24.04.2018 | Parlament

Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble: Keynote Speech zu TOP 2 der EU-Parlamentspräsidentenkonferenz Europäische Sicherheit und Verteidigung

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Ziel einer gemeinsamen Verteidigung steht seit Maastricht in den europäischen Verträgen. 
Seit einem Vierteljahrhundert. 
Die Welt hat sich seitdem dramatisch gewandelt. 
Sicherer geworden ist sie 
nicht. 

Neue Bedrohungen und Gefahren 
sind hinzugekommen, die sich die meisten damals gar nicht vorstellen konnten: 
asymmetrische Kriegführung, hybride Bedrohungen, Cyberangriffe, 
islamistischer Terrorismus, 
zerfallende Staaten im Nahen Osten und in Nordafrika, 
Flüchtlinge so viele wie seit 1945 nicht mehr. 

Nicht zuletzt: Der Bruch der europäischen Friedensordnung 
– der Charta von Paris – 
durch gezielte Destabilisierung und völkerrechtswidrige Annexion. 

Dazu Partner, die sich uns entfremdet haben. 
Die einen 
stellen das transatlantische Verteidigungsbündnis in Frage. 
Andere scheinen sich von unseren Werten, 
unseren Vorstellungen von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Freiheit 
zu entfernen.
 
Wir alle teilen die Einsicht, dass wir als Europäer 
angesichts dieser komplexen Bedrohungslage in der globalisierten Welt 
nur mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik 
eine Chance haben. 
Dass wir – ganz gleich wie stark das US-amerikanische Engagement künftig sein wird – 
mehr Verantwortung für unsere eigene Sicherheit 
übernehmen müssen. 
„Weltpolitikfähiger“ werden, 
wie Kommissionspräsident Juncker es ausgedrückt hat. 
Die in Reden und Papieren formulierten Ambitionen 
sind groß. 
Ebenso die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger: 
Sicherheit und Schutz 
stehen auf ihrer Prioritätenliste weit oben, 
wenn nach den drängendsten Problemen gefragt wird, derer sich die EU annehmen soll. 
Etwa drei Viertel 
sprechen sich für eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik aus. 

Diesen hohen Erwartungen steht die relative Machtlosigkeit der Gemeinschaftsinstitutionen gegenüber. 
Die Mitgliedstaaten 
sind die allein entscheidenden Akteure in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. 
Und die Bereitschaft, nationale Souveränität zu teilen, 
ist nicht besonders groß. 
In Verteidigungsfragen war sie das wohl nie, 
wenn wir an die Anfänge des europäischen Integrationsprozesses denken. 
Das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft scheiterte 
am Beharren auf nationaler Souveränität. 
Ein frühes Lehrstück 
– übrigens auch über die Macht von Parlamenten. 

Meine persönliche Überzeugung ist: 
Wir brauchen eine europäische Armee. 
Lieber gestern als morgen oder übermorgen. 
Leider klaffen das Nötige 
und das realistisch Machbare 
in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik 
noch immer weit auseinander.

Aber es ist besser, 
schrittweise voranzugehen als gar nicht.
Und die Schritte, die die EU nach der Brexit-Entscheidung der Briten gemacht hat, sind 
beträchtlich: 
    Vor allem PESCO, die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, 
zu der sich im vergangenen Dezember 25 Mitgliedstaaten entschlossen haben 
– endlich! 
    Der Europäische Verteidigungsfonds, 
der Hoffnung macht auf Synergieeffekte. 
Denn es liegt auf der Hand, dass 20 verschiedene Arten von Kampfflugzeugen und 17 Arten Hauptkampfpanzer 
weder militärisch 
noch wirtschaftlich sinnvoll sind. 
    Die verstärkte, engere Zusammenarbeit mit der NATO. 
    Auch der Versuch, endlich die Hemmnisse für die seit 2005 bestehenden, 
aber noch niemals eingesetzten 
EU-Battlegroups zu beseitigen. 
Und noch einiges mehr.

All das ist gut und richtig, darüber besteht 
im Grundsatz breite Einigkeit. 

Welche Herausforderungen sind damit für uns, 
für die Parlamente, verbunden?

PESCO kann der Einstieg in eine Europäische Verteidigungsunion sein 
– wie immer diese am Ende aussehen wird. 
Die Teilnehmerstaaten haben sich zum Ausbau und zu einer verstärkten Bereitstellung ihrer militärischen Fähigkeiten verpflichtet 
– politisch, nicht rechtlich. 
Die nationale Souveränität bleibt unberührt. 
Das erspart zwar Probleme mit sonst nötigen Ratifizierungsverfahren, 
hat aber 
wie alle zwischenstaatlichen Verabredungen 
eine Kehrseite:  
Es hängt allein vom politischen Willen 
und von der Verbindlichkeit der Mitgliedstaaten ab, ob aus Absichtserklärungen 
Wirklichkeit wird. 
Und in der Verteidigungspolitik heißt das noch mehr 
als in anderen Bereichen: 
von den Regierungen. 

Umso wichtiger ist unsere Aufgabe: 
die parlamentarische Begleitung und Kontrolle. 
Vor den nationalen Parlamenten
haben sich die Regierungen zu rechtfertigen. 
Das Europäische Parlament hat folgerichtig in einer Entschließung vom Dezember 2016 die notwendige Stärkung der nationalen Parlamente
in der Umsetzung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik betont. 
Der Deutsche Bundestag streitet aktuell für stärkere Informationsrechte in diesem Bereich. 

Die wünschenswerte, 
immer stärkere Kooperation zwischen den Europäern einerseits 
und mit den weiteren NATO-Partnern andererseits 
erhöht die Komplexität und verringert die Transparenz. 
Das macht die parlamentarische Kontrolle der Sicherheits- und Verteidigungspolitik 
schwieriger.  

Wie schaffen wir es dennoch, 
eine angemessene Einbeziehung der Parlamente sicherzustellen? 
Schon wegen der notwendigen Akzeptanz. 
Denn – zumindest für Deutschland kann ich das sagen – 
die europäische Verteidigungspolitik steht unter 
kritischer öffentlicher Beobachtung. 
Auch über die jüngsten Entwicklungen wird im Deutschen Bundestag kontrovers debattiert. 

Eine Teilantwort darauf liegt im Ausbau der Zusammenarbeit 
zwischen unseren Parlamenten. 
So wird die parlamentarische Begleitung der PESCO 
Gegenstand eines Abkommens zwischen dem Bundestag 
und der Assemblée nationale sein, das beide Parlamente derzeit aushandeln. 
Auch die Interparlamentarische Konferenz 
wird wichtiger werden, je weiter wir bei der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranschreiten. 

Mit mehr Zusammenarbeit 
wird es aber nicht getan sein. 
Wenn wir es ernst meinen mit der gemeinsamen europäischen Verteidigung, werden wir auch 
Gesetze ändern müssen. 
    Etwa für die Rüstungszusammenarbeit, 
wo wir absehbar über die nationalen Rüstungsexportregime reden und zu Rechtsangleichungen kommen müssen. 
    Oder die parlamentarischen Zustimmungspflichten zu Militärmissionen:
In Deutschland gilt für jeden Streitkräfteeinsatz im Ausland der Parlamentsvorbehalt. 
Eine Regelung, die – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung –  
Nachahmer in anderen europäischen Staaten gefunden hat. 
Einige von Ihnen verzichten darauf bei Einsätzen im Rahmen der EU bzw. NATO von vornherein. 
Das wäre mit unseren historisch begründeten,
engen verfassungsgerichtlichen Vorgaben 
nicht vereinbar. 
Gleichwohl bleibt zu klären, 
ob und wie der deutsche Parlamentsvorbehalt angepasst werden sollte.

Kurz: Wir werden alle unsere Hausaufgaben machen müssen. 
Uns rüsten für eine engere, 
effektive Zusammenarbeit und für neuartige Bedrohungen. 
Manche werden auch nachsitzen 
und erstmal ihre klassischen Verteidigungsfähigkeiten ertüchtigen müssen. 

Das Wichtigste aber ist: 
Wir müssen uns klarwerden, 
wofür wir unsere Streitkräfte gemeinsam einsetzen wollen. 
Eine europäische Verteidigung 
braucht die Einbettung 
in ein außen- und sicherheitspolitisches Konzept, das Diplomatie, ziviles Krisenmanagement, polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, 
aber auch Entwicklungs-, Handels- und Einwanderungspolitik 
mit einschließt. 
– Und vielleicht ist das von allem 
das Schwierigste: gemeinsame Interessen, Prioritäten und 
Strategien zu definieren.

Lieber Kollege Nestor,

Ihr Land feiert in diesem Jahr ein großes Jubiläum: 
Vor 100 Jahren wurde Estland unabhängige Republik. 
Wirklich unabhängig 
war es insgesamt nur die Hälfte davon 
– als Folge des verbrecherischen Pakts zwischen Hitler und Stalin und des sowjetische Expansionsdrangs. 
Wer um diese Vergangenheit weiß, 
versteht die besonderen Sorgen, die sich mit der russischen Destabilisierungspolitik in der Ukraine 
gerade in den baltischen Staaten 
verbinden. 

Wir alle haben unsere besondere Geschichte. 
Und unsere Geschichte bestimmt mit 
über unser nationales Selbstverständnis. 
Über Richtung und Fokus unseres Blicks nach außen. 
Diese Geschichten 
lassen sich nicht vereinheitlichen. 
Wer Europa will, 
muss vielmehr diese Verschiedenheit akzeptieren, 
nationale Eigenarten kennen 
und respektieren. 
Und wer darüber hinaus Fortschritte in der europäischen Einigung will, 
muss zu Kompromissen bereit sein und darf die eigenen Vorstellungen 
nicht zum Maß aller Dinge erklären. 
Nur so werden wir ein Mehr an Gemeinsamkeit schaffen. 
Nur so kann die EU beweisen, 
dass sie ihre Bürger schützen, 
dass sie Freiheit und Demokratie in einer zunehmend globalisierten und digitalisierten Welt 
sichern kann. 

„Wir müssen lernen, gemeinsam zu denken.“ 
So hat das jüngst ein deutscher Journalist formuliert. 
Er hatte dabei die deutsch-französischen Beziehungen im Blick. 
Ich meine: 
Es gilt für alle, die eine europäische Verteidigung 
wirklich wollen. 
Lernen, gemeinsam zu denken. 
Dazu trägt ein Forum wie dieses hoffentlich bei.