Rede des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, im Deutschen Bundestag
Liebes deutsches Volk!
Alle, die spüren, dass Krieg falsch ist. Alle, die wie die Ukrainer überzeugt sind, dass Krieg ein Verbrechen gegen das Leben ist und die mit ganzem Herzen wollen, dass die Ukraine so schnell wie möglich Frieden erreicht. Alle, die uns unterstützen, die unser Volk, die ukrainischen Familien, den ukrainischen Staat, unseren Schutz unterstützen. Euch allen möchte ich heute vor allem danken - dafür, dass in euren Herzen die Menschlichkeit siegt. Deshalb ist Deutschland dem Schmerz und dem Leid der Ukrainer nicht fremd geblieben. Einfache Menschen, verschiedene deutsche Städte, Bundesländer und Gemeinden - ihr habt geholfen und ihr helft weiter.
Ich danke Dir, Deutschland!
(Beifall)
Meine heutige Rede ist euch allen gewidmet: Denen, die Macht haben, und denen, die Macht geben. Denen, die in ihren Herzen die Menschlichkeit bewahren und deshalb dem Traum von einem friedlichen Europa treu bleiben. Einem Europa, das größer ist als wir alle und das an die Erfahrung von Hunderten von Generationen erinnert, die auf unserem Kontinent gelebt haben - die meisten von ihnen leider nicht in Frieden.
Gerade deshalb hat dieser Traum eine so große Kraft gewonnen: Der Traum von einem Europa, das ein Kontinent der Kultur, ein Kontinent der Menschen und ein Kontinent ohne Krieg sein soll.
(Beifall)
Ich persönlich glaube an ein solches Europa.
An ein Europa, das für unsere Kinder und Kindeskinder eine glückliche Heimat sein wird.
Das es dem Hass nicht erlauben wird, Wurzeln zu schlagen.
Und das alles tun wird, um diesen Fehler der europäischen Geschichte zu korrigieren, diesen Krieg, der auf unserem Kontinent andauert und der zu einer viel größeren Konfrontation zu werden droht.
Wir werden diesen Krieg nicht vererben.
Wir werden diesen Krieg beenden.
Wir werden diesen Krieg beenden im Interesse der Ukraine und im Interesse von ganz Europa. In unser aller Interesse.
(Beifall)
Im Interesse aller, die nach uns kommen.
Wir werden diesen Krieg beenden zu unseren Bedingungen. Zu Bedingungen, die jeder Mensch nachvollziehen kann, jeder einfache Mensch auf dieser Erde.
Herr Bundespräsident!
Herr Bundeskanzler!
Frau Bundestagspräsidentin!
Frau Bundesratspräsidentin!
Verehrte Damen und Herren!
Verehrte Abgeordnete!
Verehrte Anwesende!
Liebes Deutschland!
Das geteilte Europa war nie friedlich und das geteilte Deutschland war nie glücklich.
(Beifall)
Das wissen Sie nicht von mir, das wissen Sie aus eigener Erfahrung, und deswegen können Sie uns Ukrainer verstehen, warum wir so gegen die Versuche Russlands kämpfen, uns zu teilen, die Ukraine zu teilen. Warum wir alles, wirklich alles tun, um keine Mauer zwischen den Teilen unseres Landes entstehen zu lassen.
(Beifall)
Kein Land darf dazu verurteilt werden, dass Stacheldraht seinen Körper auf Jahrzehnte zerreißt.
Für die unterdrückten Völker Europas gab es nie wirkliche Ruhe. Einige mussten auch nach dem Sieg über die Besatzer weiter gegen die Unterdrückung kämpfen.
Gerade deshalb wollen wir jetzt, dass keine Unterdrückung auf dem von Angriffen gezeichneten Land zurückbleibt, keine Unterdrückung in der Seele des Volkes.
Die Ukrainer verdienen Ruhe, einfach Ruhe nach diesem Krieg.
Und jeder, der sein Haus verteidigt hat, jeder, der Angehörige verloren hat, jeder, dessen Kampfbrüder und Kampfschwestern für immer auf den Schlachtfeldern geblieben sind, verdient ein würdiges Ende des Krieges - ein Ende, das keinen Zweifel lässt: Wer hat eigentlich gewonnen?
(Beifall)
Im Gegenteil: Wer den Krieg gebracht hat, der soll die Ruhe für immer vergessen. Wer schuldig ist am Krieg, muss die gerechte Verantwortung für jedes Verbrechen dieses Krieges tragen.
Nur aus der gerechten Verantwortung erwächst die historische Chance, sich von der Aggression zu erholen.
Russland muss diesen Weg gehen - durch die volle, fundamentale Verantwortung für den entfachten Krieg.
Russland muss auch den Weg der Beseitigung der hinterlassenen Trümmer gehen und für alle Schäden bezahlen, die diese Aggression unserem Land und unserem Volk zugefügt hat.
Denn wenn irgendwo Trümmer zurückbleiben, heißt das: Irgendwann kehrt der Krieg dorthin zurück. Das darf nie mehr sein. Nie mehr.
Wir müssen das normale Leben wieder aufbauen. Alle zusammen. Alle, die das Leben schätzen.
Und alle russischen Vermögen, die dafür eingesetzt werden können, müssen eingesetzt werden. Ohne Kompromisse, ohne Kompromisse mit dem Aggressor. Die Zeit der Kompromisse ist vorbei.
Vorbei seit dem Moment, als Putin begann, unsere Städte niederzubrennen und seine Mörder auszuzeichnen, als er begann, auf Mord statt auf Verträge zu setzen.
Die russische Armee hinterlässt Dutzende neuer Friedhöfe. Das bedeutet, dass keiner von uns das Recht hat, einen Mangel an Schutz vor der russischen Armee zuzulassen. Das Wort von irgendjemandem in Moskau darf kein solcher Schutz sein.
Europa muss ein Kontinent der ausreichenden Stärke sein, um ein Raum des ausreichend starken Friedens zu sein. Anders geht es nicht.
Und selbst wenn es jemand versuchen sollte, wird Putin selbst jede Hoffnung auf Verständigung mit ihm zerstören. Er will unterwerfen - und nicht nur Russlands Nachbarn. Die russischen Mörder waren in Aleppo und sind jetzt in Afrika. Sie haben Krieg gelernt, als sie Grosny zerstörten und Georgien zerschlugen. Sie haben Moldova geteilt zurückgelassen und Belarus in die Knie gezwungen.
Werden wir zulassen, dass Russland seinen Marsch durch Europa fortsetzt - diesen Marsch der Verachtung des Lebens und der Völker?
Mit Sicherheit nicht.
Das ist unser gemeinsames Interesse. Es ist unser gemeinsames Interesse, dass Putin persönlich verliert.
(Beifall)
Dass er diesen Krieg verliert. Dass Putin seinen Versuch, Europa in einen endlosen Krieg zu stürzen, verliert.
Damen und Herren!
Sie erinnern sich sicher: Ein, zwei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer konnte sich niemand vorstellen, wie schnell das geschehen würde. Die Mauer schien für immer zu sein. Aber sie steht nicht mehr. Und das hing vom Willen der Politiker und vom Willen der Menschen ab. Nur davon.
Auch jetzt scheint es manchen, dass Putin für immer ist und dass der Krieg nie aufhören wird. Aber das ist nicht so, das ist eine Illusion. Eine Illusion, die man mit Führungsstärke, Entscheidungen und Erfolg überwinden kann.
Und das tun wir! Gemeinsam mit Dir, Deutschland! Die Ukrainer werden Euch dafür immer dankbar sein.
(Beifall)
Die Ukraine leistet seit mehr als 800 Tagen Widerstand gegen die groß angelegte Aggression. Seit 839 Tagen.
Am 24. Februar 2022, zu Beginn dieser Aggression, hätte niemand daran geglaubt, aber heute ist es eine Tatsache.
Wir haben bewiesen, dass Russland scheitern und verlieren kann. Wir haben bewiesen, dass wir gemeinsam mit unseren Partnern über alle notwendigen Mittel verfügen, um Leben zu verteidigen.
Wir haben bewiesen, dass wir durch unsere Zusammenarbeit den Raum der Sicherheit erweitern können. Und dieser Raum der Sicherheit erweitert sich nicht von selbst, sondern nur durch gemeinsame Entscheidungen und durch gemeinsamen Mut.
All das sind Tatsachen. All das sind Zeugnisse der Führungsrolle der Ukraine, Deutschlands und all unserer Verbündeten, all unserer Partner. Das gilt für die Führungsrolle aller, die in diesem Saal des Bundestages anwesend sind. Ich bedanke mich persönlich bei jeder und jedem hier.
(Beifall)
Besonders dankbar bin ich für die Führungsrolle bei der Lieferung von „Patriots“ an die Ukraine. Ich danke euch. Ihr habt damit Tausenden von Menschen das Leben gerettet. Danke.
(Beifall)
Haben wir mit euch ein anderes Ziel als den Frieden?
Nein.
Gibt es einen anderen kontinentalen Traum als ein friedliches Europa?
Nein.
Haben wir eine andere Verpflichtung als die, unsere Völker, unser Europa und die regelbasierte internationale Ordnung zu schützen?
Nein.
Es ist Russland, das andere Ziele und andere Träume hat. Es steht allein gegen uns alle. Deshalb müssen wir es gemeinsam zwingen, sich zu ändern, und das ist möglich. Denn es gibt keine Mauern, die nicht fallen.
(Beifall)
Damen und Herren!
In wenigen Tagen treffen wir uns in der Schweiz mit dem deutschen Bundeskanzler und anderen Leadern aus Europa und der Welt zum ersten Friedensgipfel. Russland hat versucht, den Gipfel zu sabotieren, aber er wird stattfinden. Das ist ein gemeinsamer Erfolg der Ukraine und Dutzender Länder.
Nachkriegsordnungen wurden üblicherweise von den Siegern festgelegt oder von einigen wenigen Starken, die sich einmischen und andere zwangen, auch gegen deren Willen.
Wir schlagen nun ein grundlegend anderes Format vor.
Wo niemand Vereinbarungen manipulieren und zerstören kann - wie es Russland mehrfach getan hat - und wo alle Stimmen gehört werden - die Stimmen der Welt.
Beim Friedensgipfel werden Staaten aus allen Teilen der Welt vertreten sein, und jeder kann in der gemeinsamen Arbeit seinen Charakter und seine Führungsrolle zeigen. Unser gemeinsames Ziel ist es, Schritt für Schritt den vollständigen Wiederaufbau der Sicherheit zu beginnen und eine Bewegung in Richtung eines echten Friedens zu initiieren. Dabei wollen wir Schritt für Schritt die Wirksamkeit der Charta der Vereinten Nationen und die der Grundprinzipien des Völkerrechts wiederherstellen, sodass die Souveränität und territoriale Integrität der Staaten sowie die Rechte der Menschen und Völker wieder garantiert werden können.
Wir wollen der Diplomatie eine Chance geben und haben dafür rund 100 Staaten versammelt.
Die Ukraine hat sich nie allein auf die Macht der Waffen verlassen. Ja, wir wissen, gegen welche Mörder wir heute kämpfen müssen. Und wir werden nicht vergessen, dass nur Waffen wirksam sind, um sie zu stoppen und unsere Leben zu schützen.
Aber Frieden entsteht nicht durch Schüsse, sondern durch Garantien - durch verlässliche Garantien, dass es keine Schüsse mehr geben wird und dass das Böse nicht in das Land des Volkes zurückkehren wird, das dieses Böse vernichten wollte.
(Beifall)
Was kann der Ukraine jetzt solche Garantien geben? Die Einheit der Welt - daher ist der Friedensgipfel wichtig. Die Einheit der Freunde - daher muss unsere Zusammenarbeit mit euch effektiv sein. Die Einheit Europas - daher muss die Ukraine ein vollwertiges Mitglied des europäischen politischen und Sicherheitsraums werden. So wie ihr und eure Nachbarn seit Jahrzehnten dank dessen ohne die Gefahr leben, dass euch jemand eure Heimat nimmt.
(Beifall)
Liebe Freunde!
Es liegt an uns, an all unseren Partnern, an allen, die das Leben schätzen und heute zu seinem Schutz beitragen, gemeinsam zu bestimmen, was das Erbe Europas für die kommenden Zeiten sein wird. Ist es Sicherheit? Ist es Respekt? Ist es Frieden?
Ich bin sicher, dass wir gemeinsam die richtige Antwort wählen werden.
Wir werden das Ende dieses Krieges wählen, zu unseren Bedingungen. Wir werden auch den Mangel an Sicherheit in Europa vollständig beseitigen, der Putin die Illusion gab, dass seine aggressiven Schritte Erfolg haben würden.
Es ist unsere gemeinsame Führungsrolle und der Wille der Ukrainer, die Erfolg haben müssen – für den Frieden, für Europa, für das Leben.
Und so wird es sein.
Es wird Europa geben – einen Kontinent ohne Krieg.
(Beifall)
Danke für die Einladung! Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Ich danke euch für eure Empathie gegenüber unseren Menschen, die ihr seit Beginn des Krieges aufgenommen habt. Wir werden das nie vergessen.
Vielen Dank, Deutschland!
Slava Ukraini! [Ruhm der Ukraine!]
(Langanhaltender Beifall - Die Anwesenden erheben sich)