht, wird die Frage nach dem Verbindenden wichtiger. Wie wir miteinander leben wollen und mit anderen umgehen: Das ist auch eine Frage der Erziehung. Im Familiären erleben wir das Glück menschlicher Bindungen – und dass die Wünsche und Belange der anderen auch belastend sein können.
Gemeinsinn lässt sich staatlich nicht erzwingen. Die Politik kann aber Anreize schaffen – und sie sollte sich der Frage stellen: Wie erhalten und wie schaffen wir neue Orte, Zeit und Gelegenheiten, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Lebenswelten begegnen können? Wo sie miteinander kooperieren müssen.
Denn es braucht Gemeinsinn.
Und es braucht Verständnis für die wachsende Komplexität, unserer eigenen Gesellschaft – und für die Komplexität der Welt.
In ihr hat sich das westliche, unser Gesellschaftsmodell zu bewähren. Andere drängen in der Welt nach vorne, wollen den Ton angeben. Sie versprechen Wachstum und Wohlstand – aber ohne Mitbestimmung und ohne den Schutz individueller Freiheiten.
Unsere Ordnung richtet sich am einzelnen Menschen aus, an seiner Freiheit, auch seiner Unvollkommenheit, und seiner Würde.
Das ist es, was uns verbindet.
Die offene Gesellschaft bewährt sich in ihrer Fähigkeit, Fehler zu erkennen, sie zuzugeben – und zu korrigieren. Um damit auf Veränderungen zu reagieren. Das haben wir vielfach bewiesen.
Wir haben deshalb Grund zum Selbstvertrauen. Und wir können diese Welt wirkungsvoll mit gestalten, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit bewahren – wenn wir es gemeinsam mit anderen tun.
Deshalb sind wir Deutschen auf ein handlungsfähiges Europa angewiesen – so wie die Europäische Union auf ein starkes Deutschland.
Die Nation kann die Vielschichtigkeit der Welt auf einen überschaubaren Rahmen reduzieren. Sie ist historisch gewachsen, wir fühlen uns ihr zugehörig. Ein vertrauter Zufluchtsort vor den alltäglich auf uns einstürzenden Veränderungen der Globalisierung. Darauf können wir nicht verzichten. Und wollen es auch nicht.
Die Begegnung mit der übrigen Welt bleibt uns dennoch nicht erspart.
Der Wohlstand, den wir mit unserer Leistungskraft und unserem Leistungswillen geschaffen haben, beruht auf dem freien Welthandel. Wir profitieren von der globalen Entwicklung – auch weil wir uns besser als andere auf die Anforderungen eingestellt haben.
Aber die Beschleunigung des Wandels stresst. In der Globalisierung machen wir alle Erfahrungen, wie sie für viele Ostdeutsche schon nach der Wende alltäglich waren. Das schafft Unbehagen.
Die Welt ist uns zudem politisch nahe gerückt, mit ihren Kriegen und Konflikten, dem Terror und den Folgen des Klimawandels. Mit der Zuwanderung verbinden sich wachsende Sorgen über ihre Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Uns die Welt vom Halse halten, das können wir in Zeiten der Globalisierung nicht.
Wir müssen stärker Verantwortung übernehmen. Das, was wir an Stabilität benötigen, aus unserem Wohlstand heraus den Regionen, die Europa umgeben, vermitteln. Gerade weil es uns so viel besser geht, müssen wir uns mehr engagieren, wirksam helfen, mehr Perspektiven ermöglichen. Nur so können wir dafür arbeiten, dass es uns in der Zukunft weiter gut geht.
Politik muss komplizierte Zusammenhänge verständlich machen – ohne einfache Lösungen vorzugeben, wo es keine gibt. Und sie muss der Versuchung zu bloßen Symboldebatten widerstehen. Sie werden der Fülle an Fragen nicht gerecht, die uns auch umtreiben: Wie sichern wir die Rente in einer alternden Gesellschaft? Wo finde ich noch eine bezahlbare Wohnung? Wer pflegt heute die Angehörigen und zukünftig auch mich selbst? Welche Chancen haben meine Kinder und Enkel in der digitalisierten Welt?
Sozialen Fliehkräften können wir politisch eher begegnen als der kulturell begründeten Polarisierung. Deshalb sollten wir nicht jedes Sachthema zur Wertefrage stilisieren.
Gewiss: Im demokratischen Streit ist die Auseinandersetzung zwischen Menschen mit verschiedenen Wertvorstellungen normal. Jeder muss sich deshalb gefallen lassen, dass seine Argumente immer auch am moralischen Anspruch gemessen werden. Aber die schnelle Verurteilung darf nicht die sachliche Diskussion verhindern.
Gesinnungsethik und Verantwortungsethik: Max Weber hat vor 100 Jahren Politik in diesem Spannungsverhältnis verortet. Ist das ethisch reine Motiv wichtiger als das Resultat des Handelns? Oder umgekehrt?
Unangenehme Fragen. Wir leben täglich damit.
Die Humanität verlangt von uns, Menschen zu helfen. Das ist christliches Abendland. Das verbindet uns. Es ist der Kern des Sozialstaatsprinzips. Das gilt für Bürger in persönlichen Notlagen. Und es gilt für Menschen, die bei uns Schutz suchen.
Unsere Möglichkeiten sind aber begrenzt.
Weil wir das Recht auf Asyl wahren wollen, müssen wir Migranten, die aus anderen Motiven zu uns kommen, sagen: Das geht nur soweit, wie es für die gesellschaftliche Stabilität zu verantworten ist – und für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes notwendig.
Wir müssen Menschen vor dem Ertrinken retten – und wollen doch gleichzeitig den kriminellen Menschenschmuggel über das Mittelmeer unterbinden.
Wir geraten ständig in ein Dilemma.
Das müssen wir als Gesellschaft aushalten – und jeder von uns einen inneren Kompromiss finden. Um Wirklichkeit und Ideal zusammenzubringen.
Nur so erhalten wir uns politische Gestaltungsfähigkeit.
Das ist keine Anleitung zum Zynismus – und keine Lizenz für unmoralisches Handeln. Im Gegenteil: Ohne Haltung geht es nicht, einen klaren Standpunkt, an dem wir uns orientieren und unser Handeln ausrichten.
Aber wir sollten auch wieder lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen. So ist der Mensch, so ist die menschliche Gesellschaft. Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur.
Es braucht mehr Gelassenheit.
Politik muss nicht immer schnelle, vor allem eindeutige Antworten haben. Sie sollte ehrlich eingestehen, dass sie nicht alle Widersprüche auflösen kann. Um unerfüllbaren Erwartungen vorzubauen, aus denen Enttäuschung wächst.
Das ist aber kein Freibrief dafür, nichts zu tun.
Wir sind es gewohnt, unsere Gegenwart als Krise zu beschreiben. Das ist nicht falsch. Die Erfahrung lehrt ja, dass wir uns in Krisen eher bewegen.
Aber statt nur darüber zu reden, was es abzuwehren gilt, was wir verlieren könnten, sollten wir auch auf Gestaltungschancen blicken. Darauf, was wir erreichen wollen!
Statt das Unbehagen an der Moderne zu pflegen, sollten wir unseren Horizont erweitern. So lässt sich Zukunft gestalten.
Sie ist offen, unvorhersehbar. Wir wissen nicht was kommt – die Bürgerinnen und Bürger, die 1989 auf die Straße gingen, wussten es auch nicht. Niemand hat ernsthaft vorausgesehen, dass am 9. November die Mauer fällt. Und wer hätte in dieser Nacht ahnen können, dass es gelingt, binnen eines Jahres die staatliche Einheit zu erreichen?
Aber die Chance dazu, die haben wir Deutschen ergriffen!
Sind wir uns eigentlich unseres Glücks bewusst? Niemals in unserer Geschichte haben wir Deutsche über eine so lange Zeit in Frieden, Freiheit und – zumindest statistisch – in wachsendem Wohlstand gelebt.
Und welche Schlüsse ziehen wir daraus?
Obwohl es unserem Land gegenwärtig objektiv so gut geht wie nie zuvor und die meisten Menschen dies auch so sehen, beherrscht viele die Angst, unseren Kindern und Enkeln werde es schlechter gehen. Dominiert Zukunftspessimismus.
Der ökonomische Erfolg verleiht kein Selbstbewusstsein, sondern scheint eher Abstiegs- und Verlustängste zu provozieren. Es wird von einer Sehnsucht nach permanenter Gegenwart gesprochen – weil das, was kommt, nur noch schlimmer werden könne.
Dieses Misstrauen in die Zukunft ist ein Mangel an Vertrauen in unser Handlungsvermögen. Dabei sind wir in der Lage, gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen. Erfolgreich. Wir sprechen nur zu wenig darüber und sind erstaunt, wenn uns Wissenschaftler erläutern, dass die absolute Armut in der Welt auf dem Rückzug ist und viele Krankheiten heute ausgerottet sind. Dass die Lebenserwartung, der Bildungsgrad und der Lebensstandard wachsen.
Keine dieser Entwicklungen ist über uns gekommen, nichts geschieht einfach so. Alles verdankt sich Entscheidungen, die Menschen getroffen haben. Fortschrittsoptimismus blendet nicht aus, dass es Veränderungsbedarf gibt. Aber er versagt sich dem lähmenden Gefühl, nichts bewirken zu können.
Diese Zuversicht braucht es. Die Fähigkeit, an das Gelingen zu glauben. Den Mut, sich den Zukunftsaufgaben zu stellen. Und den Respekt vor denen, die anpacken.
Der Weg ist mühsam. Das war er schon nach dem 3. Oktober 1990. Nach 1945 oder vor 100 Jahren war er gewiss schwerer. Aber die Menschen haben nicht resigniert.
Die Zukunft ist offen. Aber den Zusammenhalt in der offenen Gesellschaft: Den dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Wenn es uns gelingt, individuelle Freiheit und Gemeinsinn zu verbinden, dann geht es diesem Land weiterhin gut – dann geht es uns gut.
Selbstvertrauen – Gelassenheit – Zuversicht: Sie bilden den Dreiklang eines zeitgemäßen Patriotismus. Eines Patriotismus für eine – im Wortsinne – selbst-bewusste Nation. Um das beste Deutschland, in dem wir das Glück haben zu leben, noch besser zu machen.
Ich wünsche uns allen einen schönen, einen guten „Tag der deutschen Einheit“ – hier in Berlin und überall, wo heute Menschen zusammenkommen, um unser wunderbares Land zu feiern.