Parlament

Robin Wagener: Russland hat kein Interesse an einer Friedensordnung

Der Abgeordnete Robin Wagener (Bündnis 90/Die Grünen) steht am Rednerpult im Bundestag.

Robin Wagener (Bündnis 90/Die Grünen) leitet die deutsche Delegation zur Parlamentarischen Versammlung der Europäischen Union. (© DBT/Thomas Imo/Photothek)

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine war das bestimmende Thema bei der Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE PV) vom 29. Juni bis 3. Juli 2024 in Bukarest, berichtet Robin Wagener (Bündnis 90/Die Grünen), Leiter der deutschen Delegation zur OSZE PV. „Russland will eine Konfliktordnung in Europa. Dem müssen wir uns als Parlamentarische Versammlung der OSZE geschlossen entgegenstellen“, so der Außenpolitiker. Im Interview spricht Wagener über die „aggressive und revisionistische“ Politik Russlands, die künftige Rolle der OSZE in der europäischen Sicherheitsarchitektur und wie die demokratischen Gesellschaften sich resilienter gegen Desinformation aufstellen können. Das Interview im Wortlaut:

Herr Wagener, was für Themen haben die Parlamentarische Versammlung bei der diesjährigen Jahrestagung vor allem bewegt?

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine war das bestimmende Thema auf der Jahreskonferenz. Sowohl in den Ausschüssen als auch im Plenum der Versammlung wurden zusätzliche Beratungsgegenstände beschlossen, die die russische Aggression in der Ukraine aufs Schärfste verurteilen, eine juristische Aufklärung russischer Kriegsverbrechen in den besetzten Gebieten fordern und die OSZE -Mitgliedstaaten zu mehr humanitärer und militärischer Unterstützung für die Ukraine auffordern. Das Abschlussdokument der Jahrestagung ist ein Zeichen starker Geschlossenheit und ungebrochener Solidarität mit der Ukraine. Daneben waren Themen wie internationale organisierte Kriminalität, sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Konflikten oder erneuerbare Energien in Zentralasien befasst. Und natürlich war der Nahost-Konflikt Thema.

Zypern hatte den Nahostkonflikt auf die Tagesordnung gesetzt. Deutet das nicht auf eine um sich greifende „Ukraine-Müdigkeit“ der Staatengemeinschaft im Hinblick auf den sich hinziehenden Angriffskrieg/Abwehrkampf zwischen Russland und der Ukraine hin?

Von einer „Ukraine-Müdigkeit“ kann keine Rede sein. Auf allen Konferenzen der OSZE PV seit der russischen Vollinvasion im Februar 2022 war der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine das bestimmende Thema. So auch in Bukarest. Aber natürlich beschäftigt sich die Parlamentarische Versammlung auch mit anderen Themen und mit Konflikten in der unmittelbaren Nachbarschaft. Israel ist zwar kein Mitgliedstaat, dennoch unterhält die OSZE spezielle Beziehungen zu dem Land im Rahmen der Kooperationspartnerschaft im Mittelmeerraum. Auch bei den vergangenen Sitzungen war dieser Konflikt natürlich in der Debatte präsent. Es waren auch israelische Delegierte auf der Jahreskonferenz. Zypern befürchtet als Reaktion auf die ständigen Angriffe der Hisbollah auf Israel im Norden eine Ausweitung des Nahostkonflikts zum Beispiel auf den Libanon. Das muss verhindert werden.

Von Georgien/Südossetien bis Moldau/Transnistrien: Russland kultiviert seit Jahrzehnten eine in der Wissenschaft sogenannte Zone eingefrorener Konflikte, um im postsowjetischen Raum seinen Einfluss zu wahren. Hat der massive Angriff auf die Ukraine nun den Blick auch für diese vom Westen gerne verdrängten und „vergessenen“ Krisenherde geschärft? Wie gehen die Parlamentarier damit um? 

Russland betreibt eine imperialistische Politik, die auf die Wiederherstellung einer vermeintlichen „Russischen Welt“ abzielt. Nur will niemand mehr Teil dieser russischen Welt sein. Die baltischen Staaten sind Teil der EU und der Nato. Vor Kurzem haben die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau begonnen. Auch in Georgien wünscht sich die Mehrheit der Bevölkerung eine Zukunft in der Europäischen Union. Es ist auch auffällig, dass kaum noch jemand die russische Sprache benutzt, die eine der Amtssprachen der OSZE ist. Wie Sie richtig sagen, agiert das russische Regime nicht erst seit der Vollinvasion in der Ukraine aggressiv und revisionistisch. Unsere osteuropäischen Partner haben seit Jahren vor Russlands Politik gewarnt, auch in der OSZE PV. Der Westen hätte früher und schärfer auf die russische Aggression wie das militärische Eingreifen in Südossetien 2008 und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 reagieren müssen.

Wie soll die Staatengemeinschaft mit dem jüngst von der georgischen Regierung verabschiedeten Gesetz zu „ausländischer Einflussnahme“ umgehen, das die Meinungsfreiheit beschränkt?

Ich halte die Verabschiedung des sogenannten „Agentengesetzes“ für einen großen Fehler. Es liegt auf der Hand, dass das Gesetz im Widerspruch zu grundlegenden europäischen Werten steht. Medienfreiheit und eine freie und unabhängige Zivilgesellschaft sind fundamentaler Kern aller Demokratien. Einen Beitritt in die EU kann es mit diesem Gesetz nicht geben. Deshalb ist es richtig, dass die EU den Beitrittsprozess mit Georgien vorläufig auf Eis gelegt hat. Die georgische Regierung ignoriert den Willen der großen Mehrheit der eigenen Bevölkerung, die sich eine Zukunft ihres Landes in der Europäischen Union wünscht. Die Wahlen im Oktober werden zeigen, wie die Georgierinnen und Georgier den antieuropäischen Kurs ihrer Regierung bewerten. 

Um bei der Bekämpfung russischer Desinformation voran zu kommen, hat die deutsche Delegation weitere Delegationen zu einer Nebenveranstaltung eingeladen. Was schlagen die Parlamentarier vor?

Ein großer Mehrwert der OSZE PV ist der interparlamentarische Austausch. Genau diesen Austausch wollte ich mit der Initiative für das Side Event auf das Thema Desinformation lenken. Russlands Desinformationskampagnen treffen uns alle, häufig mit ähnlichen Narrativen und Strategien. Denn letztlich geht es Russland darum, nicht nur einzelne Länder, sondern die demokratische Welt insgesamt zu destabilisieren. Andere Staaten haben jahrelange Erfahrung mit russischer Desinformation und sind viel weiter in der Antwort darauf als wir es sind. 

Zum Beispiel?

Drei Beispiele: Litauen steckt viel Geld in zivilgesellschaftliche Strukturen, die Falschinformationen entlarven. Estland sperrt russischsprachige Propagandakanäle im Land seit Jahren konsequent. Und Finnland hat einen „Zukunftsausschuss“ eingesetzt, der Szenarien für zukünftige Entwicklungen entwirft und vorbereitende Maßnahmen vorschlägt. 

Was bedeutet das für Deutschland?

Langfristig muss es auch bei uns darum gehen, die deutsche Gesellschaft resilienter gegen Desinformation zu machen, zum Beispiel durch bessere Medienbildung. Gleichzeitig brauchen wir stärkere Regulierung, bessere Strafverfolgung und ein effektives Vorgehen gegen Bots und andere technische Lügenfabriken, besonders im Bereich Social Media. Künstliche Intelligenz wird die Möglichkeiten für Desinformation in den nächsten Jahren erheblich steigern. Darauf müssen wir uns schon heute vorbereiten.

Russland hat nach seinem schrittwiesen Rückzug von der Mitarbeit in der OSZE und auch formell die Arbeit in der Versammlung eingestellt. Ist das ein historischer Schnitt? Und was folgt daraus für das Gremium, das für eine Institution steht, die einst im damaligen Ost-West-Konflikt dazu gegründet wurde, miteinander zu sprechen und Felder der Verständigung zu bestellen?

Russland hat in den letzten Jahren immer wieder angekündigt, aus der OSZE PV auszutreten. Interessanterweise immer unmittelbar vor einer Tagung. Die jüngste Ankündigung ist also kein historischer Einschnitt, sondern folgt einem bekannten Muster. Russland kommt seinen Zahlungsverpflichtungen seit Jahren nicht nach und versucht, die OSZE systematisch zu blockieren. Ein offizieller Rückzug Russlands würde wenig an der Arbeit der Parlamentarischen Versammlung ändern. Auf der Jahrestagung in Bukarest waren weder russische noch belarussische Delegierte dabei. Die OSZE PV bleibt ein wichtiges Forum für den interparlamentarischen Austausch zu sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und menschenrechtlichen Fragen.

Die OSZE thematisiert vermehrt, was ihre Rolle in der europäischen Sicherheitsarchitektur zukünftig sein könnte. Muss die Organisation sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und auf die Prinzipien der Nachkriegsordnung neu erfinden?

Die OSZE ist aus der Konferenz für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa entstanden, die den Grundstein der europäischen Friedensordnung gelegt hat. In der Schlussakte von Helsinki 1975 hat sich die Sowjetunion den Prinzipien der Unverletzlichkeit der Grenzen, der friedlichen Konfliktlösung und der Wahrung von Menschenrechten und Grundfreiheiten verpflichtet. Russland tritt diese Vereinbarung mit Füßen. Unter Putin hat sich das russische Regime zu einem revisionistischen Regime entwickelt, das seine Grenzen mit Gewalt verschieben will. Russland hat kein Interesse an einer Friedensordnung. Russland will eine Konfliktordnung in Europa. Dem müssen wir uns als Parlamentarische Versammlung der OSZE geschlossen entgegenstellen. Wir bleiben Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa verpflichtet.

(ll/04.07.2024)