Ex-Staatssekretärin: Visavergabe war ein großes Problem
Zeit:
Donnerstag, 17. Oktober 2024,
10 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal (4.900)
Die ehemalige Staatssekretärin im Auswärtigen Amt (AA) Antje Leendertse nannte vor dem 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) am Donnerstag, 17. Oktober 2024, die Visavergabe als eines der größten Probleme bei der Ausreise von Ortskräften aus dem Land. Im Nachhinein sehe man, dass man zu langsam gehandelt habe, sagte sie selbstkritisch. Der Untersuchungsausschuss versucht Licht in die Ereignisse zu bringen, die sich zwischen dem Abschluss des Doha-Abkommens und der militärischen Evakuierungsoperation im Flughafen Kabul Mitte August 2021 ereigneten. Mit dem Doha-Abkommen hatten die USA und die Taliban im Februar 2020 den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan geregelt.
„Visa-Entscheider-Stellen sind bei uns wie Goldstaub“
Leendertse war im Untersuchungszeitraum auch zuständig für die Rechtsabteilung im AA, der die Visareferate unterlag. Man habe die Voraussetzungen dafür, eine große Anzahl von Menschen mit Visa zu versorgen, nicht geschaffen, weil zu lange an der üblichen Visa-Prozedur festgehalten worden sei, sagte die Zeugin. Aus den bis dahin gesammelten Erfahrungen im Ortskräfteverfahren (OKV) habe man gewusst, dass es schwer werden würde, wenn die Ausreise einer großen Anzahl von Menschen bevorstünde, weil in der deutschen Botschaft in Afghanistan keine Visaabteilung mehr existiert habe. Darauf habe das AA in den Abstimmungen mit anderen Ressorts seit Ende 2020 hingewiesen.
Auf Nachfrage, warum die Visaabteilungen in Ländern in der Region rund um Afghanistan nicht verstärkt worden sei, antwortete die ehemalige Staatssekretärin, man habe immerhin in Istanbul die Visaabteilung personell verstärkt. Doch nicht jeder Mitarbeiter könne Visa ausstellen, dafür sei eine besondere Ausbildung notwendig. „Visa-Entscheider-Stellen sind bei uns wie Goldstaub“, sagte Leendertse.
Innenministerium blockiert Visa-on-Arrival-Verfahren
Schon im Dezember 2020 sei klar gewesen, dass man die sich abzeichnende große Anzahl von Visaanträgen nicht bearbeiten könne. „Es war nicht Unwille“, sagte die Diplomatin, „es hat nur sehr lange gedauert.“ Deshalb hätte das Visaverfahren vereinfacht werden müssen, wozu jedoch das BMI nicht bereit gewesen sei. Das BMI habe zwar immer betont, es würde von der Prozedur abweichen, „wenn es hart auf hart kommt“. Aber dafür müssten Triggerpunkte definiert sein. Das AA habe stets wissen wollen, was diese Trigger für den Notfall seien. Diese seien aber nicht konkretisiert worden. Der Notfall sei erst am 15. August 2021 eingetreten.
Man hätte mit Gruppenaufnahmen das Problem auch früher lösen können, meinte die Zeugin, was aber damals im Ressortkreis nicht konsensfähig war. Nicht aus bösem Willen, sondern wegen Ressortinteressen, unterstrich Leendertse. Es habe zwei Alternativen gegeben, fügte sie hinzu. Man habe Gruppen bilden oder sich alternativ auf den Paragrafen 14 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes berufen können. Dann hätten die Visa auch an der Grenze erteilt und die große Anzahl an Anträgen bewältigt werden können. Doch das BMI habe ein solches Visa-on-Arrival-Verfahren (VoA) blockiert. Leendertse sprach von einer Blockadehaltung im BMI: „Ja, das habe ich so wahrgenommen.“ Die Bitte auf VoA umzustellen, sei auch auf Ministerebene formuliert worden. Aber beim AA habe man das Gefühl gehabt, dass dies politisch nicht erwünscht gewesen sei.
Vorbereitung der Evakuierungsoperation in Kabul
Leendertse, die sich nach eigenen Angaben wenig in der Afghanistan-Frage auskannte, musste ab 3. August 2021 den Staatssekretär Miguel Berger während seines Urlaubs vertreten. Just in dieser Zeit beschleunigten sich jedoch die Ereignisse in Afghanistan. Um sich besser informieren zu können, habe sie sich am 9. August 2021 von früheren Afghanistan-Beauftragten unterrichten lassen. Kurz darauf, am 13. August, fand die erste Krisenstabssitzung statt, die sie leitete. In dieser Sitzung sei beschlossen worden, in die Vorbereitung für eine Evakuierungsoperation in Kabul zu gehen. Auf die Frage, warum nicht gleich die Evakuierung selbst beschlossen worden sei, antwortete die Ex-Staatssekretärin, zu diesem Zeitpunkt sei zwar die Evakuierung ausgeplant gewesen, man hätte aber noch Details prüfen müssen. Es seien auch 24 Stunden für die Klärung der Mandatierung notwendig gewesen. Sie persönlich habe auch nicht gewollt, dass die deutsche Botschaft abzieht, noch bevor das Krisenunterstützungsteam, das bereit stand, in Kabul eingetroffen war.
Außerdem habe man am 13. August noch gedacht, dass Kabul nicht gleich fallen würde und man für die Vorbereitung Zeit habe. Einige Beteiligte hätten zwar gesagt, dass es schneller gehen würde, aber niemand habe einen Blick in die Kristallkugel werfen können. Abschließend beantwortete Leendertse auch Fragen nach der Beschreibung der Kategorie von besonders Schutzbedürftigen. Diese sei in einem vom AA und BMI gemeinsam geschriebenen Thesenpapier definiert und von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel bewilligt worden. Auf der Liste der besonders Schutzbedürftigen hätten Personen gestanden, die wegen ihres politischen Einsatzes für den Rechtsstaat gefährdet waren und Afghanistan verlassen sollten, erläuterte sie.
Schieflage durch Doha-Abkommen
Der ehemalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt (AA) Miguel Berger hat im Untersuchungsausschuss Afghanistan die USA für das Doha-Abkommen und für Mängel beim Informationsaustausch zwischen den USA und den Alliierten kritisiert. Berger und seine Amtskollegin, Ex-Staatssekretärin Antje Leendertse, sagten über die Ereignisse aus zwischen der Unterzeichnung des Doha-Abkommens im Februar 2020 zwischen den USA und den Taliban, mit dem der Abzug internationaler Truppen in Afghanistan geregelt wurde, und der militärischen Evakuierungsoperation am Kabuler Flughafen Mitte August 2021.
Das Doha-Abkommen sei auf Kosten anderer zustande gekommen und die USA hätten damit eine Schieflage geschaffen, weil keinerlei Koppelung zwischen dem Abzug internationaler Truppen und Fortschritten in den innerafghanischen Friedensverhandlungen existiert habe. Hinzugekommen sei, dass der Vertrag die damalige afghanische Republik dazu gezwungen habe, 5.000 gefangene Taliban freizulassen. Das Abkommen habe die afghanische Regierung geschwächt.
Dysfunktionales politisches System in Afghanistan
Berger wies allerdings auch darauf hin, dass das politische System Afghanistans dysfunktional gewesen sei. Der damalige Präsident Aschraf Ghani und sein Widersacher Abdullah Abdullah hätten lange darüber gestritten, wer die Wahl gewonnen habe. Über Ghani sagte der Diplomat, er sei kein wirklicher Politiker gewesen, habe einen „professoralen Zugang“ zu den Themen gehabt. Dennoch sei er problembewusster gewesen als sein Vize Amrullah Saleh, dessen Optimismus Berger als „überzogen“ bezeichnete.
Deutschland habe mit Vehemenz versucht, nachträglich eine Konditionalität in das Doha-Abkommen zu bringen. Nach der Wahl Joe Bidens sei von US-Seite versichert worden, das Abkommen werde ernsthaft überprüft. Im April 2021 entscheid Biden als US-Präsident jedoch, den Abzug fortzusetzen und begrub damit die letzten Hoffnungen.
Gescheiterte Hoffnung auf Nachverhandlungen
Er habe gehofft, dass die USA Nachverhandlungen verlangen würde, erläuterte Berger. Die Taliban hätten das wahrscheinlich abgelehnt, aber die Hoffnung sei gewesen, dass die USA bei den heftigen Gefechten und dem Bürgerkrieg, der eventuell folgen würde, die Regierung militärisch unterstütze. So hätte der Taliban-Vormarsch gestoppt, die Regierung stabilisiert und die Taliban zu Verhandlungen gezwungen werden können.
Berger wies darauf hin, dass deutlich geworden sei, wie abhängig man in Afghanistan von den USA als „Führungsnation“ gewesen sei. Die USA hätten den Hebel umgelegt und den anderen keine Wahl gelassen. „Ohne die Amerikaner wäre überhaupt nichts möglich gewesen“ sagte der Ex-Staatssekretär und fügte hinzu: „Nicht einmal die Evakuierung hätten wir so hinbekommen.“
Laut Berger habe es auch während der militärischen Evakuierung Probleme im Informationsaustausch mit den Amerikanern gegeben. Man sei nicht richtig über den Zustand der afghanischen Sicherheitskräfte informiert worden. Auch die eigenen Evakuierungspläne der Amerikaner seien nicht rechtzeitig kommuniziert worden, wobei Berger das darauf zurückführte, dass offensichtlich auch die Kommunikation zwischen der US-Botschaft in Kabul und Washington nicht gut funktionierte.
Probleme bei der Evakuierung vom Flughafen Kabul
Zu den Problemen bei der Evakuierung vom Flughafen Kabul sagte Berger, dass sich vor den Toren des Flughafens Tausende von Binnenflüchtlingen angesammelt hatten. Im Krisenstab habe man alle Möglichkeiten erwogen, um antragsberechtigte Ortskräfte und ihre Familien zu evakuieren. Das sei nur zum Teil gelungen. Bereits Mitte Juli sei die Lage im Land so zugespitzt gewesen, dass man Ortskräfte sofort in die Maschine hätte setzen und ausfliegen sollen. Damals habe man aber nicht gewusst, wie sich die Lage entwickeln würde und gedacht, dass man noch Zeit habe.
Auf entsprechende Nachfrage gestand Berger ein, dass man auch präventiv die Sicherheitsüberprüfung der Ortskräfte hätte vornehmen sollen. Die Briten und auch die USA hätten das gemacht. Die Briten hätten die gesamte Evakuierung über die IOM (International Organisation of Migration) abgewickelt und dadurch geschafft nur Leute auszufliegen, die bereits ein Visum besaßen. Deutschlands Versuch, die IOM einzubinden, habe nicht funktioniert. „Die einzige Alternative war Visa-on-Arrival“, sagte Berger, aber das sei erst am 15. August 2021 zugestanden worden. Er zeigte jedoch auch Verständnis für das VoA-blockierende Innenministerium, weil man sich dort um die Sicherheit Deutschlands Sorgen gemacht hätte.
Untersuchungsauftrag
Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.
Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/18.10.2024)