Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben am Freitag, 15. Dezember 2023, vier Anträge der Unionsfraktion zum Thema Barrierefreiheit abgelehnt. Ein Antrag mit dem Titel „Mehr Tempo für Barrierefreiheit und einen inklusiven Sozialraum“ (20/4676) wurde mit der Mehrheit von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der Antragsteller und AfD abgelehnt. Der Abstimmung lag eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales (20/9415) zugrunde. Ein Antrag mit dem Titel „Mobilität im öffentlichen Personennahverkehr und Schienenpersonennahverkehr für alle gestalten – Barrierefreiheit sichern“ (20/7190) wurde mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen gegen das Votum der Union bei Enthaltung der AfD auf Grundlage einer Beschlussempfehlung des Verkehrsausschusses (20/9611) zurückgewiesen. Eine weitere Vorlage mit dem Titel „Reisen und Kulturerlebnisse für alle möglich machen – Barrierefreiheit als Qualitätsmerkmal verankern“ (20/7590) wurde mit der breiten Mehrheit der übrigen Fraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt. Ebenfalls keine Mehrheit gegen die Stimmen der Koalition bei Enthaltung der AfD fand auf Basis einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien (20/8982) ein Unions-Antrag mit dem Titel „Kultur ohne Barrieren für alle zugänglich machen – Inklusion ist Handlungsauftrag“ (20/8527).
SPD hält Union Untätigkeit vor
Die Union habe in den Zeiten der großen Koalition die Möglichkeit gehabt, die in den Anträgen aufgeführten Punkte gemeinsam mit den Sozialdemokraten umzusetzen, sagte Takis Mehmet Ali (SPD) zu Beginn der Debatte. Sie seien in den Koalitionsverhandlungen von der SPD aufgerufen aber von der Union durchweg abgelehnt worden. „Kaum ist man in der Opposition, fordert man diese Punkte“, sagte Mehmet Ali. Das sei nicht richtig, befand er. Die Ampel habe hingegen die Bundesinitiative Barrierefreiheit eingerichtet. Damit werde eine konzeptionelle Grundlage erstellt, um alle Bereiche durchzugehen, und evaluieren zu können, wie ein vollumfänglich barrierefreies Deutschland aufgebaut werden könne. Das gehe, weil die Union nicht an der Regierung beteilig ist.
Der SPD-Abgeordnete wies zugleich auf ein „Paradoxon“ bei der Union hin. Man könne nicht auf der einen Seite mehr Barrierefreiheit fordern und auf der anderen Seite das Bürgergeld kürzen wollen. Kürze man das Bürgergeld, kürze man auch Leistungen der Grundsicherung und schränke die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ein.
CDU/CSU fordert mehr Bundesmittel
Martina Englhardt-Kopf (CDU/CSU) verwies darauf, dass auch im Verkehrsbereich noch viel zu tun sei, um Barrieren abzubauen. Es gelte, schnell gemeinsam gute Lösungen zu finden, „und nicht permanent darüber zu streiten, was läuft und was nicht läuft“. Englhardt-Kopf ging auf die Situation bei der Deutschen Bahn ein. Es dauere Jahre bis Jahrzehnte, um an den Bahnhöfen Barrierefreiheit herzustellen. In ihrem Wahlkreis sei es an Bahnhöfen schier unmöglich für Rollstuhlfahrer aber auch für Mütter mit Kinderwagen, diese Barrieren zu überwinden. Daran müsse jeden Tag gearbeitet werden, um besser zu werden. Potenziale sieht die Unionsabgeordnete etwa bei der Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung. Hier könnten bestimmte Bereiche herausgegriffen und schneller genehmigt werden. Dazu brauche es aber auch mehr Bundesmittel.
Barrieren, so Englhardt-Kopf abschließend, begännen auch oft in den Köpfen. „Wenn jeder sensibel und offen durch den Alltag geht, gibt es viele Möglichkeiten, wo jeder einen wertvollen Beitrag leisten kann, um Menschen mit Beeinträchtigungen eine helfende Hand zu reichen“, sagte sie.
Grüne: Mut für ordnungspolitische Vorgaben
Stephanie Aeffner (Bündnis 90/Die Grünen) sprach von Einschränkungen, denen sie sich als Rollstuhlfahrerin ausgesetzt sehe. So sei es ihr eben nicht möglich, mal eben im Plenum des Bundestages an den Platz eines anderen Abgeordneten „zu huschen“, um Wichtiges zu besprechen. „Ich kann das nicht, weil das Plenum darauf nicht ausgelegt ist.“ Dies sei aber nur ein kleines Beispiel, wie der Alltag von Menschen mit Behinderungen durch Barrieren eingeschränkt werde. „Nicht Menschen mit Behinderungen haben Beeinträchtigungen, sondern die Umwelt beeinträchtig uns“, sagte sie.
Aeffner forderte daher, Schluss zu machen mit Appellen und Bewusstseinsbildung. Daher habe die Ampel im Koalitionsvertrag vereinbart, die Herstellung der Barrierefreiheit verpflichtend zu regeln. Von einer solchen Verpflichtung sei jedoch in den Anträgen der Union nicht die Rede. Es brauche aber den Mut für ordnungspolitische Vorgaben.
AfD: Schwerbehinderte in Lohn und Brot bringen
Auch Jürgen Pohl (AfD) warf der Union vor, die lange Regierungszeit nicht genutzt zu haben. „Was Sie als Regierung nicht durchgesetzt haben, haben wir heute auf der Tagesordnung“, sagte er. Es stelle sich die Frage, wo die Kraft und die Ideenvielfalt waren, „als sie regierten“. Die Union hole das jetzt nach, weil ihr die Ampel dafür Freiräume gebe. SPD, Grüne und FDP seien untätig „im Bereich der Behinderung“, sagte Pohl.
In den Anträgen der Union finden sich aus Sicht des AfD-Abgeordneten durchaus sinnvolle Anregungen. Die Stärkung der Behindertenrechte bleibe jedoch auf halber Strecke stehen. Pohl forderte, die Schwerbehindertenabgabe „endlich mal anzufassen, damit mehr Schwerbehinderte in Lohn und Brot kommen können“. Es brauche für diese Gruppe passgenaue Arbeitsplätze, die entsprechend ausgestattet sein müssten.
FDP moniert Umsetzungsdefizite
Jens Beeck (FDP) sagte, im Bereich der Personenzentriertheit aus dem Bundesteilhabegesetz gebe es bei einer Vielzahl von Hilfeleistungen, die schon vereinbart seien, „riesige Umsetzungsdefizite“. Das gleiche gelte für den Bereich der Mobilität. Das alles sei auch das Ergebnis der Politik der Vergangenheit, betonte der FDP-Abgeordnete. Was die Union in den Anträgen beklage und fordere, seien Wünsche, „die wir gemeinsam haben“. Die Union übernehme Forderungen aus Anträgen der FDP, die sie in Regierungsverantwortung noch abgelehnt habe, sagte Beeck.
Seine Fraktion, so erinnerte er, habe davor gewarnt, für die Deutsche Bahn Doppelstockzüge „ohne ein einziges barrierefreies Abteil“ zu bestellen. Dies habe die frühere Bundesregierung ignoriert. Nun kämen diese Züge, die dann 30 Jahre auf den Gleisen unterwegs seien. „Das können wir nicht in zwei Jahren, sondern erst in 40 Jahren ausgleichen“, sagte der FDP-Abgeordnete.
Erster Antrag der Unionsfraktion
Die CDU/CSU-Fraktion fordert mehr Tempo für Barrierefreiheit und einen inklusiven Sozialraum. Sie kritisiert in ihrem Antrag (20/4676) die Regierung dafür, das angekündigte Bundesprogramm Barrierefreiheit bislang noch nicht realisiert zu haben. Die Bundesregierung kündige zwar an, die legislativen Maßnahmen und Förderaktivitäten zur Verbesserung der Barrierefreiheit aller Ressorts in eine Bundesinitiative Barrierefreiheit einfließen lassen zu wollen. „Doch es reicht nicht, sich nur mit vorhandenen Aktivitäten zu begnügen. Vielmehr gilt es, gezielter und strukturierter auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene den Sozialraum inklusiv zu gestalten und konkrete Maßnahmen auf den Weg zu bringen“, schreibt die Unionsfraktion.
Sie fordert unter anderem, vorhandene Förderprogramme der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) wie das Programm „Altersgerecht Umbauen“ aufzustocken und neue aufzulegen, um zum Beispiel nicht barrierefreie Arztpraxen und andere Gesundheitseinrichtungen zu unterstützen. Im Personenbeförderungsgesetz soll ein Abweichen von der Umsetzungsfrist für eine vollständig barrierefreie Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs nur noch möglich sein, wenn die Einhaltung der Frist mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden oder aus nachvollziehbar guten Gründen nicht notwendig ist. Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und Taxiverbänden müsse ein Runder Tisch eingesetzt werden, um dort Lösungen für die Steigerung eines barrierefreien Taxiangebots zu entwickeln, schreiben die Abgeordneten.
Zweiter Antrag der Union
Nach dem Willen der Unionsfraktion soll der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in Deutschland komplett barrierefrei gestaltet werden. In ihrem Antrag (20/7190) fordert sie die Bundesregierung unter anderem auf, gegenüber den zuständigen Ländern darauf hinzuwirken, dass die in Milliardenhöhe vorhandenen Ausgabereste beim ÖPNV für barrierefreie Bahnhöfe zu nutzen, Haushaltsmittel für die „Bundesinitiative Barrierefreiheit“ einzuplanen und eine konkrete Umsetzungsperspektive für die Eckpunkte der Bundesinitiative insbesondere im Bereich Mobilität zu entwerfen sowie die im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP angekündigte Bundesprogramm Barrierefreiheit aufzulegen und mit Haushaltsmitteln zu unterlegen.
Zudem müssten gemeinsam mit den Ländern Maßnahmen vereinbart werden, um die 2013 in Kraft getretene Vorgabe des Personenbeförderungsgesetzes, wonach bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit für die Nutzung des ÖPNV erreicht werden muss, kontrolliert und sanktioniert werden kann. Ebenso müssten verbindliche Vorgaben für die Schaffung von flächendeckenden barrierefreien Haltestellen und das Einsetzen von Haltestellenkatastern entwickelt, an allen Fernbahnhöfen die Präsenzzeiten des Servicepersonals von 6 bis 24 Uhr eingeführt, Fahrkartenautomaten und digitale Fahrkartenangebote barrierefrei zugänglich gemacht und der barrierefreie Fernverkehr-Fuhrpark schneller ausgebaut werden.
Dritter Antrag der Unionsfraktion
Die CDU/CSU-Fraktion forderte die Bundesregierung außerdem dazu auf, eine langfristige Finanzierung des Zertifizierungs- und Kennzeichnungssystems „Reisen für Alle“ sicherzustellen. Das Zertifikat weist barrierefreie Reiseangebote aus. Um die Zahl der angeschlossenen Anbieter zu erhöhen, soll die Bundesregierung nach Forderung der Unionsfraktion in Zusammenarbeit mit den Bundesländern auf einheitliche, für die Tourismuswirtschaft einfach handhabbare Kriterien des Kennzeichnungssystems hinwirken, heißt es in dem entsprechenden Antrag (20/7590).
Weiterhin sollen in Abstimmung mit Behindertenverbänden, der Tourismuswirtschaft, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und den Bundesländern Konzepte entwickelt werden, wie entlang der gesamten touristischen Leistungskette Barrierefreiheit zum Standard gemacht werden könne, schreiben die Abgeordneten. Außerdem sollten Förderprogramme mit dem Schwerpunkt Digitalisierung stärker auf barrierefreie Angebote ausgerichtet und das Thema Barrierefreiheit vermehrt in Ausbildungs- und Studiengänge integriert werden.
Vierter Antrag der CDU/CSU-Fraktion
Auf einen barrierefreien Zugang zu Kultureinrichtungen und -veranstaltungen drängt die Union ebenfalls. In ihrem Antrag (20/8527) fordert sie die Bundesregierung auf, die im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur UN-Behindertenrechtskonvention enthaltenen Maßnahmen im Bereich Kultur umzusetzen, gegebenenfalls zu evaluieren und fortzuschreiben. Zudem soll ein Runder Tisch „Barrierefreie Reise- und Kulturerlebnisse“ unter gemeinsamer Leitung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Einbindung des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und den Beauftragten von Bund und Ländern für Menschen mit Behinderungen eingerichtet werden.
Nach den Vorstellungen der Union soll unter anderem eine Datenbank mit allen barrierearmen und barrierefreien Angebote von Bundeskultureinrichtungen erstellt, ein Leitfaden für die barrierefreie Durchführung von Kulturveranstaltungen aufgelegt und mit geeigneten Förderinstrumenten Barrierefreiheit als Qualitätskriterium zum Standard bei Bundeskultureinrichtungen gemacht und der Kulturpass für 18-Jährige barrierefrei angeboten werden. (che/aw/emu/hau/15.12.2023)