Einleitende Worte von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble vor Eintritt in die Tagesordnung
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
am vergangenen Freitag hat ein Mitglied dieses Hauses, nachdem ihm von der amtierenden Präsidentin das Wort erteilt worden war, versucht, aus Anlass des fürchterlichen Mordes an einem 14-jährigen Mädchen durch demonstratives Schweigen eine Art Schweigeminute herbeizuführen.
Nach unserer Geschäftsordnung wird Abgeordneten das Wort erteilt, damit sie zur Sache sprechen können. Die Worterteilung bedeutet nicht, dass der Abgeordnete, dem das Wort erteilt wurde, über seine Redezeit frei verfügen darf; er ist auf Wortbeiträge beschränkt. Unabhängig davon liegt es in der Kompetenz des Präsidenten, über Schweigeminuten und Gedenkworte im Plenum zu entscheiden, denn er vertritt nach § 7 Abs. 1 der Geschäftsordnung den Deutschen Bundestag. Präsidium oder Ältestenrat sind die Gremien für entsprechende Anregungen von Seiten der Fraktionen. Ein einzelner Abgeordneter darf den Bundestag nicht durch einen eigenmächtigen Aufruf zu einer Schweigeminute für seine Zwecke vereinnahmen. Auch nicht eine einzelne Fraktion
Entsprechend hat die amtierende Präsidentin, die Kollegin Claudia Roth, am vergangenen Freitag den Abgeordneten wiederholt zur Sache gerufen und – nachdem er dem nicht gefolgt ist – ihn aufgefordert, das Rednerpult zu verlassen.
Unmittelbar nach dem Vorfall im Plenarsaal wurde auf den Seiten der AfD-Fraktion in einem sozialen Netzwerk, in dessen Impressum die Kollegin Dr. Weidel und der Kollege Dr. Gauland aufgeführt werden, ein Video des Vorgangs veröffentlicht und mit folgenden Worten kommentiert:
„+++Ansehen und teilen - entlarvende Reaktionen seitens Claudia Roth und der anderen Fraktionen!+++
Soeben nutzte die AfD-Fraktion die Gelegenheit, der in Wiesbaden von einem abgelehnten Asylbewerber getöteten Susanna (14) im Bundestag zu gedenken. Lediglich die AfD-Fraktion beteiligte sich hieran. Sitzungspräsidentin Claudia Roth ignorierte die Schweigeminute und verwies Thomas Seitz (AfD) vom Rednerpult.“
In der Folge wurde Frau Vizepräsidentin Roth in dem sozialen Netzwerk in zahllosen Kommentaren, in Emails und telefonischen Anrufen verleumdet, beleidigt und bedroht, zum Teil auf eine Weise, die mich veranlasst hat, polizeiliche Schutzmaßnahmen für sie prüfen zu lassen.
Die Inszenierung vom vergangenen Freitag hatte nicht nur die beschriebenen Persönlichkeitsverletzungen zur Folge. Sie betrifft auch das Verfassungsorgan Deutscher Bundestag. Mit dessen Würde ist es nicht vereinbar, wenn auch nur der Anschein der Instrumentalisierung der Opfer von Verbrechen entsteht.
In meiner Rede zur konstituierenden Sitzung des Bundestages habe ich gesagt, dass wir als Abgeordnete des ganzen Volkes im Sinne von Artikel 38 Grundgesetz eine Vielzahl von Interessen, Meinungen, Befindlichkeiten mit den Begrenztheiten und der Endlichkeit der Realität zusammenbringen. Da ist Streit nicht nur erlaubt; es geht nur über Streit. Den müssen wir führen, und den müssen wir aushalten, ertragen. Demokratischer Streit ist notwendig, auch leidenschaftlicher und auch polemischer Streit. Aber es ist ein Streit nach Regeln, und er ist mit der Bereitschaft verbunden, die demokratischen Verfahren zu achten.
Es gehört zu unserer Verantwortung, dass wir aus der Erfahrung unserer Geschichte lernen, wie leicht verantwortungsloser Streit zu Hass und einer Eskalation von Gewalt führen kann. Was wir hier sagen und wie wir uns verhalten, hat Folgen auch für die öffentliche Debatte in unserer Gesellschaft. Es kann vorbildlich sein für eine zivilisierte Auseinandersetzung. Es kann aber auch Anlass sein für Hass und Hetze, für Verrohung bis hin zu schlimmsten Formen von Gewalt.
Wir müssen Maß halten, um unser politisches und gesellschaftliches Klima nicht zu vergiften. Zum Wohle des deutschen Volkes, das zu vertreten wir beauftragt sind.