1. Untersuchungsausschuss

Informationen wurden nicht methodisch gewichtet

Soldaten stehen in einer Zufahrt an einem Kontrollpunkt

Fallschirmjäger kontrollieren mit internationalen Partnern den Zugang zum Flughafen in Kabul im August 2021 im Rahmen des Evakuierungseinsatzes auf dem Flughafengelände in Afghanistan. (© Bundeswehr/Einsatzkameratrupp)

Der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) hat sich in seiner Sitzung am Donnerstag, 6. Juni 2024, zunächst intensiv mit einer Krisenstabsitzung am 13. August 2021 beschäftigt. Der erste Zeuge, der damalige Krisenbeauftragte des Auswärtigen Amtes (AA) Ole Diehl, berichtete, dass aufgrund seiner Vorlage und den aktuellen Entwicklungen in dieser Sitzung beschlossen worden sei, sich auf eine Evakuierung aus Afghanistan vorzubereiten, allerdings ohne sie bereits in Gang zu setzen.

Der Ausschuss untersucht die Ereignisse zwischen dem Abschluss des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020, das den Rückzug internationaler Truppen regelte, und der chaotischen Evakuierung aus dem Flughafen Kabul im August 2021.

Vielzahl widersprüchlicher Informationen

Diehl, der aus gesundheitlichen Gründen nur für einen Monat den Posten des Krisenbeauftragten übernommen hatte, beschrieb, wie kompliziert die Lage in Afghanistan und seine Arbeit als Krisenbeauftragter in dieser Zeit war. Während sich die Sicherheitslage vor Ort zuspitzte, seien ihm in Berlin „eine Vielzahl von Informationen“ zur Verfügung gestellt worden, die teilweise widersprüchlich gewesen seien. Unter diesen Bedingungen habe er Ende Juli 2021 die ersten Überlegungen zu einer Evakuierung angestellt.

Genau diese Überlegungen seien später auch die Grundlage für die Entscheidung am 13. August 2021 in der Krisenstabsitzung gewesen. Dort sei aber nicht die Evakuierung selbst beschlossen worden, betonte Diehl immer wieder. Vielmehr sei beschlossen worden die Evakuierung von deutschen Staatsangehörigen, des Botschaftspersonals und den ausreiseberechtigten Ortskräften vorzubereiten. Dabei sei die Evakuierung der Ortskräfte eine der Herausforderung gewesen. Es sei ein langer Prozess des Abwägens gewesen, so Diehl. Dabei habe die Sinnhaftigkeit einer Evakuierung der Ortskräfte nicht mehr in Frage gestanden, sondern nur noch der Zeitpunkt und die Machbarkeit. 

Planung der Evakuierung

Während dieser Sitzung hätten alle Beteiligten, unter anderem der Botschafter vor Ort, Jan Hendrik van Thiel, aber auch der Bundesnachrichtendienst (BND) vorgetragen. Van Thiel habe sehr drastisch und beeindruckend die Lage vor Ort beschrieben, so etwas ändere die Einschätzung, fügte der Zeuge hinzu. Der BND hingegen habe mitgeteilt, dass die USA ihre Botschaft nicht vor dem 11. September 2021 räumen würden. Diese Lageeinschätzung des BND und das Verhalten der Amerikaner seien ihm neu gewesen, sagte Diehl. Trotzdem seien sie in die konkrete Planung der Evakuierung eingestiegen.

Er selbst sei frühzeitig für die Schließung der deutschen Botschaft in der afghanischen Hauptstadt Kabul gewesen. Es sei ihm klar gewesen, dass die politischen Auswirkungen erwogen werden müssten, „wenn die Deutschen gehen“. Unbeachtet dessen sei er dafür gewesen, die Vorbereitungen dafür zu treffen. Man sei für diesen Fall auf Flugkapazitäten angewiesen gewesen, und es sei notwendig gewesen, den Flughafen offen zu halten. 

„Konkurrenzdenken unter den Ressorts“

Diehl unterstrich mehrfach, dass man im Krisenstab die Informationen aus verschiedenen Quellen nicht methodisch gewichtet habe. „Wir sind aber nicht alle blank und unwissend in die Sitzung gegangen“, sagte er. Die unterschiedlichen Informationen habe man verdichtet und versucht, ein einheitliches Lagebild zu bekommen. 

Der ehemalige Krisenbeauftragter des Auswärtigen Amtes beschrieb ein Konkurrenzdenken unter den Ressorts in Berlin. Die Grundstimmung sei gewesen, dass „die vom Bundesverteidigungsministerium die Helden waren“ und die Bundeswehr glorreiche Arbeit geleistet habe. Diese Grundstimmung habe in den Gesprächen mit dem Staatssekretär immer eine Rolle gespielt. „Auch andere Ressorts schauten stets, was wir machen“, sagte er. Diehls Schlussfolgerung vor dem Untersuchungsausschuss: In einer Krisensituation sei es schwer, „methodeologisch“ perfekt zu arbeiten, man hätte es aber besser hinbekommen können.

Skeptische US-Öffentlichkeit

Die damalige Gruppenleiterin Außen- und Sicherheitspolitik des Bundeskanzleramtes erläuterte vor dem Ausschuss, wie das Amt und die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchten, auf die Entwicklungen um Afghanistan einzuwirken. So habe Merkel mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump telefoniert und versucht dafür zu werben, dass der Erfolg der innerafghanischen Friedensgespräche zur Kondition des Abzugs gemacht wird. Die Bundesregierung habe sich eine inklusive Regierung in Afghanistan gewünscht. Doch schon vor dem Abschluss des Abkommens sei es nicht einfach gewesen, Informationen über den Inhalt zu bekommen.

Auch gegenüber Trumps Nachfolger Joe Biden habe Merkel den Wunsch der Bundesregierung ins Gespräch gebracht und gehofft, dass er sich das Abkommen wieder anschaut. Aber Biden sei bereits früher dem Afghanistan-Einsatz mit Skepsis begegnet. Die US-Öffentlichkeit sei zu diesem Zeitpunkt ebenfalls sehr skeptisch gewesen. Daher sei man sich darüber im Klaren gewesen, dass die Spielräume sehr eng gewesen seien.

Vorbereitung für eine Evakuierungsmission

In dieser Zeit habe die Bundesregierung sich auch bemüht, eine aktive Rolle in Afghanistan einzunehmen. „Wir haben uns immer wieder gefragt: Was ist die aktive Rolle?“, berichtete die Zeugin. Die Bundesregierung habe sich ins Gespräch gebracht und darauf verwiesen, dass Norwegen, das sich ebenfalls eine aktive Rolle wünschte, unterstützen könne. Zu den chaotischen Tagen im August 2021 gab die Zeugin an, dass sie an allen Gesprächen außer den Kabinettsitzungen teilgenommen habe. Das Kanzleramt nehme an diesen Runden teil, um den neuesten Informationsstand zu erfahren. Das Wort bekämen jedoch jene, „die ganz nah dran sind“.

In diesen Gesprächen hätten sich die operativen Schritte in Konsens ergeben. Schon am 13. August sei die Vorbereitung für eine Evakuierungsmission eingeleitet worden. Ein Krisenunterstützungsteam hätte nach Kabul geschickt werden sollen. Die Lage habe sich zu diesem Zeitpunkt immer weiter zugespitzt, aber es sei unklar gewesen, ob Kabul fallen würde.

Außerdem sei diskutiert worden, ob für die Evakuierung ein neues Mandat notwendig gewesen wäre. Nach Meinung der Zeugin sei das juristisch nicht der Fall gewesen, weil das damals vorhandene Mandat auch diese Mission gedeckt habe. Dennoch habe man sich darauf geeinigt, ein neues Mandat zu holen. Das sei schnell geschehen. Bei der Krisenstabssitzung am 15. August sei der Text schnell bearbeitet und am Folgetag dem Kabinett vorgelegt worden.

„Dynamische Lage“ im August 2021

Als letzte Zeugin hörten die Ausschussmitglieder Claudia Warning, die damals noch die Abteilung im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) geleitet hatte, die unter anderem auch für Asien zuständig ist. Warning betonte, wie dynamisch die Lage in Afghanistan im August 2021 gewesen sei.

Aus Sicht der Zeugin sei in der Frage, wie mit den Ortskräften zu verfahren sei, das BMZ benachteiligt gewesen. Denn die Erweiterung des Berechtigtenkreises des Ortskräfteverfahrens auf die Ortskräfte, die ab 2013 für deutsche Organisationen und Institutionen gearbeitet haben, sei für diejenigen, die im Bereich Entwicklungszusammenarbeit tätig waren, kaum zu bewältigen gewesen. Warning rechnete dem Ausschuss vor, dass dann nahezu 50.000 Menschen aufnahmeberechtigt werden würden, was mit dem vorhandenen Personal nicht zu bearbeiten gewesen sei. „Wir wollten die Ungleichbehandlung verhindern“, sagte sie.

Außerdem habe das BMZ seine Arbeit in Afghanistan fortsetzen wollen. „Wir haben sehr frühzeitig überlegt, wie wir mit unseren Projekten umgehen sollten“, sagte Warning. Das BMZ sei von einem „Power sharing“-Szenario ausgegangen, in dem die Taliban sich an der Macht beteiligen würden.

Entwicklungszusammenarbeit unter bestimmten Bedingungen

Daher sei überlegt worden, mit den Taliban ins Gespräch zu kommen und ihnen zu erklären, wie die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) funktioniere. Das sei auch „common sense“ in der Gebergemeinschaft gewesen. Um zumindest zu versuchen, das, was in 20 Jahren aufgebaut wurde, zu erhalten, wollte man den Gotteskriegern klarmachen, dass EZ nur unter bestimmten Bedingungen möglich wäre. Dazu gehörten eine legitime und inklusive Regierung und keine Unterstützung für Terrororganisationen.

Das BMZ habe vorgehabt, die EZ dann in Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen (NGO) und den Vereinten Nationen weiterzuführen. Bis heute würden sie „aus der NGO-Szene Rückmeldungen kriegen, dass sie weitermachen wollen“.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/10.06.2024)

Zeit: Donnerstag, 6. Juni 2024, 12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal 4.900

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