Zeit:
Mittwoch, 8. November 2023,
11
bis 13 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 2.600
Die von den Koalitionsfraktionen geplante Inflationsausgleichs-Sonderzahlung für berufliche Betreuer, Betreuungsvereine und ehrenamtliche Betreuer war Thema einer öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages am Mittwoch, 8. November 2023. Der entsprechende Gesetzentwurf von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (20/8864), der außerdem eine Änderung des Betreuungsorganisationsgesetzes vorsieht, wurde von den Sachverständigen aus der Betreuungspraxis und den Kommunalverbänden als „erster Schritt“ begrüßt, der aber bei Weitem noch nicht ausreiche. Gleichzeitig warnten sie vor einer Schließungswelle bei den Betreuungsvereinen.
Thorsten Becker, Vorsitzender des Bundesverbandes der Berufsbetreuer und -betreuerinnen, erklärte in seiner Stellungnahme, der im Entwurf verfolgte Ansatz beinhalte eine Reihe von entscheidenden Schwächen. Unter anderem werde verkannt, dass Berufsbetreuer und -betreuerinnen aus einer eventuellen Vergütungsanpassung nicht nur ihre erhöhten Betriebsausgaben, sondern auch ihren persönlichen Lebensunterhalt bestreiten müssen. Der Verband bleibe daher bei seiner Forderung, den Inflationsausgleich durch eine Erhöhung der Vergütung um 19,3 Prozent zu gewährleisten.
Rechtliche Betreuung strukturell unterfinanziert
Auch Hans-Josef Göers vom Betreuungsverein Hilfswerk Bremen für Menschen mit Beeinträchtigungen, der wie Becker von der CDU/CSU-Fraktion eingeladen wurde, betonte, dass die rechnerischen Umsetzungen dieser Kostenentwicklungen im Gesetzentwurf den gegenwärtigen Rahmenbedingungen in Betreuungsvereinen nicht gerecht würden. Aus seiner Sicht sei die rechtliche Betreuung strukturell unterfinanziert. Eine Erhöhung von Fallzahlen zur Kompensation der Kosten sei unverantwortlich und könne nicht ansatzweise gewollt sein. Um die vorhandenen und bevorstehenden Kostensteigerungen auszugleichen, müssten die Fallpauschalen monatlich je Klient um rund 26 Euro erhöht werden. Eine Ausgleichszahlung in Höhe von 7,50 Euro decke weder die Kostensteigerungen noch die künftigen Tariferhöhungen.
Der von der FDP-Fraktion eingeladene Geschäftsführer des Bundesverbandes freier Berufsbetreuer, Klaus Bobisch, erklärte in seiner Stellungnahme, die Behauptung in dem Entwurf, es werde gewährleistet, dass die gestiegenen Kosten insbesondere in den Bereichen Personal, Mobilität sowie Miet- und Sachkosten ausgeglichen werden, treffe nicht zu. Die Verbände hatten bereits in ihren Stellungnahmen zu dem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums darauf hingewiesen, dass eine Inflationsausgleichs-Sonderzahlung von monatlich 7,50 Euro nicht ausreiche.
Angemessene Vergütung gefordert
Dr. Lydia Hajasch von der Bundesvereinigung Lebenshilfe, die auf Einladung der SPD an der Anhörung teilnahm, verwies darauf, dass es vorrangiges Ziel der Betreuung sei, die Autonomie und Selbstbefähigung der betroffenen Personen zu erhalten. Eine entsprechende qualitative Betreuung müsse sich in einer angemessenen Vergütung widerspiegeln. Mittlerweile könnten aber sowohl die Personal- als auch die Miet- und Sachkosten von den Betreuungsvereinen nicht mehr finanziert werden. Die mit dem Entwurf vorgesehene Sonderzahlung eines Inflationsausgleichs schaffe lediglich einen Ausgleich für die gestiegenen Personalkosten. Ebenso erscheine die Weitergabe der Kostensteigerungen an die rechtlich betreuten Menschen fragwürdig.
Kerrin Stumpf vom Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen begrüßte die Sonderzahlung für die ehrenamtlichen Betreuer und die Betreuungsvereine. Sie müsse allerdings sofort gezahlt werden, denn die Teuerungen lägen jetzt schon vor. Die Höhe der Sonderzahlung und die fehlende Bezugnahme auf das Arbeitgeberbrutto zeige, dass auch in diesem Gesetzgebungsverfahren Betreuungsvereine in ihrer Struktur nicht wahrgenommen werden. Aus Sicht der Ehrenamtlichen sei auch die Entnahme aus dem Vermögen des Betreuten eine große Erschwernis. Sehr begrüßt werde dagegen die Änderung des Betreuungsorganisationsgesetzes. Die Stimmung unter den Ehrenamtlichen ist Stumpf zufolge angespannt. Ehrenamt sei keine Selbstverständlichkeit, es müsse daher gefördert werden.
Kostenausgleich statt Inflationsausgleich
Markus Trude, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Betreuungsrecht des Deutschen Anwaltvereins, erklärte, bei der Ausgleichszahlung werde verkannt, dass Berufsbetreuerinnen und -betreuer anders als Angestellte auch erhöhte Kosten im Rahmen ihrer Selbständigkeit zu schultern hätten. Es handele sich also nicht um einen Inflationsausgleich, sondern allenfalls um einen Kostenausgleich. Für viele Berufsbetreuer und -betreuerinnen wäre das Einkommen dann nicht mehr über auskömmlich.
Sabine Weisgram von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, erklärte, das gesetzgeberische Ziel, der existenzbedrohenden Notlage der Betreuungsvereine entgegenzuwirken, werde mit dem Entwurf nicht zu erreichen sein, da die hierfür verantwortlichen Probleme nicht gelöst würden. Auch bei Umsetzung des vorliegenden Entwurfes sei das wirtschaftliche Überleben der Betreuungsvereine weiterhin bedroht, so die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingeladene Expertin. Deshalb müsse die Inflationsausgleichs-Sonderzahlung rückwirkend zum 1. Januar 2023 in Kraft treten, zum anderen müssten die Kostenbestandteile, die aus der Rolle als Arbeitgebende entstehen, in die Berechnung der Sonderzahlung einfließen.
Spitzenverbände befürchten höhere Belastung der Kommunen
Auch die kommunalen Spitzenverbände halten den Entwurf für nicht weitgehend genug. Ihnen ist Gelegenheit zur Teilnahme an Anhörungen zu geben, wenn ein Gesetzentwurf wesentliche Belange von Gemeinden und Gemeindeverbänden betrifft. Andrea Vontz-Liesegang vom Deutschen Städtetag erklärte, eine Inflationsausgleichs-Sonderzahlung für Betreuer und Betreuungsvereine sei ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die vorgesehene Berechnung des Inflationsausgleichs entspreche allerdings noch nicht vollumfänglich den tatsächlich entstehenden Kosten der Betreuer und Betreuungsvereine. Es bestehe die Sorge, dass der Betreuermangel und der Rückzug von Betreuungsvereinen sich infolge der Belastungen weiter verstärken wird und die kommunalen Betreuungsstellen als Ausfallbürgen die Betreuungen führen müssten.
Für den Deutschen Landkreistag nahm Dr. Irene Vorholz an der Anhörung teil. Die vorgesehene Inflationsausgleichs-Sonderzahlung für ehrenamtliche Betreuer, Vereinsbetreuer und Berufsbetreuer könne die Kosten der beträchtlichen Inflationssteigerung abfangen, erklärte sie. Allerdings sei zu kritisieren, dass für ehrenamtliche Betreuer lediglich ein Betrag von 24 Euro jährlich vorgesehen sei. Zu hinterfragen sei auch, dass die Sonderzahlung erst ab 1. Januar 2024 vorgesehen ist. Da die Zahlung an den TVöD anknüpft und dieser bereits umgesetzt werde, sollte ein früherer Zeitpunkt beziehungsweise ein schnelleres Verfahren geprüft werden.
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen
Der Entwurf sieht die Schaffung einer zeitlich begrenzt wirkenden Sonderzahlung für einen wirksamen Inflationsausgleich vor, deren Höhe sich am Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen vom 22. April 2023 orientieren soll. Zur Abbildung des Tarifabschlusses, der eine Kombination aus Einmalzahlungen und einer linearen Erhöhung des Bruttolohns vorsehe, werde eine Inflationsausgleichs-Sonderzahlung pro geführter Betreuung errechnet, die monatsweise ausgezahlt und auf den Zeitraum Anfang 2024 bis Ende 2025 aufgeteilt werde.
Neben der Zahlung an berufliche Betreuerinnen und Betreuer solle auch eine Regelung geschaffen werden, die ehrenamtlichen Betreuerinnen und Betreuern eine Sonderzahlung zum Ausgleich inflationsbedingter Mehrkosten gewährt werden. Wie in dem Entwurf ausgeführt wird, fallen die Ausgaben für die Inflationsausgleichs-Sonderzahlungen den Landesjustizhaushalten für alle Betreuungen zur Last, in denen die betreute Person mittellos ist. Die Bürgerinnen und Bürger, die nicht mittellos seien und deshalb für die Vergütung der beruflichen Betreuung selbst aufkommen müssten, würden durch die Inflationsausgleichs-Sonderzahlung höher belastet. Entsprechendes gelte für ehrenamtlich betreute Personen, die eine Aufwandspauschale aus ihrem Vermögen zahlen.
Evaluierung des Vergütungssystems geplant
Mit der Änderung des Betreuungsorganisationsgesetzes soll ehrenamtlichen Betreuerinnen und Betreuern die Erfüllung der Pflicht erleichtert werden, vor ihrer Bestellung einen aktuellen Auszug aus dem zentralen Schuldnerverzeichnis vorzulegen. An der geplanten Evaluierung des Vergütungssystems soll dem Entwurf zufolge festgehalten werden. Danach soll das Bundesministerium der Justiz bis zum 31. Dezember 2024 einen entsprechenden Bericht veröffentlichen.
Der Bundestag hatte den Entwurf erstmals am 19. Oktober 2023 beraten. Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann (FDP) hatte in der Debatte erklärt, es bestehe „dringender Handlungsbedarf“, und es liege „ein pragmatischer Vorschlag“ auf dem Tisch. Der Betreuerinflationsausgleich sei eine effektive und kostenbewusste Übergangslösung, der die Funktionsfähigkeit des Betreuungswesens in den nächsten zwei Jahren sichere. (mwo/08.11.2023)