Experten berichten über die Lage von Kindern mit queerer Identität
Zeit:
Mittwoch, 8. November 2023,
15
bis 16.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 2.200
Kinder mit queerer Identität machen regelmäßig diskriminierende Erfahrungen: verbal und körperlich, in der Öffentlichkeit, in der Schule, ja im eigenen Elternhaus. Mehr finanzielle Unterstützung von der Politik für ihre Vereine, die für Betroffene oft die einzige Anlaufstelle seien, forderten daher die Sachverständigen im Fachgespräch der Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder (Kinderkommission, Kiko) zum Thema „Queer“ am Mittwoch, 8. November 2023.
Bedarf an struktureller Unterstützung
In den letzten Jahren habe die Transfeindlichkeit in Deutschland zugenommen, sagten Chris Hess und Amelie Kutz vom Verein Queer in Niederbayern e.V. Sowohl die Zahl der verbalen Attacken als auch die der Gewaltdelikte seien gestiegen, mehr psychische und chronische Erkrankungen seien aufgrund der Diskriminierung in diesem Personenkreis zu verzeichnen als im Durchschnitt der Altersgruppe.
Leider tradiere die Bildungseinrichtung Schule allzu oft die Vorurteile der Älteren und Erziehungsberechtigten. In vielen Bundesländern stehe das Thema queer nicht auf dem Lehrplan, die Lehrkräfte seien nicht ausgebildet und ließen sich immer wieder zu queer-feindlichen Äußerungen hinreißen. Im ländlichen Raum fehle es besonders an Anlauf- und Beratungsstellen.
Ihr Verein biete Betroffenen einen sicheren Raum, um sich für ein paar Stunden mal nicht rechtfertigen zu müssen und Erfahrungen austauschen zu können. Hess und Kutz warben dafür, queeren Beratungsstellen strukturelle Unterstützung zu gewähren, um solche Räume zu schaffen und den in der Beratung überwiegend ehrenamtlich Tätigen mit hauptamtlichen Kräften zur Seite zu stehen.
Aufklärung über queeres Leben
Unter anderem mit einem Bildungsangebot, das die Beratung anderer queerer Jugendlicher vermittelt, engagiere sich ihr Verband für die Belange queerer junger Menschen, berichteten Aaron Auchter und Emily Schunk vom Lambda Bundesverband. Es gebe einige Fortschritte in der Anerkennung queerer Menschen zu verzeichnen. Das Thema werde in der Gesellschaft immer sichtbarer. Andererseits stünden sich auch immer mehr Pole unterschiedlicher Identitäten gegenüber, die nicht zueinander fänden und die ihre jeweilige Lebensweise daher immer mehr nur in separaten Räumen pflegten, so Schunk. Viele machten bereits in der frühen Kindheit die Erfahrung, im negativen Sinne anders zu sein, da die Identitätsannahmen der Mehrheitsgesellschaft beispielsweise im Kontext der Schule nicht hinterfragt würden. Das führe zu Marginalisierung der Betroffenen. Daher fühlten sich junge Menschen sich lange als „falsch“ - ein schweres Hindernis bei der Selbstfindung. Hinzu komme die Angst und die tatsächliche Gefahr vor physischer Gewalt, sagte Auchter.
Das Wissen über Queerness in der Gesellschaft müsse vergrößert werden, Vorurteile seien abzubauen und queere Menschen in ihrem Lebensentwurf positiv zu bestärken. Diese wollten ernst genommen und einbezogen werden. Flächendeckend bundesweit müssten die Beratungsstellen ausgebaut und dauerhaft finanziert werden. Der Schutz vor Hassverbrechen sei zu verbessern und solche Straftaten lückenlos zu erfassen. In der Summe gehe es darum, dass queere Menschen in Deutschland sicher leben könnten. Das könne jeder einzelne durch seine persönliche Haltung unterstützen. Die Queere Community hoffe jetzt auf die baldige Verabschiedung des neuen Selbstbestimmungsrechts. Aus queerer Perspektive gebe zwar noch Änderungsbedarf, etwa bei den festgelegten Altersgrenzen, zu Wohnort, Vormundschaft oder der Wartezeit bei einer Namensänderung, wichtig sei jedoch, dass das Gesetz nun komme.
Wie bei allen Präventionsthemen könne man mit der Aufklärung über queeres Leben in Gesellschaft und Schule bei den Kindern nicht früh genug anfangen, sagte Schunk. Es gehe nicht nur darum, den Sexualkundeunterricht umzustrukturieren, damit Geschlecheridentitäten nicht patologisiert würden und sich niemand ausgeschlossen fühle. Es gehe vielmehr darum, das hetero-normative Familienbild in seiner Ausschließlichkeit zu überwinden. Es gebe mittlerweile viele aufklärerische Sachbücher, die auch Queerness behandelten. Aber warum sollten nicht auch in ganz normalen Kindergeschichten, zusätzlich zu dem Schema Vater-Mutter-Kind, Charaktere mit anderen geschlechtlichen Identitäten auftreten? Queerness betreffe statistisch die Lebensrealität eines Kindes pro Klasse.
Ausbau der Bildungsarbeit
Was für eine Belastung Mehrfachdiskriminierungen darstellen, darüber berichtete die Judaistikstudentin und Rabbinern Helene Shani Braun. Als Gründungsmitglied des Vereins Keshet Deutschland setze sie sich dafür ein, dass sich jüdische Menschen nicht zwischen ihrer queeren und ihrer jüdischen Identität entscheiden müssen. Beide Identitäten seien oft nicht leicht zu miteinander zu vereinbaren. Während Queere oft in jüdischen Gemeinden nicht willkommen seien, würden Juden in der Gesellschaft angefeindet. Der Verein bringe queere und jüdische Menschen zusammen und wolle diese Gruppe stärken.
Für die Bildungsarbeit benötige der Verein mehr finanzielle Unterstützung. Es gehe darum, die Bildungsarbeit der Ehrenamtlichen auszubauen und Bildungsangebote für Schulen zu machen. Die Schulbücher vermittelten leider nur ein sehr einseitiges Bild vom Judentum in Deutschland, das seinen Platz meist im Geschichtsunterricht habe. Das werde der Vielfalt des heutigen jüdischen Lebens in Deutschland nicht gerecht, das auch queere Gläubige umfasse. Es gehe darum, diese Vielfalt sichtbar zu machen. (ll/08.11.2023)