1. Untersuchungsausschuss

Generale berichten über den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan

Feldjäger im Einsatz bei der Ankunft von 196 Schutzbedürftigen Menschen aus Kabul während der Evakuierungsoperation aus Afghanistan, in Taschkent (Usbekistan) am 22. August 2021.

Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss setzte seine Zeugenvernehmungen fort. (© Bundeswehr/Marc Tessensohn)

In der 74. Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses Afghanistan wurden am Donnerstag, 16. Mai 2024, drei Zeugen angehört, die die Abgeordneten darüber informierten, wie der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan geplant und durchgeführt wurde. Sie beantworteten auch Fragen zur Evakuierungsoperation der Bundeswehr.

Der Ausschuss untersucht die Ereignisse nach dem Abschluss des Doha-Abkommens Ende Februar 2020 zwischen den USA und den Taliban, mit dem der Abzug der internationalen Truppen geregelt wurde, und dem Fall der afghanischen Hauptstadt Kabul in die Hände der Glaubenskrieger im August 2021.

Pfeffer: Schnelle Abzugs- und Evakuierungsplanung

Generalleutnant a.D. Erich Pfeffer, der im Untersuchungszeitraum Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr war, berichtete dem Ausschuss, dass die Bundeswehr nach dem Abschluss des Doha-Abkommens mit einer sehr schnellen Abzugs- und Evakuierungsplanung beginnen musste. Die Schwierigkeit der Planung im besonderen Fall Afghanistan sei die Unklarheit des Abzugstermins und Überlegungen über eine eventuelle Nachfolgemissionen gewesen. 

Zunächst sei eine Rückverlegungsplanung ohne Zeitdruck gemacht worden, führte der Zeuge aus. Für die Ausführung dieser Planung seien sechs Monate notwendig gewesen. Sicherheitshalber sei in Absprache mit dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) eine weitere Planung für vier Monate gemacht worden. Später seien daraus acht Wochen geworden. Dafür hätten sie das Transportvolumen reduziert und den Materialbestand reduziert, ohne den Einsatzauftrag zu gefährden.

„Abhängig von den Informationen anderer“

Parallel dazu habe es eine Standardplanung für eine eventuelle Evakuierungsoperation mit Bereitschaftsstatus gegeben, sagte Pfeffer. Diese Planung müsse in konkreten Fällen immer modifiziert werden, was nach der Sitzung des Krisenstabes am 13. August 2021 geschehen sei. Dort sei beschlossen worden, eine Einsatztruppe in der folgenden Woche für eine Evakuierungsoperation nach Kabul zu schicken. Bei dieser konkreten Planung sei die Herausforderung gewesen, dass die Bundeswehr nicht mehr vor Ort und man von den Informationen anderer abhängig gewesen sei.

Auf eine Nachfrage nach den Listen der zu Evakuierenden, antwortete der Generalleutnant a.D.: Wer evakuiert werden sollte, sei für die Planung nicht entscheidend gewesen; es sei nur darum gegangen, die notwendigen Transportkapazitäten zur Verfügung zu stellen.

Schütt: Möglichkeit deutscher Einflussnahme begrenzt

Der zweite Zeuge, Leiter der Abteilung Strategie und Einsatz im BMVg, Generalleutnant Bernd Schütt, erzählte, er sei für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zuständig gewesen. Der Berufssoldat bezeichnete die Zeit des Truppenabzugs und der Evakuierung als „einer der intensivsten Phasen“ seiner 44-jährigen Dienstzeit.

Laut Schütt waren die Realitäten am Boden vom Doha-Abkommen bestimmt gewesen. Die USA hätten ihre Truppen überraschend bis auf 2.500 Soldaten reduziert. Die afghanischen Truppen seien jedoch bei Aufklärung, Luftunterstützung und Nachschub von den US-Truppen abhängig gewesen. „Meine Erfahrung zeigt“, sagte Schütt, „dies hat nicht ohne Einfluss auf die Moral der afghanischen Kräfte bleiben können. Ich mache ihnen keine Vorwürfe.“ 

Die Möglichkeit einer Einflussnahme, sei es Deutschlands oder der Nato, auf die Abzugsentscheidung der USA sei zu diesem Zeitpunkt begrenzt gewesen, betonte der Zeuge. Die Zeit habe den Taliban in die Hände gespielt. Je länger die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban dauerten, desto kleiner sei die internationale Präsenz geworden. Die afghanischen Sicherheitskräfte hätten sich ohne internationale Unterstützung, mit einer uneinigen politischen Führung und teilweise neuen Militärführung, in der Defensive befunden.

„Wir mussten aus dem Nichts etwas aufbauen“

Das Ziel, eine afghanische Truppe aufzubauen, die in der Lage wäre, unabhängig zu agieren, sei nicht erreicht worden, sagte Schütt. Es habe Konzepte gegeben, die aber mit der Realität nicht im Einklang gewesen seien. „Wir mussten aus dem Nichts etwas aufbauen“ sagte er. Als er zum ersten Mal nach Faysabad gekommen sei, sei dort zwar eine Kaserne gewesen, aber seit Jahren keine Soldaten. 

„Es gab einen Rahmen“, sagte Schütt, „aber keinen Motor, keine Riemen, keine Räder.“ Das Thema Ortskräfte sei im Mai 2021 im BMVg „top priority“ gewesen, berichtete der Zeuge. Auch aus humanitären Gründen habe das BMVg darauf gedrungen, das Ortskräfteverfahren (OKV) durch Entbürokratisierung zu beschleunigen.

„AKK hatte sehr gute Argumente“

Als jedoch die damalige Bundesverteidigungsministerin Annegret Kamp-Karrenbauer (AKK) Charterflüge im Juni 2021 vorgeschlagen habe, sei dies diskutiert und verworfen worden. Denn der Plan sei gewesen, diese Flüge vier Tage vor dem endgültigen Abzug der Bundeswehr stattfinden zu lassen. Die Führung des Kontingents vor Ort habe Berlin davor gewarnt, dass man keine Kapazitäten hätte, so viele Menschen im Camp über Nacht unterzubringen und sicher in die Flieger zu setzen. 

Außerdem sei es zu diesem Zeitpunkt noch möglich gewesen, Afghanistan mit zivilen Maschinen zu verlassen. „AKK hatte sehr gute Argumente“, sagte Schütt, „sie hatte eine eigene feste Überzeugung und daran hat sie festgehalten. Aber es war zu diesem Zeitpunkt praktisch nicht möglich.“ 

Wächter: Ein vorzeitiger Abzug wäre für uns kein gangbarer Weg gewesen

Wie der dritte Zeuge, der ehemalige Leiter der Abteilung Politik im BMVg, Detlef Wächter, konstatierte, konnte das bis dahin Aufgebaute nicht ordentlich zurückgelassen werden, und das habe mit dem raschen Abzug der USA aus Afghanistan zu tun gehabt. Laut Wächter, er war politischer Berater der damaligen Bundesverteidigungsministerin Kamp-Karrenbauer, habe das BMVg immer einen geordneten Abzug bevorzugt. Doch Doha sei mit einem Verfallsdatum versehen und daher der Anfang des Endes gewesen. In den Augen des Zeugen war es „ein Verhandlungsprodukt, mit dem man sehr schwer umgehen konnte aber umgehen musste mit erheblichen Schwierigkeiten.“

In together, out together“ sei zwar ein strapaziertes Motto, aber gleichzeitig auch mehr als das, sagte Wächter, man dürfe damit nicht leichtfertig umgehen. Dann fügte er hinzu: „Ein vorzeitiger Abzug wäre für uns kein gangbarer Weg gewesen. Deshalb haben wir den Abzug in der Nato gemeinsam beschlossen.“

Nato diskutierte intensiv über Nachfolgemission 

Danach sei in der Allianz intensiv über eine Nachfolgemission nachgedacht worden, erinnerte sich Wächter. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg habe diese Option immer wieder thematisiert. Er selbst sei der Meinung gewesen, dass die internationale Gemeinschaft in Afghanistan weiter eine Rolle spielen sollte, wenn es die Situation hergebe, so der Zeuge. Aber der Zeitablauf habe einen Strich durch die Rechnung gemacht. Als im Sommer 2021 die ersten konzeptionellen Überlegungen diskutiert wurden, sei es zum Durchmarsch der Taliban und den Ereignissen am Flughafen Kabul gekommen.

„Ich war nicht eng an Doha dran“, berichtete der 58-jährige, aber auch in seinen Gesprächen sei es nicht ausgeschlossen worden, dass die Taliban sich zu einer Verhandlungslösung bewegen lassen könnten, auch wenn die Hoffnung nicht mehr so groß gewesen sei wie vor Doha. „Der Knackpunkt war der definitive Abzugsdatum“, so Detlef Wächter: „Wir hatten den Eindruck, dass die Taliban sich damit zurücklehnen konnten. Einen größeren Gefallen hätte man den Taliban nicht tun können.“

Dass die militärische Lage prekär gewesen sei, sei allen klar gewesen, teilte der Zeuge mit, „denn wir kannten die vitale Rolle der Amerikaner für die afghanischen Truppen und auch für unseren Einsatz“. Seine Auffassung sei jedoch gewesen, dass durch die hochprofessionelle Ausbildung der afghanischen Streitkräfte ein Patt hätte erreicht werden können. Man habe auf eine inklusive Regierung mit Beteiligung der Taliban gehofft.

„Wir haben nicht genau gewusst, was passiert“

Der Afghanistan-Sonderbeauftragte der Bundesregierung Markus Potzel habe den Taliban zu Verstehen gegeben, dass Doha „time based“ sei, aber im Text auch anderes stünde, sie Teil einer Regierung werden könnten, die keine Paria-Regierung wäre, diplomatische Kontakte habe und im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit auch finanziell unterstützt werde. „Diesen Verhandlungsweg mussten wir gehen“, sagte Wächter, sonst wäre die Konsequenz ein Abzug über Nacht gewesen. 

Dass die US-Botschaft in Kabul schließlich evakuiert wurde, habe er nicht aus seinen, sondern aus öffentlichen Kanälen erfahren. Damit sei klar geworden, dass dies keine Phase gewesen sei, in der Deutschland über jeden amerikanischen Schritt in „gewünschter Detailliertheit“ informiert wurde: „Wir haben nicht genau gewusst, was passiert. Wir haben uns so stark abgestimmt, wie es ging.“ So sei der Druck auf die Bundesregierung gewachsen, die deutschen Staatsbürger, die Ortskräfte und weitere gefährdete Personen zu evakuieren. Am 12. August sei klar gewesen, dass eine robuste Aktion geplant werden musste, denn nachdem Kandahar eingenommen worden war, habe es Anzeichen dafür gegeben, dass die Taliban auch Kabul stürmen würden.

In dieser dramatischen Situation im August habe sich sein „kurzer Draht“ zur Ministerin Kamp-Karrenbauer ausgezahlt, erklärte Wächter und fügte hinzu: „Es gab eine sehr schnelle Absprache mit ihr.“ Innerhalb von 36 Stunden sei ein unterschriftsreifer Mandatsentwurf vorbereitet gewesen. Kamp-Karrenbauer habe darauf bestanden, ihn selbst dem Bundeskabinett vorzulegen. Drei Tage später sei die Evakuierungsmission vom Bundestag mandatiert worden.

Zu der Diskussion darüber, warum die Vereinfachung des Ortskräfteverfahrens so lange gedauert hat, sagte Wächter, man habe sich im BMVg gewünscht, dass man sich schneller durchsetzen könnte. Das sei aber die Realität in einer Koalitionsregierung. Wächter betonte, dass es der Ministerin Kamp-Karrenbauer ein Bedürfnis gewesen sei, den Menschen, die mit Deutschland kooperierten, nach „unserem Abzug“ die Sicherheit zu geben, nicht der Rache der Taliban ausgesetzt zu werden. (crs/21.05.2024)

Zeit: Donnerstag, 16. Mai 2024, 12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal 4.900

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