Sachverständige kritisieren ungleiche Bildungschancen bei Kindern
Zeit:
Mittwoch, 17. Januar 2024,
15
bis 16.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 2.200
„Chancengleichheit für alle Kinder sicherstellen – Aktueller Überblick anhand statistischer Erhebungen“ lautete der Titel des Fachgesprächs, zu dem die Kinderkommission (Kiko) am Mittwoch, 17. Januar 2024, zusammengekommen ist. Unter Beteiligung von Sachverständigen wurde der Zusammenhang zwischen schulischen Leistungen und dem sozioökonomischen Hintergrund diskutiert und erörtert, inwiefern Startchancen angeglichen werden können. Die Sitzung fand unter Leitung von Matthias Seestern-Pauly (FDP) statt.
„Bildungspolitik braucht eine Zeitenwende“
Thorsten Alsleben von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft sagte, er beobachte in seiner Arbeit eine erhebliche Verschlechterung bei der Integration, der Schulqualität und der Bildungsarmut. Es gebe viele Faktoren, die Einfluss auf den Bildungserfolg in Deutschland nehmen würden. Als Beispiel nannte Alsleben sowohl häusliche als auch öffentliche Faktoren. Ein häuslicher Faktor seien beispielsweise Kinder mit Migrationshintergrund und nicht deutscher Familiensprache, deren Anteil von 15,7 Prozent im Jahr 2008 auf 21,2 Prozent im Jahr 2021 gestiegen sei. Alsleben sieht darin „einen negativen Einfluss auf das Niveau“ und „eine Belastung des Bildungssystems“.
Positiver sehe es bei öffentlichen Faktoren aus. So habe sich die Betreuungsrelation an Grundschulen deutlich verbessert. Ebenso sei das Angebot an Ganztagsschulen gestiegen. Dennoch betonte Alsleben, dass die Qualität an Ganztagsschulen noch nicht ausreiche, um bessere Bildungschancen zu erzielen. Hinzu kämen Lehrerengpässe, die bis 2035 weiter steigen würden. „Es werden also künftig möglicherweise hunderttausende Schüler nicht richtig betreut und geschult werden, so, wie es qualitativ notwendig wäre“, resümierte Alsleben.
Er empfehle daher eine „Zeitenwende“ in der Bildungspolitik, die Ungleichheiten durch bessere Bildungschancen reduziere. Dafür seien drei Handlungsfelder notwendig: Erhöhung der Qualität, Stärkung der Lehrkräfte und bessere Unterstützung der Eltern. Konkret hieße das unter anderem gezielte Investitionen, multiprofessionelle Teams und Weiterbildungen in den Bereichen Digitalisierung und Heterogenität sowie den Ausbau einer hochwertigen Ganztagsinfrastruktur.
Forderung nach Investitionen, Partizipation und Aufmerksamkeit
Dr. Sebastian Sedlmayr von Unicef Deutschland präsentierte den sechsten Unicef-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland, der zu dem Ergebnis kommt, dass im internationalen Vergleich insbesondere die Grundschulen in Deutschland unterfinanziert seien. Bei der Armutsdebatte sieht Sedlmayr die Notwendigkeit nach einem Perspektivenwechsel. Denn nicht Kinder an sich seien ein Armutsrisiko, sondern vielmehr die Lebensform der Eltern entscheide über die ökonomischen Ressourcen der Kinder. Die berufliche Perspektive der Eltern sei daher der „wichtigste Faktor zur Reduzierung der Kinderarmut“.
Ähnlich wie auch Thorsten Alsleben sieht auch Sedlmayr einen dringenden Bedarf an Investitionen im Bildungsbereich. Um die Startchancen von Kindern anzugleichen, brauche es ein Gesamtkonzept zur Reduktion von Kinderarmut und Förderung von Teilhabe. Ein „weicher Faktor“ mit „unglaublich viel Relevanz“ für Chancengerechtigkeit seien mehr Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche auf kommunaler Ebene. Aber auch Zeit und Aufmerksamkeit für die Belange von Kindern und Jugendlichen in Politik, Medien und Öffentlichkeit seien ein wichtiger Faktor. Zudem empfahl Sedlmayr eine Verbesserung der Datenlage und des Monitorings, die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz sowie einen dauerhaften Mechanismus zur ressortübergreifenden Zusammenarbeit.
Einflussfaktoren: Migrationshintergrund, Bildung und Gehalt der Eltern
Auch der Chancenmonitor vom ifo Zentrum für Bildungsökonomik und Ein Herz für Kinder belege den Zusammenhang zwischen familiärem Hintergrund und Bildungsniveau. Eine wichtige Rolle spiele dabei laut Prof. Dr. Ludger Wößmann (ifo) sowohl der Bildungsgrad und das Einkommen der Eltern als auch ein Migrationshintergrund und die Frage, ob ein Elternteil alleinerziehend ist. „Wenn man einen Migrationshintergrund hat in Deutschland, ist eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit da, dass die Eltern keinen höheren Bildungsabschluss haben und im niedrigeren Einkommensbereich liegen.“
Handlungsbedarf sieht Wößmann vor allem in den frühkindlichen Bildungsangeboten für benachteiligte Kindern, die stark ausgebaut werden müssten. Dies sei oftmals auch an erzieherischen Unterstützungsleistungen von Familien mit benachteiligten Kindern gekoppelt. Für die Lernchancen von Kindern seien vor allem die Lehrkräfte ausschlaggebend, daher sei es wichtig, dass die besten Lehrkräfte an Schulen mit vielen benachteiligten Kindern gebracht würden. Ein Anreiz könnten Zulangen für Lehrkräfte sein, „die bereit sind an Brennpunktschulen zu gehen“.
Weitere Handlungsempfehlungen seien frühe und kostenfreie Nachhilfeprogramme, eine spätere Aufteilung auf weiterführende Schulen und die Förderung von Mentoring-Programmen für benachteiligte Kinder. (mtt/17.01.2024)