Rückblick auf ein turbulentes Parlamentsjahr 2023
Das Jahr 2023 begann, wie 2022 aufhörte – mit der Frage: Wie kann das enden? Das, also der Krieg in der Ukraine, brauche eine dauerhafte Lösung. Darin waren sich alle Fraktionen einig. Wie diese aussehen kann, wurde auch ein Jahr nach dem Angriff Russlands noch immer heftig diskutiert. Die Fraktion Die Linke forderte in einem Antrag (20/5819) im März mehr Diplomatie statt Panzer und kritisierte, dass die Bundesregierung vor allem auf Waffen setze: „Geld für Panzer ja, für eine Betonmischmaschine nein“, so Gregor Gysi (Die Linke).
Die SPD-Fraktion warf der Linken daraufhin Scheinheiligkeit und Nähe zu Rechtsextremen vor: „Die glatte Politikrhetorik zum Krieg vor unserer Haustür und die PR-getriebene Selbstverliebtheit der Demoleitung beschädigen die Glaubwürdigkeit von Friedensappellen hier im Bundestag maximal“, kritisierte Ralf Stegner (SPD) die Friedenskundgebungen der Bundestagsabgeordneten Sahra Wagenknecht (Die Linke). Dem Vorwurf, die Linksfraktion bediene die Narrative Putins und billige dabei den Beifall von Rechtsaußen, schloss sich auch die Unionsfraktion an. Die Gefahr bestünde dabei nicht etwa darin, dass sich das Hufeisen schließe, sondern „dass hier eine Gruppe von Politikern von ganz links und ganz rechts Einfluss auf eine – leider – steigende Zahl an Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land gewinnt, die sich von unserem demokratischen Gemeinwesen wegbewegen“. Ein Vorwurf, den die AfD-Fraktion als „altes Rechts-Links-Denken“ zurückwies.
Solidarität mit Israel
So streitig die Fraktionen beim Thema Ukraine-Krieg auch waren, so einstimmig verurteilten sie „die menschenverachtenden Terrorakte gegen Israel auf das Schärfste“. Nur wenige Tage nach dem Anschlag der palästinensisch islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober hat der Deutsche Bundestag seine Solidarität gegenüber Israel ausgesprochen. In einer Schweigeminute an die Opfer des Angriffs brachten die Abgeordneten ihre Anteilnahme zum Ausdruck. Anschließend fand Bundestagspräsidentin Bärbel Bas klare Worte: „Wir akzeptieren keinerlei Unterstützung dieser feigen und widerwärtigen Verbrechen. Wie akzeptieren auch nicht, wenn grausamste Verbrechen gegen Kinder, Frauen und Männer bei uns in Deutschland auf den Straßen oder im Netz gefeiert werden. Wenn Terror verherrlicht wird.“
In einem fraktionsübergreifend angenommenen Entschließungsantrag (20/8736) heißt es: „Der Deutsche Bundestag stellt in dieser schweren Stunde fest, dass Deutschland und Israel heute mehr denn je durch ein dichtes Netz politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, kultureller und zivilgesellschaftlicher Kontakte eng verbunden ist.“ Dieses müsse vor allem „angesichts des großen menschlichen Leids, das in diesen Tagen über Israel hereingebrochen ist“, geschützt und zugleich intensiviert werden.
Kein Platz für Antisemitismus
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) betonte in seiner Regierungserklärung am 19. Oktober Deutschlands Solidarität mit Israel. Viel Echo seitens der Parlamentarier erhielt der Kanzler für seine Ansage gegen antisemitische Demonstrationen in Deutschland: „Antisemitismus ist in Deutschland fehl am Platze. Wir werden alles dafür tun, uns gegen ihn zu stellen.“
Anlässlich der antisemitischen Ausfälle in Deutschland als Reaktion auf den Terrorakt kam es am 9. November, dem Gedenktag an die Reichspogromnacht vor 85 Jahren, zu einer Aussprache zum Thema „Historische Verantwortung wahrnehmen – Jüdisches Leben in Deutschland schützen“. Unter Beisein der Holocaustüberlebenden Margot Friedländer sprach Bundestagspräsidentin Bas eine deutliche Mahnung aus: „Die historische Verantwortung Deutschlands für den Holocaust muss sich jetzt in konkretem Handeln zeigen. Es liegt an uns, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. ,Nie wieder!‘ ist jetzt.“
Der Bundestag wird kleiner
In den vergangenen Jahren wurde der Bundestag immer größer und größer. Statt der gesetzlichen Größe von 598 Sitzen sind es in dieser Wahlperiode 736 Sitze. Das wollten die Ampelfraktionen mit einer Wahlrechtsreform (20/5370) ändern und zukünftig auf Überhangs- und Ausgleichsmandate verzichten.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt befürchtete eine „Politikverdrossenheit“ und bezeichnete die Reform als falsch, fehlerhaft, verfassungswidrig und ein „großes Schurkenstück“. Ähnlich kritische Worte fand auch Jan Korte (Die Linke), der die Änderungen des Bundeswahlgesetzes als „größten Anschlag“ seit Jahrzehnten auf das Wahlrecht als entschiedener Grundpfeiler der parlamentarischen Demokratie sah. Doch trotz scharfer Kritik aus den Oppositionsreihen konnten die Ampelfraktionen ihre Pläne für die Wahlrechtsreform mit 399 Ja- bei 261 Nein-Stimmen und 23 Enthaltungen am 17. März durch das Parlament bringen. Zukünftig wird es im Plenarsaal daher nur noch 640 Sitzplätze geben.
AfD weiterhin erfolglos mit Wahl zu Vizepräsidenten
Auch in diesem Jahr bemühte sich die AfD-Fraktion um das Amt des Vizepräsidenten – blieb jedoch mit zehn zur Wahl gestellten Kandidaten weiterhin erfolglos. Seit dem Einzug der Partei in den Bundestag im Jahr 2017 ist die AfD die einzige Fraktion, die nicht im Parlamentspräsidium vertreten ist. Der Grund: Die Mehrheit des Parlaments stimmt immer wieder dagegen. Zuletzt versuchte es der Abgeordnete Mike Moncsek – scheiterte jedoch an 556 Nein-Stimmen bei 14 Enthaltungen.
Neben dem Bundestagspräsidium bleibt der AfD auch die Mitgliedschaft im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) weiter versperrt. Als ein von den Mitgliedern des Bundestages gewähltes Gremium kontrolliert es die Nachrichtendienste. Doch auch hier stimmte der Bundestag gegen die AfD-Kandidaten. Ein Ritual, das sich alle paar Wochen wiederholte, aber immer noch für kritische Zwischenrufe sorgte: „Das Ergebnis ist eine Schande!“ (Stephan Brandner, AfD) oder „Nicht einmal alle AfDler wählen ihn!“ (Ulrich Lechte, FDP).
Offenes Ende bei der Kindergrundsicherung
So unklar wie das Ende der Vizepräsidentenwahl bleibt auch die Frage nach der Kindergrundsicherung. Zur Erinnerung: Nach langem Ringen in der Koalition hatte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) Ende November einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Kindergrundsicherung vorgestellt. Ziel sei es, möglichst viele Kinder aus der Armut zu holen.
Mit dem Gesetz sollen die bisherigen finanziellen Leistungen Kindergeld, Bürgergeld, Sozialhilfe, Kinderzuschlag und die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets für Kinder zusammengeführt werden. Doch wann genau die Kindergrundsicherung von Bundestag und Bundesrat beschlossen wird, ist noch nicht absehbar.
In einer Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Mitte November übten die geladenen Sachverständigen deutliche Kritik. Zwar sei die Grundidee, die verschiedenen Leistungen zusammenzuführen, begrüßenswert, doch würde auch die Schaffung eines „Familienservices“ die Mehrfachzuständigkeiten nicht beseitigen. Auch aus den Reihen der Opposition wurde lautstark Skepsis geäußert, sodass sich der Beschluss verzögert und daher erst im kommenden Jahr zu erwarten ist.
Bundestag stimmt Heizungsgesetz zu
Nicht zu vergessen ist das hitzig diskutierte Gebäudeenergiegesetz (GEG). Mit dem Gesetz sollen die Importabhängigkeit fossiler Energien verringert, der Klimaschutz gestärkt und Preissprünge bei Öl und Gas vermieden werden. Doch das Gesetzgebungsverfahren ging einigen Abgeordneten wie Thomas Heilmann (CDU/CSU) zu schnell. Der Parlamentarier sah in den kurzen Fristen eine Verletzung seiner Rechte als Bundestagsabgeordneter und reichte einen Eilantrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Bundesverfassungsgericht ein – mit Erfolg. Die abschließenden Beratungen des „Heizungsgesetzes“ wurden auf die Zeit nach der parlamentarischen Sommerpause verschoben.
Einige Monate später, im September, kam es zum erwarteten Schlagabtausch zwischen den Fraktionen: Katharina Dröge (Bündnis 90/Die Grünen) bezeichnete das Gesetz als einen „Riesenschritt für den Klimaschutz“. Jens Spahn (CDU/CSU) hingegen kritisierte den Entwurf als ein „Konjunkturprogramm für die Populisten in unserem Land“. Die SPD-Fraktion warf der Union daraufhin Alternativlosigkeit vor: „Welche konkreten Vorschläge haben Sie, um dieses Gesetz zu verbessern“, fragte Matthias Miersch (SPD) in Richtung der Unionsfraktion. Auch FDP und AfD schlossen sich der Kritik an der Union an und warfen ihr vor, in ihrer Regierungszeit alle „Klimaziele gerissen“ zu haben (Lukas Köhler, FDP) und „den Leuten Sand in die Augen zu streuen“ (Steffen Kotré, AfD). Dietmar Bartsch (Die Linke) bezeichnete das Heizgesetz als ein „kommunikatives Desaster, klimapolitisches Desaster und parlamentarisches Desaster“ und forderte besseren Mieterschutz.
BSW und das Ende der Linksfraktion
Es wurde gemunkelt, Mutmaßungen wurden angestellt, mögliche Auswirkungen diskutiert. Mitte Oktober war es dann so weit: Sahra Wagenknecht (Die Linke) verkündete die Gründung einer neuen Partei – das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Zunächst als Verein, später dann als eigene Partei, will das Bündnis nach eigenen Angaben eine politische Leerstelle füllen: links, aber konservativ; soziale Sicherheit dank starker Wirtschaft.
Neben der Namensgeberin sind auch neun weitere Bundestagsabgeordnete aus der Linkspartei ausgetreten. Die Fraktion Die Linke hatte sich daraufhin am 6. Dezember selbst aufgelöst, da die Mindestgröße von 37 Abgeordneten nicht mehr erreicht werden konnte. Damit werden voraussichtlich sowohl das BSW als auch Die Linke im kommenden Jahr als Parlamentarische Gruppe im Bundestag vertreten sein, sofern der Bundestag den Anträgen zustimmt. Welche Rechte den Gruppen zustehen, wie viel Redezeit ihre Mitglieder im Plenum erhalten und wie es mit der Finanzierung aussieht, muss noch vom Ältestenrat beschlossen werden.
Eine Frage des Geldes
Kurz bevor sich das Jahr dem Ende zuneigt, war der Haushaltsausschuss noch einmal gefragt. Wie sollte mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgegangen werden? Die Gelder zur Bewältigung der Corona-Krise dürfen nicht für Klimaprojekte genutzt werden, urteilten die Richter in Karlsruhe. Für die Regierung bedeutete das: Umplanen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) brachte Ende November den Nachtragshaushalt in den Bundestag ein. Bereits in der ersten Lesung des Nachtragshaushaltsgesetzes 2023 übte die Unionsfraktion harte Kritik an der Bundesregierung. „Nicht wer klagt, hat mit dem Ergebnis zu leben, sondern der, der rechtswidrig handelt und die Verfassung umgangen hat, der hat mit dem Ergebnis zu leben“, sagte Mathias Middelberg (CDU/CSU). Den Forderungen nach Reformen und ernsthaften Einsparungen wolle die Regierung nachkommen, bekräftigte der haushaltspolitische Sprecher der FDP-Fraktion am 15. Dezember im Plenum. Trotz bestehender Kritik stimmte der Bundestag dem Gesetz zu und erklärte eine außergewöhnliche Notlage. Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse ist damit ausgesetzt.
Bisher nicht beschlossen ist hingegen der Haushalt für das kommende Jahr. Die finale Abstimmung über den Bundesetat 2024 hatte der Haushaltsausschuss Ende November kurzfristig abgesagt. Die haushaltspolitischen Sprecher der Koalitionsfraktionen teilten daraufhin mit, ausreichend Zeit zur Prüfung der Pläne einräumen zu wollen. Über die notwendigen Einsparungen und geplanten Ausgaben wird daher erst kommendes Jahr im Bundestag abgestimmt. Bis dahin wird es eine vorläufige Haushaltsführung geben, die lediglich für die Verwaltung und rechtliche Verpflichtungen vorgesehen ist. Alle anderen politischen Projekte werden daher aufgeschoben. Somit endet auch 2023 mit der Frage: Wie kann das enden? (mtt/20.12.2023)