Marie-Elisabeth Lüders hofft auf die Rückkehr nach Berlin
Das Amt des Alterspräsidenten ist parlamentarische Tradition und Teil der Geschäftsordnung des Bundestages. Ein Amt von hoher Würde, aber nur von kurzer Dauer. Es hat sich nach traditioneller Praxis mit der Wahl des neuen Bundestagspräsidenten erschöpft. Obwohl er nicht in sein Amt gewählt wird, sondern in seiner Eigenschaft als ältester Abgeordneter zu dieser Ehre kommt, ist es anerkannte Tradition, dass der Alterspräsident die erste Rede vor dem Plenum hält. Bisher haben alle Alterspräsidenten der Bundesrepublik von dieser Tradition Gebrauch gemacht und dabei eigene Akzente gesetzt.
Die einzige Alterspräsidentin
1953 und 1957: Dr. Dr. h.c. Marie-Elisabeth Lüders (FDP) ist bis heute die einzige Frau im Amt des Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages. Gleich zweimal amtiert die Politikerin (1878-1966) in dieser Funktion und eröffnet 1953 und 1957 die konstituierende Sitzung des Parlaments.
„Es ist nicht mein Verdienst, daß ich heute, einem alten Brauch folgend, an dieser Stelle stehe“, bekennt sie. Die 1878 geborene Berlinerin ist lediglich die zweitälteste Abgeordnete. Konrad Adenauer (CDU) wäre eigentlich an der Reihe gewesen, verzichtet aber als amtierender Bundeskanzler auf dieses Recht.
DDP-Abgeordnete im Reichstag
Für Lüders ist es nach ihren eigenen Worten „ein gütiges Geschick, das mich alt genug hat werden lassen, um zu Ihnen, meine Damen und Herren, sprechen zu dürfen“. Wie ihr Vorgänger im Amt des Alterspräsidenten, Paul Löbe, ist auch sie Berliner Abgeordnete und gehört zu den Parlamentariern, die sich bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 aktiv für die Demokratie einsetzten.
1918 tritt sie in die Deutsche Demokratische Partei (DDP) ein, ist 1919 Mitglied der Verfassunggebenden Nationalversammlung und 1920/21 und von 1924 bis 1930 Mitglied des Reichstages. Sie ist eine der wenigen Frauen im Reichstag, setzt sich engagiert für frauen- und sozialpolitische Themen ein und wirkt in den parlamentarischen Ausschüssen für Recht, Handels- und Wirtschaftspolitik mit.
Berufs- und Publikationsverbot sowie Haft in der NS-Zeit
Aus Protest gegen die Zusammenarbeit der DDP mit dem der NSDAP nahestehenden „Jungdeutschen Orden“ kandidiert sie nicht mehr für den Reichstag. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wird sie mit einem Berufs- und Publikationsverbot belegt und 1937 für vier Monate inhaftiert. Erst nach Protesten von internationalen Frauenorganisationen und Mitgliedern des Diplomatischen Corps kommt sie frei.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sie ihr politisches Engagement fort. Als Mitglied der Berliner LDP/FDP ist sie von 1948 bis 1950 Stadtverordnete in West-Berlin. Von 194 bis 1951 leitet sie als Stadträtin die Abteilung Sozialwesen im Berliner Magistrat. Von 1953 bis 1961 ist sie Mitglied des Deutschen Bundestages für die FDP.
1953 – Besorgnis wegen des Kalten Krieges
Lüders' Eröffnungsrede vom 6. Oktober 1953 ist vom Tod des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Ernst Reuter, und von der Sorge um den voll entbrannten Kalten Krieg geprägt. Als engagierte Sozialpolitikerin vergisst sie in ihrer Rede aber auch nicht die großen sozialen Aufgaben, die bei allen Erfolgen der vergangenen Legislaturperiode noch vor den Parlamentariern liegen, wie die Beseitigung der Wohnungsnot, gesicherte Arbeit, die Beseitigung der Not von Witwen, Kindern und Versehrten, die Gestaltung des Bildungs- und Erziehungswesens.
In der Wiedervereinigung sieht sie den wesentlichen Beitrag zum Frieden in der Welt überhaupt, und so ist sie sich sicher: „Wir haben noch kein gesamtdeutsches Parlament; aber wir werden es bekommen.“ Gleichzeitig äußert sie die Hoffnung, „daß der nächste Alterspräsident in der früheren Hauptstadt Berlin wieder den Deutschen Reichstag – oder wie immer er heißen mag – wird eröffnen können“.
1957 in der Berliner Kongresshalle
Vier Jahre später ist ihre Eröffnungsrede am 15. Oktober 1957 von „sich widersprechenden Gefühlen, der Trauer und der Freude“ beherrscht. Es ist nicht nur erneut der Tod eines Regierenden Bürgermeisters von Berlin, nämlich der Dr. Otto Suhrs, sowie der Tod 18 Abgeordneter zu beklagen, sondern auch der Untergang des Segelschulschiffes Pamir und der zahlreichen Opfer. Es gibt noch kein gesamtdeutsches Parlament, aber die Alterspräsidentin kann 1957 zumindest wieder ein deutsches Parlament in Berlin eröffnen.
Räumlich ist der Veranstaltungsort für die Konstituierung des dritten Deutschen Bundestages, die Berliner Kongresshalle, auch wieder nur ein Provisorium. Aber Lüders hofft: „Das ist ein erster und, so glauben wir, entscheidender Schritt aus einem achtjährigen Provisorium zurück in die angestammte Heimat der deutschen Volksvertretung.“ Für die Berliner Abgeordnete ist die alte Reichshauptstadt der richtige Ort, die Bedeutung der Wiedervereinigung als „unser aller höchstes Ziel“ und als Garant des inneren und äußeren Friedens hervorzuheben.
Parteiengesetz gefordert
Insgesamt blickt die Alterspräsidentin auf acht durchaus erfolgreiche Jahre des Parlaments zurück. Erstmals schneidet sie die Frage an, aus welchen Quellen die Parteien das Geld für ihre Arbeit erhalten sollten und verweist auf die Notwendigkeit eines Parteiengesetzes.
Am Herzen liegen ihr die dringend notwendige Sozialreform, die Verabschiedung eines Jugendarbeitsschutzprogrammes und der Ausbau des Erziehungs-, Schul- und Hochschulwesens. Sorge bereitet ihr nach wie vor die weltweite, vor allem atomare, Aufrüstung. Die Abgeordneten fordert sie deshalb zu mehr Miteinander in der Außenpolitik auf.
Eine der bedeutendsten Sozialpolitikerinnen
Bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag 1961 bleibt die Sozialpolitik ihr Arbeitsgebiet. Mehrmals regt sie Gesetzesinitiativen in der Sozial-, Gesundheits- und Frauenpolitik an, so auch bei der sogenannten „Lex Lüders“, die die rechtliche Stellung einer mit einem Ausländer verheirateten Deutschen regelt.
Bis heute gehört sie zu den bedeutendsten Sozialpolitikerinnen und wichtigsten Vertreterinnen der Frauenbewegung in Deutschland. Marie-Elisabeth Lüders stirbt am 23. März 1966 in Berlin. (klz/09.10.2017)