Kontroverse Aussprache über Widerspruchsregelung bei der Organspende
In einer kontroversen und teilweise emotionalen Aussprache haben die Abgeordneten im Bundestag erneut über die mögliche Einführung der sogenannten Widerspruchsregelung bei der Organspende beraten. Befürworter des fraktionsübergreifenden Gesetzentwurfs (20/13804) verwiesen am Donnerstag, 5. Dezember 2024, in der ersten Beratung auf die stagnierende Zahl der Organspender und den eklatanten Mangel an Spenderorganen. Skeptiker hielten dem entgegen, dass eine Organspende ohne Zustimmung der betroffenen Person unverhältnismäßig sei. Der Bundestag hatte die Widerspruchsregelung bei der Organspende im Januar 2020 schon einmal abgelehnt und stattdessen eine erweiterte Entscheidungslösung beschlossen.
Gesetzentwurf der Gruppe von Abgeordneten
Dem Entwurf „eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes – Einführung einer Widerspruchsregelung im Transplantationsgesetz“ (20/13804) einer fraktionsübergreifenden Gruppe von Abgeordneten zufolge soll als Spender künftig nicht nur die Person infrage kommen, die in eine Organ- oder Gewebeentnahme eingewilligt hat, sondern auch die Person, die einer Organ- oder Gewebeentnahme nicht ausdrücklich widersprochen hat.
Mit der Widerspruchsregelung solle es zu einer Selbstverständlichkeit werden, sich zumindest einmal im Leben mit dem Thema Organ- und Gewebespende auseinanderzusetzen und dazu eine Entscheidung zu treffen, ohne diese begründen zu müssen, heißt es in dem Gesetzentwurf.
Ein erklärter Widerspruch müsse verlässlich und jederzeit auffindbar sein und vor einer Entscheidung über eine Organ- oder Gewebeentnahme berücksichtigt werden, heißt es im Entwurf. Das im März 2024 in einem ersten Schritt in Betrieb genommene Register für Erklärungen zur Organ- und Gewebespende sei dafür ein wesentliches Element. Ergebe die Auskunft aus dem Register, dass der mögliche Spender dort keine Erklärung registriert habe, und liege dem Arzt auch kein schriftlicher Widerspruch des möglichen Spenders vor und sei im Gespräch mit Angehörigen auch diesen kein entgegenstehender Wille bekannt, sei eine Organ- oder Gewebeentnahme zulässig.
Wille der Organ- oder Gewebespender entscheidend
Entscheidend sei der Wille der möglichen Organ- oder Gewebespender. Dem nächsten Angehörigen stehe kein eigenes Entscheidungsrecht zu, es sei denn, der mögliche Spender sei minderjährig und habe keine eigene Erklärung abgegeben. Zur Klärung der Spendenbereitschaft soll der nächste Angehörige jedoch darüber befragt werden, ob ihm ein schriftlicher Widerspruch oder ein der Entnahme entgegenstehender Wille des möglichen Organ- oder Gewebespenders bekannt ist.
War der mögliche Organ- oder Gewebespender in einem erheblichen Zeitraum vor Feststellung des Todes nicht einwilligungsfähig und damit nicht in der Lage, eine selbstbestimmte Willenserklärung zu treffen und habe keine Erklärung zur Organ- und Gewebespende abgegeben, sei die Organ- oder Gewebeentnahme unzulässig. Die neuen Regelungen sollen dem Entwurf zufolge vorher mit einer umfassenden Aufklärung der Bevölkerung über die Bedeutung und die Rechtsfolgen eines erklärten oder nicht erklärten Widerspruchs verbunden sein.
Dittmar: Brauchen Paradigmenwechsel in der Organspende
Die SPD-Abgeordnete Sabine Dittmar sagte, die Wahrheit sei ebenso simpel wie dramatisch: „Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Organspende.“ Die betroffenen Menschen auf den Wartelisten hätten keine Zeit zu verlieren. Es sei in den vergangenen Jahren viel unternommen worden, um die strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen in der Organspende zu verbessern, sagte Dittmar und fügte mit Blick auf die Spenderzahlen hinzu: „Das Ergebnis ist ernüchternd.“ Viele Menschen warteten vergeblich auf ein Spenderorgan. Zudem sei nirgendwo in Europa die Wartezeit so lang wie in Deutschland. Dittmar betonte: „Die Entscheidungslösung ist eklatant gescheitert.“
Nach der deutlichen Verbesserung der Organspende-Strukturen fehle zur Lösung nur noch ein Baustein. Angesichts der Tatsache, dass rund 84 Prozent der Bürger der Organspende positiv gegenüber stünden und angesichts der dramatischen Schicksale sei es zumutbar, sich einmal im Leben mit der Organspende zu befassen. In Abwägung der Schutzrechte habe das Recht auf Leben einen höheren Stellenwert als das Recht, sich mit der Frage der Organspende nicht befassen zu müssen. Dittmar forderte die Abgeordneten auf, ein Zeichen zu setzen für das Leben und die Hoffnung.
Laumann will Entscheidung noch in dieser Wahlperiode
Im Namen des Bundesrates warb auch der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) für die Neuregelung. Der Bundesrat habe selbst mit großer Mehrheit eine Initiative zur Einführung der Widerspruchslösung verabschiedet. Mittlerweile verfolge eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten dasselbe Ziel. Er forderte die Abgeordneten auf, in dieser wichtigen und dringlichen Frage noch in dieser Wahlperiode eine Entscheidung zu treffen.
Laumann gab zu bedenken, dass derzeit rund 8.400 Patienten auf der Warteliste für ein Spenderorgan stehen und die Transplantationsmedizin ein „Riesensegen“ sei. Heute könnten Menschen mit einer Transplantation ein akzeptables Leben führen. Mit Blick auf die niedrigen Spenderzahlen fügte er selbstkritisch hinzu: „Wir müssen uns überlegen, ob wir das in den letzten Jahren alles richtig gemacht haben.“
Es seien in den vergangenen Jahren sehr viele Initiativen ergriffen worden, um zu mehr Organspenden zu kommen und trotzdem gingen die Zahlen nicht hoch. Es gäbe noch weniger Transplantationen, wenn Deutschland nicht von anderen Ländern profitieren würde, sagte Laumann, in denen die Widerspruchslösung gelte: „Wir sind ein Nehmerland.“ Es sei daher auch eine Frage der Solidarität, zu einer anderen Regelung zu kommen. Das Parlament habe die Möglichkeit, diese Entscheidung selbstständig zu treffen. Im Übrigen sei es „der größte Liebesbeweis“, ein Organ für andere Menschen zu spenden.
Grau: Selbstbestimmung wird gewahrt
Der Grünen-Abgeordnete und Klinikarzt Prof. Dr. Armin Grau berichtete aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, wenn die Angehörigen eines potenziellen Organspenders in dieser Ausnahmesituation eine Entscheidung für oder gegen eine Organspende treffen müssen. Die meisten Angehörigen seien in dieser Lage hilflos und ratlos und lehnten in der Folge eine Entnahme oft ab. Später bereuten Angehörige dann oft die Absage. Diese Praxis sei völlig unbefriedigend, denn hier würden Chancen zugunsten schwer kranker Patienten ausgelassen.
Grau versicherte zugleich, auch bei der angestrebten Neuregelung würden die Angehörige angehört, sie seien aber nur Übermittler von Informationen und keine Entscheider mehr. Er fügte hinzu: „Auch bei der Widerspruchslösung wird die Selbstbestimmung der Menschen gewahrt.“
Lütke: Verbesserung der Lage dringend notwendig
In der Aussprache äußerten sich Abgeordnete aber nicht nur zustimmend zu der Gesetzesvorlage, sondern teilweise auch zurückhaltend und vereinzelt sehr kritisch. Kristine Lütke (FDP) sagte, es bestehe politisch eine große Einigkeit, dass mehr Organspender benötigt werden. „Wir reden nicht über das Ziel, sondern über den Weg zum Ziel.“ Eine Verbesserung der jetzigen Lage sei dringend notwendig. Die aktuelle Situation sei „deprimierend und ernüchternd.“
Die Befürworter der Widerspruchslösung argumentierten, dass nicht mangelnde Bereitschaft, sondern Bequemlichkeit oder Scheu vor der Befassung mit dem eigenen Tod die Ursache sei für die geringe Entscheidungsfindung. Man könne aber bezweifeln, dass nur die Widerspruchslösung helfe, den Willen der Bevölkerung umzusetzen. Immerhin sei die Organspende eine höchst persönliche Entscheidung.
Die Widerspruchslösung bedeute, dass sich der Staat die Antwort auf die Frage nach der Organspende selbst herausnehme und für alle beantworte. Dabei werde der gesellschaftliche Konsens ignoriert, dass bloßes Schweigen noch keine Zustimmung sei. Lütke betonte: „Das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper über den Tod hinaus ist ein Grundpfeiler unserer Verfassungsordnung.“ Eine staatliche, verpflichtende Organbeschaffung werde den Menschen und ihrem individuellen Selbstbestimmungsrecht nicht gerecht. Erst wenn alle anderen wirksamen Wege erfolglos seien, dürfe eine Widerspruchslösung in Betracht gezogen werden. Es gebe aber noch andere Möglichkeiten, beispielsweise die Liberalisierung der Überkreuzlebendspenden.
Sichert: Körper gehört dem jeweiligen Menschen
Heftiger Widerspruch gegen den Gruppenantrag kam von der AfD-Fraktion. Martin Sichert (AfD) stellte die Frage, wem denn nun der menschliche Körper gehöre und gelangte zu dem Schluss, dass der Körper nicht der Gesellschaft, sondern dem jeweiligen Menschen gehöre. Jeder habe das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Er mutmaßte, dass hinter der Widerspruchsregelung im Grunde eine sozialistische Idee stecke, der „Volkskörper“. Er warnte: „Wehret den Anfängen.“ Der Körper sei Eigentum des Individuums und kein Ersatzteillager für die Allgemeinheit.
Die Widerspruchslösung mache den Menschen zum Allgemeingut. Das sei für die Gesellschaft und die Betroffenen problematisch. Sichert ging in seiner Rede ältere weibliche Abgeordnete anderer Fraktionen hart an und hielt ihnen vor, „altlinke“ Positionen zu vertreten. Vize-Präsidentin Aydan Özoğuz (SPD) forderte ihn auf, sich zu mäßigen und andere Abgeordnete nicht zu beleidigen.
Stamm-Fibich: Hoffnungen der Patienten nicht enttäuschen
Martina Stamm-Fibich (SPD) räumte ein, dass sich ihre Sicht auf die Widerspruchslösung seit der Entscheidung 2020 für die Entscheidungsregelung geändert habe. Sie sei der Überzeugung gewesen, dass auch ohne Widerspruchsregelung mehr Spenderorgane zu bekommen wären: „Aus heutiger Sicht war das eine Fehleinschätzung.“ Viele Menschen seien auf ein Spenderorgan angewiesen, ihr Leben hänge an einem seidenen Faden. Es sei aus ihrer Sicht zumutbar, wenn sich Menschen wenigstens einmal im Leben mit der Frage der Organspende befassten und für Klarheit sorgten: „Ein kleiner Schritt, ein Schritt, der Leben retten kann.“
Ihr Sinneswandel habe auch mit der verbesserten Organspende-Infrastruktur zu tun, ergänzte Stamm-Fibich. So sei das Organspendenregister inzwischen voll funktionsfähig. Sie betonte, die Widerspruchsregelung sei „kein Allheilmittel“, könne aber ein Baustein sein. Sie warb dafür, die Hoffnungen der Patienten nicht zu enttäuschen und wandte sich entschieden gegen Versuche, das Vertrauen in die Organspende mit falschen Anschuldigungen zu untergraben. Der Prozess der Organspende sei vertrauenswürdig.
Connemann: Deutschland bei Spenderzahlen Schlusslicht in Europa
Gitta Connemann (CDU/CSU) machte darauf aufmerksam, dass nur sehr wenige Menschen überhaupt für eine Organspende infrage kommen, weil die vorgeschriebenen Hirntodkriterien außerordentlich streng seien. In den vergangenen Jahren seien die Entnahmekrankenhäuser und Transplantationsbeauftragten gestärkt worden, das Zusammenspiel der Strukturen in der Organspende sei deutlich verbessert worden.
Nun fehle am Ende die Widerspruchslösung. Deutschland sei bei den Spenderzahlen in Europa trauriges Schlusslicht und daher auch auf Organspenden aus dem Ausland angewiesen. Daher müsste sich eigentlich jeder fragen, ob er ein Spenderorgan auch aus einem Land mit Widerspruchsregelung annehmen würde. (pk/05.12.2024)