Die Regierung der Paulskirche: Reichsverweser Erzherzog Johann und die Provisorische Zentralgewalt 1848/49
Am 29. Juni 1848 wählte die Frankfurter Nationalversammlung den Habsburger Erzherzog Johann von Österreich zum deutschen Reichsverweser und damit zum ersten demokratisch legitimierten Staatsoberhaupt Deutschlands. Im Zusammenspiel zwischen den Abgeordneten und Fraktionen der Paulskirche, dem Staatsoberhaupt und den neuen Reichsministern etablierte sich eine moderne parlamentarische Regierungspraxis, in der die Zusammensetzung der Exekutive und ihre Politik erstmals von der Mehrheitsbildung in der Volksvertretung abhängig waren.
Die am 18. Mai in der Frankfurter Paulskirche zusammengetretene Nationalversammlung hatte die zentrale Aufgabe, eine Verfassung für Deutschland zu erarbeiten. Zugleich sah sie sich dazu verpflichtet, die Revolution in rechtlich geregelte Bahnen zu lenken und nationale Interessen gegenüber dem Ausland wie den Einzelstaaten zu wahren. Dafür bedurfte es einer vorläufigen nationalen Staatsgewalt, über deren Einsetzung und Form in der Versammlung jedoch unterschiedliche Vorstellungen bestanden: Durfte die Nationalversammlung ohne die Zustimmung der Regierungen der Einzelstaaten überhaupt über die Staatsspitze bestimmen? Sollte ein Präsident, ein Statthalter oder ein Direktorium eingesetzt werden und sollte das Staatsoberhaupt selbst oder lediglich die Minister dem Parlament gegenüber verantwortlich sein? Erst nach einwöchigen hitzigen Debatten fand sich ein lagerübergreifender, mehrheitsfähiger Kompromiss, mit dem sich das Parlament auf den „Boden praktizierter Volkssouveränität“ (W. Siemann) stellte. Entscheidend war dafür die Intervention des Parlamentspräsidenten Heinrich von Gagern, der in einem „kühnen Griff“ vorschlug, die sogenannte Zentralgewalt selbst zu schaffen und Erzherzog Johann von Österreich bis zur Fertigstellung der Verfassung mit der Leitung der nationalen Exekutive zu betrauen – „nicht weil, sondern obgleich es ein Fürst sei“. Die Lösung verband den Souveränitätsanspruch der Volksvertretung mit einer Anerkennung des dynastischen Prinzips und sicherte der neuen Exekutive eine breite parlamentarische Basis. Mit 450 zu 100 Stimmen beschloss die Nationalversammlung am 28. Juni das „Reichsgesetz über die Einführung einer provisorischen Zentralgewalt für Deutschland“ und wählte am folgenden Tag mit 436 von 548 Stimmen Erzherzog Johann zum Reichsverweser.
Erzherzog Johann von Österreich – Kaiserbruder und ‚Bürgerfürst‘
Der Erzherzog eignete sich nicht nur deshalb als Kompromisskandidat, weil er der Bruder des letzten deutschen Kaisers war, was – ebenso wie die mittelalterliche Bezeichnung „Reichsverweser“ – auf die Tradition des untergegangenen Heiligen Römischen Reiches verwies. Er war zudem als ein freisinniger ‚Bürgerfürst‘ bekannt: Verheiratet mit einer Postmeisterstochter führte der Habsburger ein hoffernes Leben in der Steiermark und galt ebenso als volksnaher und naturverbundener Förderer der Wissenschaften und Technik wie als Verfechter der deutschen Einheit und als Gegner der vormärzlichen Repressionspolitik Metternichs. Gebildet wurde die Provisorische Zentralgewalt aus dem Reichsverweser, einem Ministerpräsidenten und Reichsministern für das Äußere, Innere, die Finanzen, Justiz, den Handel und Krieg; den einzelnen Ressorts waren Unterstaatssekretäre zugeordnet. Bei der Besetzung spielten neben der persönlichen Eignung auch politische Aspekte eine wichtige Rolle, von der Einbindung verschiedener Fraktionen bis zu einem regionalen Proporz, der insbesondere ein Übergewicht preußischer oder österreichischer Amtsträger vermeiden sollte.
Die Provisorische Zentralgewalt – eine Regierung für Deutschland
Das Reichsgesetz stattete die Zentralgewalt mit umfangreichen Befugnissen aus: Sie sollte die vollziehende Gewalt in Fragen der allgemeinen Sicherheit und Wohlfahrt Deutschlands ausüben, die Oberleitung über das gesamte Militär und die völkerrechtliche und handelspolitische Vertretung übernehmen und – gemeinsam mit der Nationalversammlung – über Krieg und Frieden entscheiden. Darüber hinaus war ein umfassendes Interpellationsrecht der Abgeordneten festgeschrieben und ein eigenes Gesetz zur Ministerverantwortlichkeit angekündigt. Obwohl ein solches Gesetz nicht erlassen wurde, war weithin unumstritten, dass „das Ministerium […] ohne Majorität der Nationalversammlung nicht Einen [!] Tag fortregieren kann“, wie es der spätere Justiz- und Außenminister Johann Gustav Heckscher bereits in der Debatte formuliert hatte. Auch wenn der Reichsverweser gegenüber der Nationalversammlung „unverantwortlich“ war, richteten sich die Reichskabinette unter Karl Fürst zu Leiningen, Anton von Schmerling und Heinrich von Gagern bis zum Mai 1849 nach den wechselnden Mehrheitsverhältnissen im Parlament. Über die Regierungsbildung entschied formell der Reichsverweser, in der Praxis bestimmte jedoch eine „Neunerkommission“ aus Abgeordneten als eine Art Koalitionsausschuss über deren Zusammensetzung. Erst als sich nach der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. ein Bürgerkrieg um die Reichsverfassung anzubahnen schien, setzte Erzherzog Johann ein konservatives Ministerium ein, das in der Nationalversammlung über keinerlei Mehrheit verfügte – und dennoch bis zum Dezember 1849 im Amt blieb. Bis zur Wiedereinsetzung der Bundesversammlung 1851 übernahm eine österreichisch-preußische Zentralkommission die Befugnisse der Zentralgewalt.
Die Ministerien, die ohne personelle Ausstattung und nachgeordnete Behörden größtenteils „aus dem Nichts“ (T. Stockinger) entstanden, konnten die hohen Ansprüche des Parlaments und der Öffentlichkeit kaum einlösen: Außenpolitisch erkannten immerhin die USA und einige kleinere europäische Staaten die neuberufenen Gesandten der Zentralgewalt förmlich an, während innenpolitisch insbesondere die Königreiche auf ihrer Eigenständigkeit beharrten. Schon Zeitgenossen spotteten über die scheinbare Machtlosigkeit der Zentralgewalt und bezeichneten Erzherzog Johann etwa als „Reichsvermoderer“ oder „Johann Ohneland“. In der Geschichtswissenschaft ist diese Sichtweise mittlerweile aus mehreren Gründen relativiert worden: Erzherzog Johann war weder nach heutigem noch damaligem Verständnis ein Demokrat, hielt sich aber bis Mai 1849 pflichtbewusst an die demokratischen parlamentarischen Verfahrensweisen. Darüber hinaus ist an der Effizienz und dem Einfluss der Reichszentralgewalt kaum zu zweifeln, solange sie im Dienst für Ruhe und Ordnung agierte und etwa im September 1848 oder in der Reichsverfassungskampagne revolutionäre Aufstände bekämpfte. Auch der Einsatz für eine deutsche Flotte oder einzelne Gesetze, wie etwa eine nationale Wechselordnung, wirkten durchaus nach. Schließlich markierte schon die eigenmächtige Einsetzung der Zentralgewalt durch die Nationalversammlung einen parlamentarischen Aufbruch, der in Regierungsprogrammen, Koalitionsausschüssen, Vertrauensfragen und nicht zuletzt einem institutionalisierten Gesetzgebungsverfahren seinen sichtbaren Ausdruck fand. Dementsprechend wurden die wegweisenden „Grundrechte des deutschen Volkes“ und das demokratische „Reichswahlgesetz“ als eigene Reichsgesetze ausgefertigt und tragen die Unterschriften des Reichsverwesers und der gegenzeichnenden Minister.