Zeuge nennt Energieversorgungs-Stresstest alarmistisch
Zeit:
Donnerstag, 5. Dezember 2024,
10.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 800
Ein Vertreter der Bundesnetzagentur hat Verständnis für die Vorgaben von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) für den zweiten Energieversorgungs-Stresstest der Übertragungsnetzbetreiber im Jahr 2022 gezeigt. Habeck sei offenbar mit dem ersten Stresstest der Übertragungsnetzbetreiber unzufrieden gewesen und habe die Berücksichtigung von mehr Risiken und Gefährdungen gewollt, schilderte der Vertreter der Bundesnetzagentur am Donnerstag, 5. Dezember 2024, als Zeuge vor dem 2. Untersuchungsausschuss, der die Umstände des deutschen Atomausstiegs untersucht.
Habeck habe drei oder vier Kriterien formuliert, offenbar um sich nicht vorwerfen lassen zu wollen, Risiken unterschätzt zu haben. Deshalb habe sich der Minister nicht mit den relativ beruhigenden Ergebnissen des ersten Stresstests der Übertragungsnetzbetreiber zufrieden geben wollen. Ein Zeuge aus dem Wirtschaftsministerium bestätigte, es habe die Bitte gegeben, das System so zu stressen, das neuralgische Punkte erkennbar würden.
„Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur nicht berührt“
Auf Fragen von Abgeordneten zur Unabhängigkeit seiner Behörde erklärte der Vertreter der Bundesnetzagentur, die Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur sei nicht berührt, weil die Vorgaben keine Fragen der Rechts- und Fachaufsicht berührt hätten. Es werde auch nicht alles, was aus dem Ministerium komme, als Vorgabe oder Weisung interpretiert. Der Zeuge bezeichnete es als ungewöhnlich, dass ein Minister sich derart tief in die Materie einarbeite.
Die Ergebnisse des zweiten Stresstests nannte der Zeuge jedoch derart alarmistisch, dass man nur den Schluss hätte ziehen können, dass ein Streckbetrieb der Kernkraftwerke auf der Tagesordnung stehe, oder man hätte die Schlussfolgerung ziehen können, dass alles ohnehin nicht helfen werde. Die Übertragungsnetzbetreiber hätten sich an Hoch- und Höchstrisiken orientiert. Daraus hätte man auch eine Art Weltuntergangsszenario machen können. Dadurch hätte das Risiko bestanden, dass es zu einer weiteren Erhöhung der damals schon ohnehin hohen Energiepreise hätte kommen können.
„Starke Abhängigkeit von russischen Energielieferungen“
Der Zeuge erklärte, eine mehrjährige Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke habe sich nach seiner Einschätzung mit den Ergebnissen des zweiten Stresstests nicht begründen lassen. Die Entscheidung für einen mehrmonatigen Streckbetrieb, wie sie dann von Bundeskanzler Olaf Scholz getroffen worden sei, „hat mir schon gepasst“, erklärte der Zeuge.
Zur energiepolitischen Diskussion nach Beginn des Ukraine-Krieges sagte der Zeuge, diese Diskussion sei von ständig wechselnden Einschätzungen geprägt gewesen. Zunächst sei eine überschäumende Besorgnis festzustellen gewesen. Es habe aber kein klares Bild gegeben, wie viel Gas man zur Verfügung haben würde. Es habe eine starke Abhängigkeit von russischen Energielieferungen gegeben. Die bisherigen Gaslieferungen aus Russland seien dann auf andere Lieferanten verlagert worden, Kohlekraftwerke seien in den Markt zurückgenommen worden. Dann sei begonnen worden, sich an die Frage einer Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken heranzutasten.
„Das hätte zu einer Gasmangellage geführt“
Forderungen der Politik nach sofortigem Stopp russischer Lieferungen unmittelbar nach Beginn des Krieges hätten bei der Bundesnetzagentur „blanken Horror“ ausgelöst. Das hätte zu einer Gasmangellage geführt. Es wäre eine Umstellung auf Planwirtschaft erfolgt. Die Bundesnetzagentur hätte entscheiden müssen, wer noch Gas bekomme. Es hätte die Notfallstufe im Sinne des Energiesicherheitsgesetzes ausgerufen werden müssen.
Die Bundesnetzagentur hätte prüfen müssen, welche Abschaltmaßnahmen sinnvoll seien. Verbraucher seien sogenannte geschützte Kunden. Dann gebe es systemrelevante Gaskraftwerke, die für Stabilität im Stromnetz sorgen und auch nicht abgeschaltet werden könnten. Der Rest müsse dann zeitweise abgeschaltet werden. Inzwischen wisse man, welche Abschaltungen sinnvoll wären. Im Frühjahr 2022 hätte man nur raten können.
Unterschiedliche Auffassungen zwischen Fach- und Leitungsebene
Innerhalb des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz gab es offenbar unterschiedliche Auffassungen zwischen der Fach- und der Leitungsebene über einen Weiterbetrieb der letzten drei deutschen Kernkraftwerke, die eigentlich Ende 2022 endgültig hätten abgeschaltet werden müssen. Im weiteren Verlauf der Sitzung schilderte ein Zeuge aus dem Wirtschaftsministerium, dass der damalige Staatssekretär Patrick Graichen in einem Gespräch seine Vorstellungen zum Streckbetrieb der Kernkraftwerke über das Jahresende 2022 hinaus abgelehnt habe. Dennoch habe Graichen ihn gebeten, seine Vorstellungen in einem Vermerk aufzuschreiben und ihm zu schicken.
Der Zeuge schilderte weiter, er habe einen Streckbetrieb für sinnvoll erachtet, um im Winter 2022/23 Erdgas einsparen zu können, da die Atomkraftwerke dann noch Strom produzieren und Gaskraftwerke ersetzen könnten. Den Streckbetrieb habe er aber nur für möglich gehalten, wenn die Kernkraftwerke ihren Betrieb im Sommer 2022 reduzieren würden. Denn aufgrund eines vom Energiekonzern und Kraftwerksbetreiber RWE stammenden Vermerks habe er angenommen, dass die Brennstäbe ohne Leistungsreduzierung der Kernkraftwerke im Sommer nur noch bis zum Ende des Jahres reichen und sich neue Brennelemente nicht mehr rechtzeitig beschaffen lassen würden.
Keine Verbote im Ministerium
Diese Annahmen von RWE waren aber von anderen Zeugen aus der Kraftwerks- und Atomwirtschaft als unzutreffend dargestellt worden. Graichen sei wohl davon überzeugt gewesen, dass es bei einem Streckbetrieb nur eine Verschiebung des Gasverbrauchs, aber keine Einsparung geben würde, so der Zeuge. Kostenfragen hätten ihn wohl nicht interessiert.
Der Zeuge schilderte, aus energiewirtschaftlicher Sicht hätte ein Betrieb der Kernkraftwerke im Winter mehr Sinn ergeben. Dann wäre der Verbrauch der Gaskraftwerke auf ein Minimum zurückgegangen. Wie groß die Ersparnis an Gas sein würde, konnte er nicht beziffern. Er würde diesen Vermerk genauso wieder schreiben, sagte er. Er habe ergebnisoffen prüfen dürfen. Verbote habe es im Ministerium nicht gegeben.
Kernkraftwerke für Reservebetrieb ungeeignet
An dem gemeinsamen Vermerk von Wirtschafts- und Umweltministerium vom 7. März 2022, in dem ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke über das Jahresende hinaus aus Sicherheitsgründen und wegen nicht mehr rechtzeitig beschaffbarer Brennstäbe abgelehnt worden war, sei er nicht beteiligt gewesen, schilderte der Zeuge. Überraschend sei dieser Vermerk für ihn auch nicht gewesen, da es Graichens Position gewesen sei.
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) hatte später die Übernahme der Kernkraftwerke in eine Kaltreserve als Möglichkeit erachtet. Dann wären die Atomanlagen nur bei Bedarf wieder eingeschaltet worden. Der Zeuge vertrat dazu die Auffassung, dass Kernkraftwerke für den Reservebetrieb wegen sehr langer Anfahrzeiten ungeeignet seien. Reservekraftwerke müssten in kürzester Zeit bereit sein.
Reservebetrieb im Fokus der Ministeriumsleitung
Ein anderer Zeuge aus dem Wirtschaftsministerium bestätigte, für die Leitung des Ministeriums habe der Reservebetrieb im Fokus gestanden. Eine Reserve wäre rechtlich jedoch schwieriger umsetzbar gewesen. Es handele sich um ein sehr viel komplexeres Unterfangen als bei einem kurzzeitigen Streckbetrieb, bei dem nur Daten im Atomgesetz hätten geändert werden müssen.
Eine Zeugin aus dem Wirtschaftsministerium, die mit Fragen der Versorgungssicherheit befasst war, erklärte, wenn Erdgas wegen des Ausfalls russischer Lieferungen knapp geworden wäre, hätte es eine Option sein können, im Sommer weniger Atomstrom zu produzieren, um im folgenden Winter noch Strommengen zu haben. Aber das sei nur eine Option zum Prüfen gewesen. Ob diese Möglichkeit noch hätte realisiert werden können, sei zum damaligen Zeitpunkt gar nicht klar gewesen.
Auftrag des Untersuchungsausschusses
Der Untersuchungsausschuss „Atomausstieg“ wurde am 4. Juli 2024 vom Bundestag eingesetzt und befasst sich mit den staatlichen Entscheidungsprozessen zur Anpassung der nationalen Energieversorgung an die durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine veränderte Versorgungslage.
Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild von den Entscheidungsprozessen sowie deren Kommunikation an den Bundestag und an die Öffentlichkeit zu verschaffen. Dies gilt vor allem für die Entscheidungen über einen möglichen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke. Es soll untersucht werden, welche Informationen den Entscheidungen zugrunde gelegt wurden, welche nationalen und internationalen Stellen in die Entscheidungsprozesse einbezogen wurden und ob die Einbeziehung weiterer Informationen oder Stellen sachgerecht gewesen wäre.
Innerhalb des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz gab es offenbar unterschiedliche Auffassungen zwischen der Fach- und der Leitungsebene über einen Weiterbetrieb der letzten drei deutschen Kernkraftwerke, die eigentlich Ende 2022 endgültig hätten abgeschaltet werden müssen. Vor dem 2. Untersuchungsausschuss, der die Umstände des deutschen Atomausstiegs aufklärt, schilderte ein Zeuge aus dem Wirtschaftsministerium am Donnerstag in der vom Vorsitzenden Stefan Heck (CDU) geleiteten Sitzung, dass der damalige Staatssekretär Patrick Graichen (Grüne) in einem Gespräch seine Vorstellungen zum Streckbetrieb der Kernkraftwerke über das Jahresende 2022 hinaus abgelehnt habe. Dennoch habe Graichen ihn gebeten, seine Vorstellungen in einem Vermerk aufzuschreiben und ihm zu schicken. (hle/09.12.2024)