16.05.2018 | Parlament

Impulsvortrag von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zum Thema „Demokratische Öffentlichkeit in Zeiten des Umbruchs“

Es gilt das gesprochene Wort

Die Staatsgalerie ist als Ort für diese Tagung gut gewählt. Ich denke vor allem an ein Gemälde aus der hiesigen Sammlung. Das ist derzeit zwar nicht ausgestellt, aber es korrespondiert mit einem medialen Bild, das von Ihnen, Herr Kretschmann, als erstem grünen Ministerpräsidenten gerne gezeichnet wird. Das Gemälde stammt von Georg Baselitz aus dem Jahr 1967, vermutlich keinem unbedeutenden Jahr für Ihre Politisierung. Sein Titel lautet: „Ein Grüner zerrissen“.

Dem Anlass eines Geburtstags-Symposiums zu Ihren Ehren wäre natürlich ein Werk aus der Baselitz-Serie „Helden“ angemessener. Oder vielleicht: „Neue Typen“. Weitere Kommentare überlasse ich gerne Ihren Parteifreunden. Ich beschränke mich auf den Hinweis, dass das Werk zu den sogenannten Frakturbildern des Künstlers zählt. Denn damit sind wir mitten im Thema. Fragmentiert: Das ist auch unsere Gesellschaft und mit ihr das, was wir ‚die‘ Öffentlichkeit nennen.


Ich werde zu den politischen Herausforderungen, die sich damit verbinden, im Folgenden sieben Bemerkungen machen. Und beginne mit dem besonderen Faible Winfried Kretschmanns für das Denken Hannah Arendts. Das ist bekannt – spätestens nach Lektüre des Sammelbandes, der dieser Veranstaltung zugrunde liegt.

Mensch-Sein gibt es Hannah Arendt zufolge nur im Plural, und das gilt auch in Zeiten fortschreitender Individualisierung. Die pluralistisch-liberale Öffentlichkeit ist Voraussetzung für die offene Gesellschaft – so wie die öffentlich geführte Debatte schlechthin konstitutiv ist für die Bildung einer politischen Gemeinschaft. Die Demokratie lässt politische Vielfalt nicht nur zu, sondern ermöglicht sie erst. Anders ausgedrückt: Die politische Vielfalt einer Gesellschaft ist Ausweis ihrer Fähigkeit zur Demokratie.


Allerdings – zweite Bemerkung: Die postindustriellen Gesellschaften werden unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung immer heterogener, unübersichtlicher und konfliktreicher. Die Komplexität wächst. Soziale Kohärenz gerät zunehmend in Gefahr.

Mehr als jeder dritte Deutsche sieht einer Bertelsmann-Studie zufolge schon jetzt den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land gefährdet. Das ist kein deutsches Phänomen. Laut einer kürzlich veröffentlichten repräsentativen Untersuchung des IPSOS-Instituts in 27 Staaten ist das Empfinden, die eigene Gesellschaft sei gespalten, europaweit verbreitet. Die Gründe dafür sind jeweils andere. Gleich ist in allen Ländern aber die Klage über den Mangel an wechselseitiger Toleranz unter den Gesellschaftsgruppen.

Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht inzwischen von einem neuen Klassenbewusstsein. Das entwickle sich nicht mehr entlang von Besitz-verhältnissen, wie sie einst Karl Marx beschrieb – das andere bedeutende, unwesentlich ältere Geburtstagskind in diesem Monat.

Reckwitz zufolge erwächst das Klassenbewusstsein heute aus unterschiedlichen, maßgeblich kulturell bestimmten Lebensstilen. Die entscheidende Bruchstelle sei das Verhältnis zur globalen Welt: Ob man ihr mit Offenheit begegnet oder mit Furcht und Ablehnung.

Ähnlich spricht der US-amerikanische Philosoph Michael Sandel von unterschiedlichen, kaum mehr kompatiblen Lebenswelten: derjenigen am oberen und der am unteren Rand der Gesellschaft. Nicht zuletzt weil es immer weniger Orte gäbe, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Herkunft mischen. Es sei deshalb die wichtigste zivile Aufgabe unserer Zeit, Orte und Gelegenheiten zu schaffen, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Klassen der Gesellschaft begegnen können.

Auch Reckwitz fordert, das Allgemeine müsse neu austariert werden gegenüber dem Besonderen, nach dem viele heute streben. Aber wie, wenn sich ein gemeinsamer Erfahrungs- und Diskursraum in der „Gesellschaft der Singularitäten“ aufzulösen scheint?


Die Hoffnungen, die in dieser Hinsicht in die technologisch gestützten neuen Kommunikationsmöglichkeiten gesetzt wurden, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil. Sie sind längst der nüchternen Erkenntnis gewichen: Das Netz verschärft die Fragmentierung noch. Das ist meine dritte Bemerkung.

Für Herbert Riehl-Heyse war die Zeitung noch eine der letzten Klammern einer immer weiter auseinander driftenden Gesellschaft, in der sich schon die Orthopäden mit den Handchirurgen kaum noch ohne Dolmetscher verständigen könnten. Nur: Diese Klammer findet sich immer weniger in den Haushalten. Es ist ein Teufelskreis: Der Bedeutungsverlust der klassischen Medien gegenüber den Angeboten im Netz ist eine Folge zunehmender gesellschaftlicher Segmentierung – und er verschärft diese noch weiter.

Das hat Konsequenzen für die Öffentlichkeit: Traditionell bündelt sie innerhalb nationaler politischer Gemeinschaften die Aufmerksamkeit eines anonymen und zerstreuten Publikums für ausgewählte Mitteilungen – sagt Habermas. Er konstatiert, dass das Internet zwar einen Zuwachs an Egalitarismus beschert. Der sei jedoch teuer bezahlt: Mit dem Verlust an Kraft, „einen Fokus zu bilden.“ Fokussierung braucht es aber – angesichts der Fülle an Informationen, mit denen wir täglich konfrontiert sind, vermutlich sogar mehr denn je.

Die Realität ist auch hier komplex: In den sozialen Medien begeistert doch schon lange nicht mehr die Vielfalt an Meinungen, ausgebreitet in Blogs und Foren. Es beunruhigt stattdessen die Einfalt von Meinungsblasen, die abgeschotteten Welten Gleichgesinnter, die eigens geschaffen nur der Selbstbestätigung dienen. Fokussiert wird also: aber in geschlossenen Gruppen. Die dann nicht mehr miteinander kommunizieren – allenfalls mit einer in der Anonymität gewachsenen und inzwischen längst offen zur Schau gestellten Verrohung der Umgangsformen.

Demokratische Willensbildung braucht aber Kommunikation. Wo keine gemeinsame Kommunikation in einem öffentlichen Raum mehr stattfindet, wird die demokratische Legitimation infrage gestellt.


Vierte Bemerkung: Die Bereitschaft, die Vielfalt der legitimen Interessen und Blickwinkel anzuerkennen, mit denen wir es in unserer pluralen Gesellschaft unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung zu tun haben, ist der Schlüssel, um unsere politische Kultur in den Bahnen des Konstruktiven und Rationalen zu halten – Bahnen, von denen wir leicht abkommen könnten.

Der Ausgleich von Interessen geht in einer liberalen Demokratie nur über Streit, Streit nach Regeln. Den müssen wir öffentlich führen und ihn müssen wir als Gesellschaft aushalten. Wir sollten dabei wieder stärker lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen. Wir brauchen mehr Frustrationstoleranz. Mehr Demut. Das würde die Hitze, die Schärfe, das Konfrontative in unseren derzeitigen politischen Debatten mildern.

Den öffentlichen Diskurs empfinden heute viele als hohl, die politischen Debatten als verarmt: Das behauptet Michael Sandel, und er meint nicht nur die Debatten in seiner amerikanischen Heimat. Sandel diagnostiziert eine verbreitete Sehnsucht nach ethischen Fragen, vor allem über Gerechtigkeit. Um die demokratische Politik wiederzubeleben, müssten wir unseren Weg in einen stärker moralischen öffentlichen Diskurs lenken, fordert er. Einen Diskurs, der Pluralität zulasse, in dem er unsere moralischen Meinungsverschiedenheiten einbeziehe, statt sie zu vermeiden.

Dabei die Balance zu halten, ist eine Herausforderung.

Denn umgekehrt warnt etwa der Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof vor der Tendenz, die eigenen Interessen moralisch zu überhöhen. Für das angeblich allein ethisch Gebotene zu kämpfen, mache aus einem Interessengegensatz demokratischer Art einen Kampf zwischen richtig und falsch, der Guten gegen die Bösen. Mit der Folge, dass der Kompromiss kaum mehr möglich und vom Standpunkt des vermeintlich moralisch Erhabenen die Mehrheitsentscheidung nicht mehr anerkannt wird.

Es geht in der Politik nicht um Wahrheiten, und niemand vertritt alleine das Volk. Ein „Volkswille“ bildet sich überhaupt erst im politischen Diskurs. Und in den Entscheidungen, die durch Mehrheit getroffen werden. Deshalb nochmal: Der notwendige demokratische Streit braucht Regeln. Dazu gehört die Bereitschaft, das Gegenüber zu achten und die demokratischen Verfahren zu akzeptieren, das heißt vor allem: die am Ende zustande gekommenen Beschlüsse der Mehrheit.


Das führt mich zu Fünftens: Öffentliche Kommunikation, auch Interessenvertretung, ist verwirrend vielfältig. Und demokratische Mehrheitsbildung und Entscheidungsfindung sind ein komplizierter Prozess. Aber aus der unendlichen Vielfalt von Meinungen, Anschauungen und Interessen müssen wir am Ende zu Entscheidungen kommen – das ist das Ziel alles Politischen. Dazu brauchen wir Institutionen und Verfahren, die ein hinreichendes Maß an Fairness und Zukunftsverantwortung gewährleisten. Das geht nur mit Parlamenten.

Vor genau 100 Jahren, im Mai 1918, hat Max Weber seine einflussreiche Schrift „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“ publiziert. Damals ging es darum, die Volksvertretung gegenüber den Ansprüchen von Monarch und Bürokratie durchzusetzen. In einer veränderten Konstellation geht es auch heute wieder darum, sich über die Rolle des Parlaments im Willensbildungsprozess der Öffentlichkeit zu verständigen. Und hier gilt noch immer Webers Einschätzung, die der Politikwissenschaftler Marcus Llanque so zusammengefasst hat: „Ein Parlament ohne die Fähigkeit zur Führung wird in der Massendemokratie wirkungslos bleiben. Eine Massendemokratie ohne rational verfahrende Institutionen erliegt der Gefahr der unkontrollierten Demagogie.“

Politische Führung und damit verbunden: klare Verantwortlichkeiten sind deshalb für mich eine Bedingung eines gelingenden öffentlichen Diskurses in der repräsentativen Demokratie.

Da sind wir einer Meinung, Herr Kretschmann, wie ich einem Interview im aktuellen „Cicero“ entnommen habe. Zur Politik des „Gehörtwerdens“, sagen Sie darin, gehöre mit einem eigenen Vorschlag und einer eigenen Haltung in die Debatte zu gehen. Bei einem „kollektiven Brainstorming in der Republik“ würde zum Schluss sonst nur ein „allgemeines Quakkonzert“ ertönen.

Es ist natürlich nicht falsch, wenn sich demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen darum bemühen, das zu tun, was die Mehrheit möchte. Aber Politiker dürfen nicht nur sagen, was die Leute hören wollen. Es braucht den Willen, für das als richtig Erachtete einzutreten, das als richtig Erachtete zu erklären und zu überzeugen. Mehrheiten zu erringen. Das ist politische Führung, die Vertrauen stiftet und der Bevölkerung Zuversicht vermittelt.


Sechstens: Das Prinzip der Repräsentation steht erkennbar unter Druck. Es scheint nicht mehr hinreichend in der Lage, die Bürger zu erreichen.

Die Kritik richtet sich gegen vermeintlich abgehobene Eliten, auf die nicht ohne Grund populistische Bewegungen zielten. Der Vorwurf lautet: Kontrollverlust der Politik angesichts der Herausforderungen einer mit der Globalisierung komplexer werdenden Welt. Damit verbunden: Angst vor dem Verlust von Identität.

Gemeinsinn braucht es. Identität und Zugehörigkeit sind notwendige Voraussetzungen für die Akzeptanz des demokratischen Mehrheitsprinzips. Die Politik wird sich deshalb bewegen müssen.

Gerade weil der rasante gesellschaftliche Wandel die repräsentative Demokratie noch wichtiger macht, sollten wir dafür sorgen, dass sie wieder für mehr Bürger interessant wird, sie sich wirklich vertreten fühlen. Veränderungen, Anpassungen, Verbesserungen sind nötig. Und sie sind möglich.

In diesem Kontext sind die Rufe nach mehr Partizipation schon lange laut. Einerseits. Andererseits werden vorhandene Möglichkeiten für Bürger Einfluss zu nehmen und sich an Entscheidungen zu beteiligen nicht ausgeschöpft. Skepsis gegenüber plebiszitären Verfahren ist angebracht. Sie überwiegt auch in dem Sammelband zu dieser Tagung.

Es ist eben nicht so einfach mit der Bürgerbeteiligung. Die Erfahrung zeigt, dass das Bedürfnis, beteiligt zu werden, stärker ausgeprägt ist als die Bereitschaft, sich zu beteiligen. Wer mehr Beteiligung wünscht, muss sich deshalb entscheidenden Fragen stellen: Wie sollen sich die Ergebnisse solcher Beteiligungsverfahren im politischen Prozess wiederfinden? Wie lässt sich verhindern, dass die Beteiligung in den Verdacht einer ‚Alibi-Veranstaltung‘ gerät. Mit der Folge, dass sie bei denen, die sich eingebracht haben, noch mehr Enttäuschung produziert? Und wie steht es um Repräsentativität und Legitimität, die am Ende nur durch die Entscheidung gewählter Vertreter sichergestellt werden können?

Hier in Baden-Württemberg werden derzeit neue Formen der Bürgerbeteiligung probiert. Dazu gehört, nach dem Zufallsprinzip ausgesuchte Bürger einzubeziehen. Das führt nach den hiesigen Erfahrungen zu einer höheren Akzeptanz von Entscheidungen. Und es wirkt einem Phänomen entgegen, das wir bei Volksentscheiden sehen: Dass es gerade die gesellschaftlich einflussreichen Interessengruppen sind, die sich engagieren.

Ich finde die Ansätze der baden-württembergischen Landesregierung unter Ihrer Führung, Herr Kretschmann, interessant und wichtig. Wir werden darüber zu sprechen haben, wie mit der Bringschuld der Institutionen und der Holschuld der Bürger auch auf anderen politischen Ebenen umzugehen ist. Aber nochmal: Hier geht es um konsultative Beteiligung. Die Entscheidung liegt beim Parlament. Das hat mit einem wesentlichen Aspekt zu tun, der bei den Verfechtern direkter Demokratie stets unterbelichtet bleibt: Wer entscheidet, der haftet.

Verantwortung zu übernehmen für das, was man politisch vertritt und im besten Fall auch mehrheitlich durchsetzt, ist für das Vertrauen in den demokratischen Prozess grundlegend. Dass die Mehrheit für politische Entscheidungen einzustehen hat, unterscheidet die parlamentarische Demokratie vom Plebiszit. Denn wer haftet, wenn das Volk entscheidet?

Freiheit und Offenheit einer Gesellschaft beruhen auf der Voraussetzung, dass es allgemeingültige Entscheidungen für die Ewigkeit nicht gibt. Die offene Gesellschaft bewährt sich, wie Karl Popper lehrt, in der Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren, Fehler zu korrigieren, in „trial and error“. Die repräsentative Demokratie gewährleistet das noch immer am besten.


Letzte Bemerkung, eine optimistische: In der diagnostizierten „Krise des Allgemeinen“ liegt für mich eine Chance für das Prinzip der Repräsentation. Wenn das Parlament ein Ort der Bündelung ist, der Konzentration auf die wichtigen Fragen unserer gesellschaftlichen Zukunft, der Einordnung und der Diskussion.

Ich bin überzeugt: Das Prinzip der Repräsentation kann nur durch gute Debatten und überzeugende Beschlüsse wieder an Boden gewinnen. Ich glaube, das ist wichtig in der Unübersichtlichkeit unserer Welt. In Zeiten von Globalisierung und grundstürzenden Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, von scheinbar allumfassender Information und Transparenz wird das noch verstärkt. Ohne Auswahl und Reduktion auf das Wesentliche verlieren wir leicht die Orientierung. Dem wirkt das repräsentative Prinzip entgegen.

Dazu braucht es verantwortlich handelnde Akteure, die neben der Vertretung legitimer Interessen ihrer Wähler auch das auszuhandelnde Gemeinwohl im Blick behalten. Die Führungswillen zeigen.

Und es braucht das Verständnis in der Öffentlichkeit für die Komplexität der Aufgabe, bei der Vielzahl von Interessen, Meinungen und Befindlichkeiten am Ende durch Mehrheitsbeschluss zu Entscheidungen zu kommen, die zu Recht von der Politik erwartet werden.

Nur so wird sich das Grundvertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre gewählten Repräsentanten erhalten.

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