Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
Es gilt das gesprochene Wort
Herr Bundespräsident! Frau Bundeskanzlerin! Herr Bundesratspräsident! Herr Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Lasker Wallfisch! Sehr geehrte Frau Lasker-Harpprecht! Meine Damen und Herren!
An Auschwitz scheitert jede Gewissheit. Auschwitz - das ist Synonym für den planmäßigen, industriellen Völkermord an den europäischen Juden, für die nationalsozialistischen Verbrechen, für die Unmenschlichkeit im Menschen.
Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager. Vor 73 Jahren.
Was das heute noch mit uns zu tun hat, darauf hat Bundespräsident Roman Herzog 1996 in der ersten Gedenkstunde vor diesem Hohen Haus eine unmissverständliche Antwort gegeben, und sie ist immer noch gültig: Wir erinnern nicht - so hat er gesagt -, um unser Entsetzen zu konservieren. Wir erinnern uns, um Lehren zu ziehen - Lehren, die auch künftigen Generationen Orientierung geben, damit aus der Erinnerung immer wieder lebendige Zukunft wird.
Wir gedenken nicht als persönlich Schuldige. Aber aus der Schuld, die Deutsche in den zwölf Jahren der NS-Diktatur auf sich geladen haben, wächst uns nachfolgenden Generationen eine besondere Verantwortung zu. Uns allen. Nicht weil Geschichte sich wiederholt - das tut sie nie -, sondern weil an Auschwitz jede Gewissheit scheitert.
Geschichte verläuft weder zufällig noch zwangsläufig. Was heute unsere gemeinsame Vergangenheit ist, haben Menschen früher als ihre eigene Gegenwart gestaltet, im Guten wie im Bösen.
Gestern vor 85 Jahren wurde Hitler die Macht übertragen. Binnen kurzem gelang den Nationalsozialisten die Zerstörung der ersten deutschen Demokratie. Nun konnten sie ihre Rassenideologie politisch umsetzen - im vermeintlichen Interesse einer proklamierten „deutschen Volksgemeinschaft“. Ein denkbar einfaches Prinzip: Wir und die anderen. Und die anderen gehören nicht dazu, dürfen nicht dazu gehören. - Einfach und im Ergebnis mörderisch.
Jüdische Deutsche wurden nach einer angeblich „rassischen“ Zugehörigkeit kategorisiert. Nachbarn, Kollegen, Mitschüler, Kommilitonen wurden ausgegrenzt, entrechtet, enteignet, misshandelt und vernichtet. Sie verschwanden aus dem eigenen Umfeld. Die Mehrheit der Gesellschaft nahm es hin. Einige haben geholfen, Freunde und Bekannte versteckt, sie unterstützt. Die meisten schwiegen.
Wie hätten wir gehandelt? Diese Frage stellt sich an unser Gewissen, jeder Generation von neuem. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat einmal gefragt: Was wäre eigentlich gewesen, hätten nach den Pogromen vom 9. November 1938 Zehn- oder Hunderttausende demonstriert? Wenn sie öffentlich bekundet hätten: „Wir sind alle Juden“? Unter den Bedingungen der Nazidiktatur eine hypothetische Frage, gewiss. Aber die Frage verdeutlicht, was eine Gesellschaft braucht, um ihre Freiheit zu sichern: eine konsequente Haltung gegen jede Form der Ausgrenzung, bevor es zu spät ist.
(Beifall)
Wir gedenken heute der Opfer nationalsozialistischer Verbrechen: der ermordeten Juden Europas, der Sinti und Roma, der Kranken und Behinderten, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Kriegsgefangenen, der zu „Untermenschen“ degradierten slawischen Völker. Und wir ehren heute den Mut derjenigen, die sich nicht abfinden wollten mit der Zerstörung von Freiheit und Humanität. Die sich nicht abfinden konnten. Die Verfolgten und Bedrängten geholfen haben. Die Widerstand leisteten.
Auf Einladung des Deutschen Bundestages haben sich in den vergangenen Tagen junge Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern und aus Israel mit Motiven, Formen und Wirkungen des Widerstandes befasst, besonders mit der studentischen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ um die Geschwister Hans und Sophie Scholl. Vor 75 Jahren wurden sie beide und vier ihrer Mitstreiter in München hingerichtet.
Wer wollte, wer könnte von anderen den Mut einfordern, aufzubegehren, wenn Opposition zu einer Frage von Leben und Tod geworden ist? Das macht Empathie, Solidarität, Zivilcourage im Vorfeld umso wichtiger. Als selbstverständlich hinzunehmen, sich gar zu verlassen auf die Beständigkeit etablierter Institutionen, diese Gewissheit kann es nach Auschwitz nicht mehr geben. Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Demokratie brauchen unser Engagement.
Meine Damen und Herren, wir gedenken der Toten und verneigen uns vor den Überlebenden. Wir denken an die Opfer weltweit, die noch unter uns sind, an die Angehörigen und Nachkommen. Für sie alle ist und bleibt die Geschichte in höchstem Maße persönlich. Auch das vergessen jene, die heute meinen: Es reicht.
Anita Lasker Wallfisch und ihre Schwester Renate haben überlebt: Zwangsarbeit, Gestapo-Haft, das Vernichtungslager Auschwitz, das KZ Bergen-Belsen. Nach dieser Erfahrung wollten Sie, Frau Lasker Wallfisch, mit großer Bestimmtheit die Hoheit über ihr Leben zurück, ein „normales“ Leben führen. Erst viele Jahre und Jahrzehnte später entschieden Sie sich, über das Erlebte zu schreiben und zu sprechen. Ihr Leben ist Teil eines beeindruckenden Dokumentarfilms über Breslauer Juden geworden. Das Erzählen und Berichten wurde Ihnen zu einer Art Pflichterfüllung, sagen Sie - als „Stimme jener Menschen, die nicht mehr reden können, weil man sie umgebracht hat“.
Sehr geehrte Frau Lasker Wallfisch, Sie haben lange mit Deutschland und den Deutschen gehadert. Umso mehr danken wir Ihnen, dass Sie die Einladung angenommen haben, heute zu uns, vor dem Deutschen Bundestag, zu sprechen.
(Beifall)
Über das Überleben haben Sie gesagt, Sie hätten „einfach Glück gehabt“; Zufälle seien es gewesen, die Sie und Ihre Schwester vor der Ermordung bewahrten. Die Musik spielte dabei eine große Rolle. Genauer gesagt: dass Sie Cello spielen konnten. Ein Cello in Auschwitz! Musik in Auschwitz! Das lässt sich kaum vorstellen. Und doch: In der alltäglichen Hölle der Konzentrations- und Vernichtungslager gab es Musik.
Manche Häftlinge musizierten und sangen auf eigene Initiative, heimlich und verboten, teils auch geduldet. Das meiste war angeordnet: das Singen auf Kommando, die musikalische Beschallung über Lautsprecher, Lagerkapellen oder Orchester - auf Anweisung und Betreiben der SS-Lagerleitung.
Die Musiker waren jüdische wie nichtjüdische Häftlinge. Sie mussten Marschmusik beim Ausrücken und bei der Rückkehr der Arbeitskommandos spielen. Sie hatten Bestrafungen und Exekutionen musikalisch zu untermalen. Sie musizierten bei offiziellen Anlässen und Besuchen, zur Vertuschung, etwa bei Inspektionen des Roten Kreuzes, zur Täuschung und Beruhigung neu ankommender Häftlinge. Und sie hatten dem Lagerpersonal zur Verfügung zu stehen, damit diese Männer und Frauen sich zu Klängen von Schumann und Mozart, bei Schlagern und Operettenliedern - man muss es so sagen - erholen konnten: von der Bewachung, von der Selektion, von der Ermordung der Häftlinge.
Wir glauben zu wissen, was gut und was böse ist. Musikalische Empfindsamkeit und bestialische Grausamkeit - diesen Tätern war beides möglich. An Auschwitz scheitert jede Gewissheit. Musizieren auf Befehl, zur Begleitung von Mord und Vernichtung: eine Perversion - und sie half trotzdem einigen Häftlingen, Gott sei Dank, zu überleben.
Beabsichtigt war das seitens der Lagerleitung nicht. Aber die „Cellistin von Auschwitz“ und andere Mitglieder des Frauenorchesters von Birkenau waren auch nicht leicht austauschbar oder zu ersetzen.
Zugleich war die Musik Ihnen, Frau Lasker Wallfisch, ein innerer Zufluchtsort - so haben Sie es eindrücklich beschrieben -, ein Ort, den Ihnen die Nazis nicht nehmen konnten, wo es Ihnen dank der Arbeit am Instrument und im Orchester gelungen sei, „einen Funken menschlicher Würde zu behalten“.
„Wir spielten für und um unser Leben“, hat der am Sonntag verstorbene Jazzmusiker Coco Schumann sein Mitwirken bei den „Ghetto-Swingers“ in Theresienstadt und später in Auschwitz einmal auf den Punkt gebracht.
Kunst als ein Überlebensmittel.
Für Marcel Reich-Ranicki, der 2012 hier gesprochen hat, war es die Literatur, für andere das Zeichnen und Malen. So sagt der israelische Künstler Jehuda Bacon, dass ihm die Kunst geholfen habe, „seelisch in Auschwitz und nach Auschwitz zu überleben“. Er wurde als 13-Jähriger mit seiner Familie nach Theresienstadt deportiert. Dort fing er an, zu zeichnen. Eines seiner Bilder zeigt ein Gesicht im aufsteigenden Rauch des Auschwitzer Krematoriums - ein beklemmendes und berührendes Bild. Es ist seine Erinnerung an den eigenen Vater. Bacon hatte sich entscheiden müssen, entweder beim Vater bleiben und mit ihm sterben oder ohne ihn versuchen zu überleben. Da war er noch keine 15 Jahre alt. Der Deutsche Bundestag zeigt ab heute eine Auswahl der Werke dieses großen Künstlers.
Jehuda Bacon hat sich durch die Kunst das Leben zurückerobert. Erst mit seinen Zeichnungen und seiner Malerei fand er eine Sprache, um die unsichtbare Wand zu durchdringen zwischen ihm, dem Holocaust-Überlebenden, und den, wie er einmal sagte, „sogenannten normalen Menschen“.
Wir spüren diese unsichtbare Wand, von der Jehuda Bacon und auch viele andere Überlebende gesprochen haben. Das von ihnen Erlebte entzieht sich unserer Vorstellungskraft. Aber Resignation vor der Monstrosität der Verbrechen darf es nicht geben. Auch wenn wir das Ausmaß des staatlich angeordneten Mordens nicht fassen können: Wir müssen immer wieder versuchen, zu verstehen, wie es dazu gekommen ist - die historischen Konstellationen, Entwicklungen und Faktoren, die es ermöglichten, dass eine Demokratie sich selbst aufgab -, dass die Gesellschaft in einem zivilisierten, modernen, vielfältigen Land damit begann, Menschen auszugrenzen, dass Verbrechen zur Norm wurden.
An Auschwitz scheitert jede Gewissheit. Und das Vertrauen in den menschlichen Fortschritt, den Sinn von Geschichte, die zivilisierende Kraft der Kultur, die Gewissheit über die Grenzen dessen, was Menschen an Leid, Schmerz und Erniedrigung ertragen und was sie anderen Menschen zufügen können. An Auschwitz scheitert die Gewissheit über uns selbst. Deshalb müssen wir sensibel sein, wachsam, selbstkritisch.
Je weiter die Zeit des Nationalsozialismus zurückliegt, desto wichtiger wird die Erinnerung - weil wir dazu neigen, für selbstverständlich zu halten, was doch die historische Ausnahme ist: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Wir brauchen die „kollektive Selbstbeunruhigung an historischer Erfahrung“, wie es Volkhard Knigge, der Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, einmal gesagt hat. Und Anlass zur Selbstbeunruhigung gibt es. Die Verrohung nimmt zu, vor allem im Internet und in den sozialen Netzwerken, aber nicht nur dort. Die als Hasskriminalität erfassten Straf- und Gewalttaten haben sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Die meisten davon sind fremdenfeindlich motiviert. Jeden Tag werden Menschen bei uns angegriffen, weil sie anders aussehen, anders sprechen, weil sie fremd erscheinen - und Fremde bleiben sollen.
Die große Mehrheit in diesem Land ist nicht ausländerfeindlich, schon gar nicht gewalttätig. Es muss uns aber beunruhigen, wenn Angriffe auf Zuwanderer, auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte stillschweigend oder gar laut gebilligt werden.
(Beifall)
Es muss uns beunruhigen, wenn Menschen der Versuchung erliegen, zu meinen, es löse unsere Probleme, wenn „diese anderen“ verschwinden. Sie irren sich. Und das müssen wir ihnen immer wieder vermitteln.
Beunruhigen muss uns, wenn ein Großteil der heute in Deutschland lebenden Juden angibt, im Alltag antisemitische Anfeindungen zu erleben,
(Beifall)
wenn ein Rabbiner und seine Kinder ihre Kippa unter einer Kapuze oder Baseballkappe versteckt tragen müssen, wenn auf deutschen Straßen und Plätzen antijüdische Parolen gegrölt und israelische Flaggen verbrannt werden, wie wir es jüngst wieder erleben mussten. Das ist inakzeptabel.
(Beifall)
Jede Form von Antisemitismus ist unerträglich, erst recht in unserem Land. Das gilt für alle, die hier leben - auch für die, für die die deutsche Vergangenheit nicht die eigene ist, auch für jene, die hier oder anderswo vielleicht selbst Ablehnung und Diskriminierung erfahren mussten. Sie sind in eine Verantwortungsgemeinschaft eingewandert. So hat es Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede vor diesem Haus genannt. Damit sind Verpflichtungen verbunden. Wer hier leben will, muss sie akzeptieren. Darauf bestehen wir.
(Beifall)
Beunruhigen muss uns auch, dass neben Synagogen und jüdischen Einrichtungen dutzendfach Moscheen Ziele von Schändungen und Übergriffen sind, dass Muslime aufgrund ihres Glaubens angefeindet oder pauschal kriminalisiert werden, dass Menschen, weil sie einer bestimmten Religion angehören, die Fähigkeit abgesprochen wird, dazuzugehören.
Hetze und Gewalt dürfen in unserer Gesellschaft keinen Raum haben - gegen wen sie sich auch richten
(Beifall)
und von wem auch immer sie verübt werden. Wer Hass schürt, beutet die Verunsicherung, die Ängste von Menschen aus. Wer vom Volk spricht, aber nur bestimmte Teile der Bevölkerung meint, legt Hand an unsere Ordnung.
(Beifall)
Dieses freie, demokratische, rechtsstaatliche, friedliche Deutschland, in dem wir heute das Glück haben zu leben, ist auf der historischen Erfahrung unermesslicher Gewalt gebaut. Unsere Verfassung hat daraus Lehren gezogen. Auch deshalb ist unser Land für viele Menschen in der Welt inzwischen ein Sehnsuchtsort.
Das Grundgesetz garantiert Rechte; Werte garantieren kann es nicht - Achtung, Anstand, Respekt. Respekt davor, dass jeder berechtigt ist, sein Leben so zu leben, wie es ihm gefällt, seine Meinung zu sagen, seinen Glauben zu leben, frei zu sein, solange er dabei nicht die Freiheit anderer einschränkt, solange er nicht gegen Recht und Gesetz verstößt.
Das mag manches Mal als Zumutung erscheinen; das stimmt. Aber ohne solche Zumutungen wäre Toleranz einzufordern wohlfeil. Und genauso gilt: Ohne klare Grenzen wäre Toleranz nicht mehr als Ignoranz und Beliebigkeit.
(Beifall)
Wie zerbrechlich die Freiheit, wie fragil die zivile Gesellschaft ist: Das ist die Lehre aus unserer Geschichte. Die Menschenwürde ist verletzlich. Gerade deshalb postuliert unser Grundgesetz in seinem Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Daran haben wir uns zu messen - in unserem Land und als verantwortungsbewusster Partner in Europa und in der Weltgemeinschaft.
Sehr geehrte Frau Lasker Wallfisch, Sie verdanken der Musik Ihr Leben. Und die Musik verdankt Ihnen viel. Nach dem Krieg haben Sie in Ihrer neuen Heimat London das English Chamber Orchestra mitgegründet - eines der führenden Kammerorchester der Welt. Ihre Leidenschaft für die Musik und für das Cellospiel gaben Sie an Ihren Sohn weiter. Ich danke Ihnen, Herr Professor Wallfisch, dass Sie einen Teil der musikalischen Beiträge dieser Gedenkstunde übernehmen.
(Beifall)
Komponiert hat die Musik Ernest Bloch. Er entstammt einer Familie Genfer Juden. Während des Ersten Weltkriegs siedelte er in die USA um. In seiner Musik suchte er den Ausdruck für seine kulturelle Identität, für das, was er „die jüdische Seele“ nannte.
Die beiden Stücke, die wir hören werden, schrieb er in den 1920er-Jahren. Damals war nicht abzusehen, welches Maß an Zerstörung jüdische Kultur in Europa erfahren würde. Dass ihre vollständige Vernichtung nicht gelungen ist, ist ein großes Glück. Dass sie auch bei uns wieder aufblüht, dafür sind wir dankbar.
(Beifall)