Vor 40 Jahren: Deutscher Bundestag hält am Nato-Doppelbeschluss fest
Vor 40 Jahren, am 22. November 1983, traf der Deutsche Bundestag eine weitreichende Entscheidung: Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP sprach sich das Parlament für den umstrittenen Nato-Doppelbeschluss von 1979 aus. Dieser sah die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland vor, falls die geplanten Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion (UdSSR) innerhalb der nächsten vier Jahren scheitern sollten.
Der Abstimmung im Parlament war eine zweitägige Aussprache über drei Anträge vorausgegangen: Während die Koalitionsfraktionen die Durchführung des Nato-Doppelbeschlusses forderten (10/620), lehnten SPD und Die Grünen die Stationierung von neuen Raketensystemen in Deutschland ab (10/621, 10/617). Eingeleitet worden war die Diskussion im Plenum mit einer Regierungserklärung des damaligen Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl (CDU), der betonte, die Debatte entscheide über die Grundsatzfrage, „wie in unserem Land, wie in Westeuropa Frieden und Freiheit gesichert werden können“.
Der Bundestagsbeschluss vom 22. November 1983 hat eine lange Vorgeschichte: Deutschland sowie die weiteren Nato-Staaten befanden sich im Kalten Krieg mit der UdSSR. Zwei Blöcke, zwei Wirtschaftssysteme, zwei Militärbündnisse. Und keinerlei Einlenken auf beiden Seiten. Trotz Bemühungen um Rüstungsbeschränkung und Versuche der Aussöhnung ging das atomare Wettrüsten in Ost und West weiter. Als die UdSSR Mitte der 1970er-Jahre begann, ihre auf Westeuropa ausgerichteten atomaren Mittelstreckenraketen zu modernisieren, befürchtete der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) ein strategisches Ungleichgewicht.
Sorge um atomares Gleichgewicht
Auf dem Höhepunkt der machtpolitischen Rivalität zwischen den USA und der UdSSR schlug Bundeskanzler Schmidt den Bündnispartnern auf einer Sitzung des Nato-Rats 1979 daher eine strategische Vereinbarung vor: „Nachrüstung so weit wie nötig zur Herstellung des ungefährlichen Gleichgewichts, aber so weit wie möglich gegenseitig vereinbarte Rüstungsbegrenzung.“
Mit seiner Forderung nach Rüstungskontrolle stieß Schmidt im Westen auf breite Zustimmung. Folglich unterzeichneten die Nato-Staaten am 12. Dezember 1979 ein entsprechendes Abrüstungsabkommen – begleitet von einer großen Protestbewegung in ganz Europa. Aus Sorge vor einem Atomkrieg schlossen sich auch in Deutschland Hunderttausende der Friedensbewegung an. Getragen wurde der Protest vor allem von den Grünen sowie kirchlichen und gewerkschaftlichen Gruppen. Aber auch Teile der SPD unterstützten die Forderung der Demonstranten, den Nato-Doppelbeschluss zurückzunehmen und Mitteleuropa zu einer „atomwaffenfreien Zone“ zu machen.
Schmidt stürzt, Kohl wird Kanzler
Die Kritik an der Politik des Kanzlers wuchs in den kommenden Wochen und Monaten immer weiter an und endete in einem von der CDU/CSU-Fraktion sowie der FDP-Fraktion durchgeführten Misstrauensvotum. In der Plenarsitzung am 1. Oktober 1982 appellierte Schmidt noch einmal an die „Glaubwürdigkeit der Institutionen und der handelnden Personen“ – doch ohne Erfolg. Mit einer absoluten Mehrheit sprach der Deutsche Bundestag sein Misstrauen gegenüber Bundeskanzler Helmut Schmidt aus und wählte als seinen Nachfolger den Abgeordneten Helmut Kohl (CDU/CSU). Damit war zum ersten Mal ein Regierungschef durch ein konstruktives Misstrauensvotum an die Macht gekommen.
Doch auch unter dem neuen Bundeskanzler war der Nato-Doppelbeschluss weiterhin eine Konfliktlinie. Zwar stand der neue Kanzler Kohl hinter dem Nato-Doppelbeschluss. Doch die kritischen Stimmen in der sich nun in der Opposition befindenden SPD mehrten sich – nicht zuletzt, weil die im November 1981 in Genf begonnen Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion bis dato erfolglos blieben.
Beschluss bleibt „Zankapfel“
In der Plenarsitzung am 22. November 1983 kritisierte der SPD-Abgeordnete Erwin Horn die Regierung für ihre „Verhandlungen und Behandlungen des Doppelbeschlusses“. Horn: „Der Doppelbeschluss ist inzwischen zum Zankapfel in unserem Bündnis geworden und belastet die Innenpolitik der Stationierungsländer.“ Ursprünglich habe die SPD den Beschluss als „eine Chance“ angesehen, um die „Großmächte an den Verhandlungstisch zu bringen, um Ergebnisse zur Abrüstung zu erreichen“. Doch die bloße Stationierung von Mittelstreckensystemen in Europa ändere „weder qualitativ noch quantitativ überhaupt etwas am globalstrategischen Gleichgewicht“. Vielmehr erscheine ihm die Stationierung als „Kennzeichen einer inneren Schwäche“.
Eine ähnlich ablehnende Haltung hatte auch Christa Nickels (Die Grünen), die dem Bundeskanzler vorwarf, sein Versprechen, Frieden „mit immer weniger Waffen“ zu schaffen, zu brechen. Wichtig sei es, dass die Politik auf die Wissenschaftler und Ärzte höre, die davor warnen, dass ein Atomkrieg „zum Untergang der Welt“ führe. Auch Willy Brandt (SPD) befürchtete einen Realitätsverlust: „Ich finde, dass die Bundesregierung verniedlicht, wo mehr Realismus geboten wäre“, kritisierte Brandt. „Aus meiner Sicht der Dinge ist leider abzusehen, dass der Einschnitt, der jetzt im Ost-West-Verhältnis bevorsteht, tiefer gehen wird, als es sich die meisten heute vorstellen.“
Koalitionsfraktionen halten am Beschluss fest
Der FDP-Abgeordnete Helmut Schäfer kritisierte die Friedensbewegung hingegen als eine „irrationale Strömung“. Eine „tiefsitzende romantische Neigung“ führe fälschlicherweise dazu zu glauben, „man könne sich aus der Verantwortung stehlen, man könne sich zwischen den Weltmächten eine Insel schaffen“. Die „Vorstellung eines deutschen Neutralismus“ sei „schlicht und einfach grotesk“. Bereits am Tag zuvor, dem ersten Tag der Debatte am 21. November, hatte der von der FDP gestellte Bundesminister für Auswärtiges, Hans-Dietrich Genscher, vor einem „Vakuum der Kräfte“ gewarnt. Außerhalb der Nato wäre Deutschland geschwächt und würde zum „Gegenstand der Rivalität werden“. Dies dürfe nicht geschehen.
Auch Bundesverteidigungsmister Dr. Manfred Wörner (CDU) verteidigte den Beschluss und warnte vor den Folgen einer Abkehr des Vertrags: „Ein Ausstieg aus dem Doppelbeschluss hätte verheerende Folgen für die Atlantische Allianz. Wer, ob Freund oder Feind, könnte sich dann auf unsere Entscheidungen noch verlassen?“
Bundestag stimmt Nachrüstung zu
Trotz einer intensiven Debatte blieben die Anträge der Oppositionsfraktionen SPD und Die Grünen mit der Forderung, die Aufrüstung zu stoppen, erfolglos. Stattdessen stimmte der von CDU/CSU und FDP geführte Bundestag am 22. November 1983 mit einer knappen Mehrheit von 285 Stimmen für die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik.
Einen Tag später brach die UdSSR die Abrüstungsgespräche mit den USA ab. Noch an selbem Tag wurden die ersten Pershing-II-Raketen in Deutschland stationiert. (mtt/17.11.2023)