Internationales

Teilnehmerin des Monats Januar 2022: Chloe

Chloe ist eine amerikanische PPP-Stipendiatin.

Chloe vor der Oberbaumbrücke in Berlin (© Chloe)

„Ich habe nicht eine Welt verloren, sondern eine neue gewonnen!“

Hallo! Ich bin Chloe Carlish, eine PPP/CBYX-Austauschschülerin von GIVE e.V./ASSE. Ich bin in Chemnitz, Sachsen, bei einer Gastfamilie untergebracht. Ich bin jetzt seit fast vier Monaten in Deutschland und fühle mich langsam wirklich wie zu Hause. Ich denke, das Geheimnis dafür ist, dass ich alle meine einzelnen Gemeinschaften und Gruppen gefunden habe, zu denen ich mich zugehörig fühle: zuerst und vor allem zu meiner Gastfamilie, dann zu meiner Schule und zu verschiedenen Organisationen in Chemnitz.

Im November feierte meine Familie in den USA Chanukka, ein achttägiges Fest des jüdischen Glaubens. Da ich diesen Teil von mir nicht verlieren wollte, besorgte ich mir eine Menora aus dem Jüdischen Museum in Berlin, um mit meiner Gastfamilie zu feiern. Es war wundervoll; wir zündeten jeden Abend die Chanukka-Kerzen an und ich sagte das traditionelle Gebet und sang das Lied. Meinem Gastbruder gefiel mein Gesang nicht so sehr - man kann eben nicht alle für sich gewinnen! Aber es war eine wunderbare Art und Weise, meine beiden Leben miteinander zu verbinden: das traditionsreiche Leben in den USA und das Leben hier in Deutschland, in dem ich diesen Anlass zum Feiern genommen habe. Als ich das Chanukka-Geld teilte, schienen die beiden Leben gar nicht so verschieden zu sein.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich auch angefangen, mich nach einer Synagoge umzusehen. Und es gibt eine, nur eine Zug- bzw. Straßenbahnfahrt entfernt,  eine kleine Gemeinde deutscher und russischer Juden, die sich einmal wöchentlich zum Schabbat treffen. Bei meinem ersten Besuch lernte ich eine Gruppe äußerst gastfreundlicher Teenager kennen, die die Jugendgruppe leiten, und wurde sogar zu einem Abendessen mit ihrer Familie in eines ihrer Häuser eingeladen.

Entgegen aller Klischees, die man vielleicht hört, glaube ich, dass das die Kultur der Deutschen ist: freundlich und gastfreundlich zu sein. Ich werde Ihnen nicht sagen, dass mir Kulturschock in irgendeiner Form fremd ist; ich bin ein quirliges kalifornisches Mädchen, das sich über Nacht in einer ostdeutschen Kleinstadt wiederfand. Viele Leute, mit denen ich jetzt so eng befreundet bin, haben mir später gesagt, dass sie dachten, ich sei „too much“, als wir uns das erste Mal trafen: zu laut, zu aufgeregt, zu amerikanisch. Aber ich hatte nie eine Idee, wie ich mich weniger, nun ja, „ich“ machen könnte. Ich war leicht erregbar, und das bin ich immer noch. Denn zu ändern, wer ich wirklich war, selbst wenn ich wüsste, wie, erschien mir auch nicht besonders reizvoll. Also blieb ich hartnäckig und passte Aspekte der deutschen Mentalität an, ohne meine eigene zu opfern.

Wir hören von CBYX immer wieder, dass keine der beiden Kulturen „besser“ oder „schlechter“ ist, sie sind nur „anders“. In gewisser Weise ist das die Hymne der Austauschschüler geworden. Aber das ist so, weil es wahr ist. Es ist in Ordnung, dass die Deutschen ein bisschen zurückhaltender sind, und es ist in Ordnung, dass ich es nicht bin. Es ist auch in Ordnung, dass ich sozial bewusst genug bin, um zu erkennen, wann ich etwas weniger reden und mehr zuhören sollte - etwas, das ganz natürlich passiert, wenn man erwachsen wird. Und ich habe auch so viele Menschen in Deutschland gefunden, die mich genau so schätzen, wie ich war, als ich aus dem Flugzeug stieg: meine Gastfamilie, die Nachbarn hier, einige der Kinder aus der Schule. Es steht für mich außer Frage, dass ich hier geliebt werde. Und mit der Zeit finde ich immer neue Wege, mich anzupassen, ohne einen Teil von mir selbst zu verlieren.

Das vielleicht deutlichste Beispiel dafür ist mein wöchentlicher Besuch im örtlichen Pflegeheim. Jeder Zehntklässler an meiner Schule nimmt zu Beginn des Schuljahres an einem Praktikum teil. Meines war eine Woche im Oktober. Ich habe 30 Stunden lang mein Deutsch geübt, indem ich mit Senioren in Chemnitz gespielt und mich mit ihnen unterhalten habe. Ich habe mich mit einigen von ihnen wirklich gut verstanden, und trotz der letzten Wochen, in denen ich aufgrund von Covid-Bestimmungen nicht hingehen konnte, habe ich jede Woche ein paar Bewohner besucht. Mein Praktikum war zu Ende und ich war wieder in der Schule, aber ich wollte nicht aufhören, dort zu sein. Also gehe ich jetzt nach der Schule hin und verbringe die Zeit damit, mit den Seniorinnen und Senioren über alles Mögliche zu plaudern, von meinen aktuellen Eskapaden als Teenager über das Leben in Amerika bis hin zu Geschichten aus ihrem erfüllten Leben. Ich glaube, es ist für beide Seiten schön; dass ich da bin, bringt Abwechslung in ihren Alltag, und ich habe das Gefühl, dazuzugehören. Es spielt keine Rolle, ob ich dort übersprudelnd bin, denn warmes Lachen überträgt sich besser als so ziemlich alles andere. Trotz der Sprachbarrieren habe ich also eine echte Verbindung zu den Bewohnern des Pflegeheims gefunden.

Und was meine Gastfamilie angeht, so hätte ich mit meiner Unterbringung wirklich kein größeres Glück haben können. Meine Gasteltern sind nette und lustige Leute, und mein kleiner Gastbruder macht mein Leben noch lustiger und erfüllter. Natürlich sind die Dinge, die wir tun, und die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, anders als bei meiner Familie in den USA - aber das ist ja auch der Sinn der Sache. Früher habe ich meine Wochenenden nie mit Wandern verbracht, und ich habe noch nie LEGO-Sets als Dekoration gehabt. Und es gibt jetzt viel weniger Barbie-Filme in meinem Leben als früher. Aber wie bei Chanukka liegt eine neue Schönheit darin, geschätzte Elemente aus dem amerikanischen Leben mit nach Deutschland zu bringen, so wie all diese neuen Familienaktivitäten zu einer neuen, schönen Normalität werden. Früher hatte ich vielleicht Angst vor dem Wandern, und auch wenn National Geographic in nächster Zeit nicht an meine Tür klopfen wird, kann ich meine Tennisschuhe jetzt schmutzig machen. Schließlich habe ich sie extra für die Wanderungen mit meiner Gastfamilie gekauft, und das ist ja auch der Sinn der Sache.

Ich hoffe, dass Ihr nun eine Vorstellung davon habt, wie mein Leben hier in Deutschland aussieht, wenn Ihr dies lest. Es ist eine ständige Entscheidung, mich weiter zu entwickeln und die Ergebnisse zu lieben. Es ist wunderschön. Ich liebe es.

Vor der Abreise nach Deutschland war ich so nervös. Nicht wegen des Hierseins, darüber habe ich mir fast keine Gedanken gemacht. Vielmehr hatte ich Angst vor der Aussicht auf die Abreise, vor der Vorstellung, dass alles, was ich liebte, bald so weit weg sein würde. Und es ist wahr, dass der eigentliche Abschied so schwer ist und so sehr weh tut. Aber es ist nicht wahr, dass es ewig dauert. Und es stimmt auch nicht, dass die Menschen oder Dinge, die man liebt, irgendwohin gehen - man wird in Kontakt bleiben, und das Leben hat diese komische Art, sich zu verändern und gleichzeitig gleich zu bleiben. Und als ich hier ankam, fand ich all diese wunderbaren Menschen, von deren Existenz ich vorher keine Ahnung hatte. Die Welt wurde so viel größer und so voller Leben, Erfahrungen und Möglichkeiten. Ich habe nicht eine Welt verloren, sondern eine neue gewonnen.

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