Experten befürworten Reform der Notfallversorgung
Zeit:
Mittwoch, 17. Januar 2024,
14.45
bis 15.45 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 300
Gesundheitsexperten befürworten nachdrücklich eine Reform der Notfallversorgung. Im Zentrum der Neuregelung sollte eine verbesserte Patientensteuerung stehen, erklärten Sachverständige in einer Anhörung über Anträge der AfD-Fraktion und der Unionsfraktion zu dem Thema. Die Experten äußerten sich am Mittwoch, 17. Januar 2024, in der Anhörung des Gesundheitsausschusses sowie in schriftlichen Stellungnahmen.
Anträge der AfD und CDU/CSU
Die Fraktionen von AfD und Union fordern eine umfassende Reform der Notfallversorgung. Das System der medizinischen Notfallversorgung müsse organisatorisch und hinsichtlich der Finanzierung reformiert werden. Nur so könne die schnelle Erreichbarkeit des Arztes im Notfall sichergestellt und die Finanzierbarkeit langfristig gewährleistet werden, heißt es in einem Antrag (20/5364) der AfD-Fraktion. Die Abgeordneten fordern, bundesweit Rettungsleitstellen als alleinige telefonische Ansprechstellen für die Hilfesuchenden im medizinischen Notfall unter der Rufnummer 112 zu schaffen und von dort die Patienten gezielt an Arztpraxen oder Krankenhäuser weiterzuleiten. In einem weiteren Antrag fordert die AfD-Fraktion eine Reform des Rettungsdienstes. In vielen Fällen gehe es nicht um Notfallsituationen, sondern um einen Hilfebedarf, der auch von niedergelassenen Ärzten oder von Pflegeeinrichtungen bewältigt werden könnte, heißt es in dem Antrag (20/8871) der Fraktion. Mitarbeitern in Rettungsleitstellen sollte ermöglicht werden, neben Rettungsdiensteinsätzen und Einsätzen des Qualifizierten Krankentransports einen Pflegedienst oder kommunale Einrichtungen der Altenhilfe zu vermitteln oder ein Taxi zu schicken.
Nach Ansicht der Unionsfraktion muss die Notfallversorgung weiterentwickelt und der Zugang zu Notfallambulanzen gezielter gesteuert werden. Rettungsdienste und Notaufnahmen seien überlastet, Notärzte, ärztliches und weiteres medizinisches sowie pflegerisches Personal kämen nicht selten an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit, heißt es in dem Antrag (20/7194) der Fraktion. Die Abgeordneten fordern, im Einklang mit der Krankenhausreform eine Reform der Notfallversorgung umzusetzen, mit der Rettungsdienste und Notfallambulanzen entlastet werden und die Qualität der Behandlung echter Notfälle gesteigert wird. Für eine optimierte ärztliche Ersteinschätzung und gegebenenfalls abschließende Beratung sollten die Möglichkeiten der Telemedizin ausgebaut werden.
Überlastete Notaufnahmen
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärte, die ambulante Notfallversorgung sei dringend reformbedürftig. Es mangele an einer konsequenten Patientensteuerung. Wartezeiten in der vertragsärztlichen Versorgung bewirkten, dass sich immer mehr Patienten im Notfall direkt an die Notaufnahmen der Krankenhäuser wendeten, obwohl die Versorgung auch in einer Notdienst-, Fach- oder Hausarztpraxis geleistet werden könnte. Diese „Bagatellfälle“ überlasteten die Notaufnahmen der Krankenhäuser und bänden Personal, das für die Versorgung „echter“ Notfälle gebraucht werde. Eine engere Verschränkung der Hotline des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes (116117) mit den Rettungsstellen (112) könne dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Mit einer obligatorischen telefonischen Ersteinschätzung über eine einheitliche Rufnummer könnten Patienten zielgerichtet in die richtige Versorgungsebene geleitet werden.
Nach Angaben des Gesundheitsrechtlers Andreas Pitz von der Hochschule Mannheim sind die wesentlichen Leistungen des Rettungsdienstes, insbesondere die Behandlungsleistungen und die Leistungen der integrierten Leitstellen, derzeit im Sozialgesetzbuch V (SGB V) nicht abgebildet. Auf diesen Punkt gingen in der Anhörung auch mehrere andere Sachverständige ein und forderten, den Rettungsdienst in das SGB V zu überführen und die Leistungen einheitlich abzurechnen.
Die Deutsche Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) unterstützt einige der in den Anträgen vorgeschlagenen Reformen. Eine regelhafte telefonische Ersteinschätzung etwa über die Gemeinsame Notfallleitstelle sei zu begrüßen und sollte Standard werden, um Hilfesuchende bedarfsgerecht in die individuell beste Versorgungsebene zu leiten. Allerdings müsse berücksichtigt werden, dass manche Menschen mit kognitiven Einschränkungen dieses System womöglich nicht nutzen könnten. Nötig sei somit ein barrierefreier Zugang zur Notfallversorgung. Eine Verbesserung der Notfallversorgung sei nur zu erwarten, wenn alle beteiligten Sektoren, darunter Notfallkliniken mit Integrierten Notfallzentren, Rettungsdienste, Leitstellen und der ambulante Sektor einbezogen würden.
Steuerung der Akut- und Notfallversorgung
Die Bundesärztekammer (BÄK) erklärte, entscheidend für eine funktionierende Akut- und Notfallversorgung seien Steuerungselemente, die eine bedarfsgerechte Weiterleitung von Patienten in die geeignete Versorgungsebene ermöglichen. Alle Patienten sollten zunächst eine Leitstelle kontaktieren, um eine medizinische Ersteinschätzung zu bekommen, und dann weitergeleitet werden. Mit den Integrierten Notfallzentren (INZ) dürfe kein weiterer Versorgungssektor entstehen. Das Ziel müsse sein, über gemeinsame Anlaufstellen (Tresen) eine sektorenverbindende, kooperative Akut- und Notfallversorgung zu ermöglichen.
Ähnlich argumentierte die Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften Notärzte Deutschlands (BAND), die einen ganzheitlichen Ansatz unter Einbeziehung der Krankenhausversorgung, der ambulanten kassenärztlichen und der Versorgung im Rettungs- und Notarztdienst für essenziell hält. Die bisherigen Integrierten Leitstellen müssten durch eine enge Anbindung des kassenärztlichen Notdienstes und einer Gesundheitsberatung zu Gesundheitsleitstellen weiterentwickelt werden. Bei der Rettungsdienstplanung müsse die anstehende Krankenhausreform berücksichtigt werden.
Einige Sachverständige schilderten in der Anhörung aus der Praxis die teils chaotischen Zustände in den Notaufnahmen der Kliniken. Nach Angaben der DKG haben 90 Prozent aller Notaufnahmen schon Erfahrung mit Gewalt gemacht. Ein DGINA-Sprecher sagte: „Die Gewalt ist in den Notaufnahmen Tagesgeschäft.“ Viele Patienten seien verunsichert, manche betrunken und schwer kontrollierbar. Wenn Patienten nicht ernstgenommen würden, könne sich weiteres Aggressionspotenzial aufbauen. Für das Personal sei der Umgang mit solchen Patienten eine Kunst. Daher sei in der Notaufnahme auch eine personelle „Sicherheitsmarge“ sinnvoll. (pk/17.01.2024)