1. Untersuchungsausschuss

Plötner: Deutschland wollte Bedingungen für Doha-Abkommen

Flüchtlinge besteigen ein US-amerikanisches Militärflugzeug in Kabul im August 2021.

Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss setzte seine Zeugenvernehmungen fort. (© picture alliance / Zumapress.com | U.S. Air Force)

Der ehemalige Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt (AA) Jens Plötner, hat am Donnerstag, 27. Juni 2024, bei seiner Befragung durch den 1. Untersuchungsausschuss „Afghanistan“ erklärt, dass man einen realistischen Blick darauf haben müsse, was man mit militärischen Mitteln im Ausland bewirken könne. Der Ausschuss untersucht die Schlussphase des Afghanistan-Einsatzes, die mit dem Doha-Abkommen im Februar 2020 begann und mit der Eroberung Kabuls durch die Taliban Mitte August 2021 endete.

Zeuge: Viele Ziele wurden nicht erreicht

In Afghanistan seien alle gesetzten Ziele richtig gewesen, sagte Plötner, doch im Ergebnis seien viele davon nicht erreicht worden. Eines der Ziele in Afghanistan sei gewesen, dass von dort aus kein Terroranschlag mehr ausgeht. „Wenn wir heute nach Afghanistan schauen, macht es uns Sorge, was sich dort zusammenbraut“, sagte Plötner. Außerdem müssten sinnvolle Exit-Szenarien mitgedacht und eigene Evakuierungsfähigkeiten aufgebaut werden. 

Mit Blick auf das Jahr 2021 zeichnete Plötner das Bild eines insgesamt schwierigen Jahres. Damals habe die Nato vor einer Anpassung auf ein neues Umfeld gestanden, Verhandlungen mit dem Iran über dessen Atom-Programm seien gelaufen und es habe ständige Krisen zwischen der Türkei und Griechenland gegeben. Hinzu gekommen sei die Corona-Pandemie. Unmittelbar nach dem Fall Kabuls sei das AA auf politischer Ebene besorgt darüber gewesen, wie sich diese Entwicklungen auf die Region auswirken würden. Deutschland habe deshalb versucht, mit diplomatischen Mitteln das Umfeld zu stabilisieren. 

„Das Schlimmste war die Unsicherheit“

Die Beziehungen zu den USA im Untersuchungszeitraum erläuterte der ehemalige Leiter der Politischen Abteilung das AA, in dessen Verantwortung dieses Feld fiel, in drei Phasen. In der ersten Phase habe in Washington noch die Trump-Administration regiert. Unter Trump hätten die Verbündeten keinen großen Stellenwert gehabt. Niemand habe gewusst, was am nächsten Tag passieren würde. In der US-Hauptstadt habe die rechte Hand nicht gewusst, was die linke Hand tue.

In der zweiten Phase, die von Anfang 2021 bis in den Frühsommer hineinreichte, habe die neue Biden-Regierung das Doha-Abkommen neu bewertet. Es habe ein allgemeines Rätselraten gegeben, was das Ergebnis sein würde, sagte Plötner, man habe nicht mehr als unterschiedliche Gerüchte gehört. Diese Unsicherheit sei das Schlimmste gewesen.

Amerikaner gegen deutschen Vorschlag

Die dritte Phase sei die Zeit nach dem endgültigen Beschluss Bidens gewesen, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Laut Plötner hat es in dieser Zeit ein „Disconnect“ zwischen dem gegeben, was er gelesen habe, was in der Nato gesagt wurde und was man in Kabul vor Ort mitbekommen habe. Er betonte, Deutschland habe versucht, die USA dazu zu bewegen, das Doha-Abkommen mit Bedingungen zu verbinden, wobei man die Chancen realistischerweise als gering eingeschätzt habe. Das Argument der Amerikaner gegen den deutschen Vorschlag sei gewesen, dass das „mit erhöhter Gewalt einhergehen würde“. Viele in der Nato hingegen hätten die deutsche Initiative unterstützt.

Unmittelbar vor dem Fall Kabuls hätten die Amerikaner bereits gesagt, dass die Entwicklungen sich beschleunigen würden, erinnerte sich der Diplomat. Der Eindruck sei aber gewesen, dass es sich nicht um Tage, sondern um Wochen handelte. In einem Telefonat zwischen dem US-Außenminister Anthony Blinken und dem damaligen deutschen Außenminister Heiko Maas habe der Amerikaner den 31. August als Abzugstermin genannt. Doch mit dem 15. August sei alles ins Rutschen gekommen. 

Dass an diesem Tag Kabul in die Hände der Taliban fallen würde, sei „nicht im Bereich des Vorstellbaren“ und alles danach „ein Rennen mit der Zeit“ gewesen. Seiner Meinung nach hat damals die militärische Logik die Oberhand gewonnen: „Die Kommandeure vor Ort sagten, wenn ich nicht jetzt abziehe, wird es noch länger dauern.“ Das habe bestimmt auch die Situation mit beeinflusst.

Kooperation mit USA ein „Lichtblick im Chaos“ 

Auch zwischen den Ressorts in Deutschland habe es unterschiedliche Lageeinschätzungen gegeben, führte Plötner weiter aus. Das sei aber im System so vorgesehen und sehr positiv gewesen. Dramatik sei nur durch die sich überschlagenden Ereignisse im Juli und August entstanden. Nach seinem persönlichen Eindruck sei der damalige Außenminister Maas von den Ereignissen vor und nach dem 15. August sehr mitgenommen gewesen. Afghanistan sei seine oberste Priorität und er sehr engagiert gewesen.

Die Kooperation mit den USA über die Nutzung des US-Militärstützpunktes in Ramstein bezeichnete Plötner „ein Lichtblick in dem ganzen Chaos“, weil es gut funktioniert habe, obwohl es auch nicht einfach gewesen sei. Die Amerikaner, die mit der geografischen Distanz zwischen den USA und Afghanistan ein Problem hatten, wünschten, einen Teil ihrer Ortskräfte zunächst nach Deutschland auszufliegen, um sie dort zu überprüfen: „Wir hatten aber kein Interesse, der Vorposten des amerikanischen Immigration Office zu werden.“ Schließlich habe es einen Kompromiss gegeben. Die USA hätten als Gegenleistung deutsche Ortskräfte mit ausgeflogen. „Die Amerikaner waren sehr dankbar“ sagte Plötner, „und wir haben ein genuines Interesse, dass die Amerikaner ihre Präsenz in Deutschland wertschätzen“.

Verschlankung des Ortskräfteverfahrens

Als weiterer Zeuge erklärte der ehemalige Leiter der Rechtsabteilung im AA, Christophe Eick, den Unterschied von zwei Gesetzesparagrafen, die beim Ortskräfteverfahren (OKV) infrage kommen. Das klassische Verfahren sehe Einzelprüfungen der Ortskräfte vor, was zu langen Bearbeitungsdauern führe. Anfang 2020 habe man begonnen, sich darüber Gedanken zu machen, wie man das Verfahren verschlanken könne. 

Der Grund: Nach dem Abschluss des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban, das den Rückzug der internationalen Truppen regelte, sei jedem klar gewesen, dass das nicht ohne Folgen für die Ortskräfte bleiben würde. Die Visastellen seien nicht ausreichend besetzt gewesen, um eine große Anzahl von Anträgen zu bearbeiten. Bei der Terminvergabe sei es zu Wartezeiten gekommen.

Übergang auf „Visa on Arrival

Daher habe sich das AA frühzeitig dafür eingesetzt, beim OKV auf das Verfahren „Visa on Arrival“ überzugehen, so der Zeuge. Das Bundesinnenministerium (BMI) sei jedoch zurückhaltend gewesen. Ein Punkt seien Sicherheitsbedenken gewesen. Dabei sei es um Gefahren gegangen, die von den aufzunehmenden Personen ausgehen könnten. Ein anderer Punkt sei gewesen, dass die Bundespolizei personell nicht angemessen aufgestellt war, um so viele Personen mit Visa zu versehen. Mit dem Beginn der Evakuierungsoperation sei das BMI dann sehr schnell umgeschwenkt.

Eick erwähnte, dass sein Gesprächspartner beim BMI immer betont habe, sich erst bei weiteren Lageverschärfungen über das „Saigon-Szenario“ Gedanken zu machen. Mit dem Begriff gemeint ist der überhastete Abzug der USA in der Endphase des Vietnamkrieges im Jahr 1975. 

Beschränkung auf 8.000 Personen

Der Zeuge führte weiter aus, dass sich Innen- und Außenressort im September 2021, also einen Monat nach dem Fall Kabuls und dem Ende der Evakuierungsoperation am Kabuler Flughafen, auf Staatssekretärsebene über Kriterien verständigt hätten, nach denen das AA eine Liste für Gruppenaufnahmen erstellen sollte. So sollten bestimmte Gruppen von Personen wie Journalisten oder Abgeordnete definiert werden, die aufgrund ihrer Tätigkeiten einer Gefahr ausgesetzt gewesen sind. „Es ging damals, Ende August, Anfang September um migrationspolitische Fragen“, erinnerte sich der ehemalige Abteilungsleiter. 

Das Interesse des AA sei gewesen, eine Zusage für die Aufnahme einer möglichst hohen Zahl von Menschen zu bekommen. Doch das BMI habe die Zahl auf 8.000 beschränkt. So hätte man beim AA in sogenannten Bereinigungssitzungen die Listen aus verschiedenen Referaten auf diese Zahl reduzieren müssen, berichtete Eick.

„Wir haben diese Dynamik nicht gesehen“

Der nächste Zeuge war Werner Ader vom Bundesnachrichtendienst (BND). Ader ist Leiter der Abteilung LB, die für die Erstellung von Lageberichten verantwortlich ist. Die Abteilung ist sowohl in der Öffentlichkeit als auch innerhalb des BND in Kritik geraten, weil sie nicht auf dem Radar hatten, dass Kabul am 15. August 2021 den Taliban in die Hände fallen könnte.

Ader sagte dazu, dass er nicht abschließend beantworten kann, wie es dazu kam. „Ich finde, meine Mitarbeiter haben nichts falsch gemacht“, sagte er. Die Informationsgewinnung sei sichergestellt gewesen. „Wir haben auch keinen grundsätzlichen, methodischen Fehler gemacht. Wir haben aber diese Dynamik nicht gesehen.“ Bis heute sei es ihm nicht klar, woran es gelegen haben könnte, so der Zeuge.

„Langsame Erosion“ in Afghanistan

In seiner Abteilung hätten sie über diese Frage intensiv diskutiert und seien zu dem Schluss gekommen, dass der Fehler teilweise an der Kommunikation gelegen haben muss. Der BND habe seit Langem immer wieder betont, dass in Afghanistan eine langsame Erosion stattfinde. Deswegen seien sie von anderen Ressorts sogar zu Schwarzsehern erklärt worden, sagte der Jurist.

In ihren internen Diskussionen hätten einige Mitarbeiter gemeint, „dass wir in den Formulierungen deutlicher hätten werden müssen, andere hingegen sagten, man hätte den 'worst case' in den Vordergrund stellen müssen“.

Verärgert über Kritik von Heiko Maas

Mit den Befunden der internen Revision, die die BND-Leitung nach dem Fall der afghanischen Hauptstadt umgehend in Auftrag gegeben hatte, sei er nicht zufrieden, betonte Eick. Verärgert äußerte er sich jedoch während der Sitzung über die Kritik des ehemaligen Bundesaußenministers Heiko Maas, der gesagt habe, die Entscheidungen, die aufgrund der Lageberichte des BND getroffen worden seien, hätten zu katastrophalen Ergebnissen geführt. 

Aus seiner eigenen Berufserfahrung könne er sagen, unterstrich der Zeuge, die Lageberichte des BND seien eine unter vielen anderen Lageberichten aus anderen Ressorts, und er sei sehr skeptisch, ob ein Ressort allein aufgrund des BND-Lageberichts Entscheidungen treffen würde. „Zumal, wenn es eine eigene Quelle gibt“, fügte er hinzu.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/01.07.2024)

Zeit: Donnerstag, 27. Juni 2024, 12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal 4.900

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