Fester zum Weltkindertag: Eigentlich müsste jeder Tag ein Kindertag sein
Wir müssen Kindern mehr Gehör verschaffen und ihre Beteiligungsrechte stärken, sagt Emilia Fester (Bündnis 90/Die Grünen), Vorsitzende der Kinderkommission (Kiko) des Deutschen Bundestages, anlässlich des Unicef-Weltkindertages am 20. September. In Ihrer Vorsitzzeit lässt sie junge Menschen selbst zu Wort kommen. „Kinder sind die Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebensrealitäten. Ich lade Kinder und Jugendliche statt 'Erwachsenen-Sachverständigen' ein, um ihnen zu vermitteln, dass es sich lohnt, politisch aktiv zu werden und sich zu beteiligen, statt zu resignieren.“ Im Interview spricht Fester darüber, was Kinder am dringendsten brauchen, was sie in ihrer Vorsitzzeit anders macht als ihre Kolleginnen und Kollegen und warum Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden sollten. Das Interview im Wortlaut:
Frau Fester, Sie haben im zweiten Halbjahr den Vorsitz der Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder, kurz Kinderkommission (Kiko) inne, der Stimme für Kinder im Deutschen Bundestag. Was ist Ihre Botschaft zum Unicef-Weltkindertag 2023?
Kinder sind die Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebensrealitäten. Sie müssen wir mehr zu Wort kommen lassen. Sie sollten stärker ihre Perspektive einbringen und zum Ausdruck bringen können, was sie für relevant halten. In der Kiko haben die Belange der Kinder unsere volle Aufmerksamkeit. Wir transportieren die Botschaften der Kinder. Der Kindertag ist wichtig, um Aufmerksamkeit für die Sache der Kinder zu erzeugen. Eigentlich müsste jeder Tag ein Kindertag sein.
„Kinderinteressen werden in der Politik nach wie vor an vielen Stellen systematisch ausgeblendet“, heißt es beim Kinderhilfswerk zum diesjährigen Weltkindertag. Die Kinderkommission will genau das Gegenteil erreichen: die Rechte der Kinder wahrnehmen, quer durch alle Politikfelder. Wie machen Sie das? Wie fließt Politik für Kinder in die Gesetzgebung ein?
Kinder- und Jugendpolitik ist eine unfassbar wichtige Querschnittsaufgabe, die in alle anderen Politikbereiche hineinragt. Wir in der Kiko haben bei anstehenden Gesetzgebungsvorhaben in allen Fachbereichen ein Auge darauf, welche Auswirkungen diese für die Kinderrechte haben. Auch geht kein Gesetz durch den Bundestag ohne den 'Jugend-Check' des Bundesministeriums für Familie. Denn die Welt der Kinder stellt ganz eigene Anforderungen, etwa wenn es um die Ausgestaltung öffentlicher Räume geht.
Was für Themen haben Sie sich für Ihre Vorsitzzeit vorgenommen?
Ich möchte vor allem die jungen Menschen selbst zu Wort kommen lassen. Dabei geht es eigentlich um sämtliche Politikfelder und Themen. Kinder und Jugendliche sind von den Entscheidungen schließlich am längsten betroffen. Das wollen wir in meiner Zeit als Vorsitzende abbilden, von Fragen der Bildung und Chancengerechtigkeit über die Freizeitgestaltung, die Mobilität, den Klimaschutz oder den Umgang mit Rassismus bis hin zu der zu erwartenden Rente. Ganz wichtig ist mir, die Beteiligungsrechte von Kindern zu stärken. Erst das macht sie politisch zu Subjekten.
Zu den öffentlichen Fachgesprächen laden Sie nur Expertinnen und Experten unter 27 ein und lassen auch zahlreiche Minderjährige als Sachverständige in eigener Sache zu Wort kommen. Ein starkes Zeichen. Was bewirkt das über das Symbolische hinaus?
Kinder und Jugendlichen bringen wir dadurch besondere Wertschätzung entgegen. Sie bekommen auf diese Weise nicht nur das Gefühl, gehört zu werden. Sie erhalten Gelegenheit uns zu erzählen, was ihre Welt ist. Dabei laden wir junge Menschen ein, die nicht nur wegen ihres Alters als Gäste dabei sind – sie sind engagiert, haben starke Analysen und Forderungen, stellen Projekte auf die Beine, organisieren gesellschaftliche Bewegungen, führen Studien durch oder leiten Verbände. So erhalten wir einen echten Einblick in die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen. Wir wollen ihre Anliegen weiterleiten und uns für die Umsetzung stark machen. Die Erkenntnisse und Ergebnisse unserer meist öffentlichen Fachgespräche leiten wir dann die zuständigen Fachausschüsse, die Bundesregierung oder die Bundesländer weiter.
Wo werden die Interessen von Kindern heute missachtet? Und was brauchen Kinder 2023 am dringendsten?
Insgesamt erhalten Kinder zu wenig Gehör und werden von Gesellschaft und Politik nicht als vollwertige Subjekte wahrgenommen, dürfen beispielsweise nicht wählen. Sie sind demographisch in der Minderheit. Aufmerksamkeit und Angebote gelten der Mehrheit der Älteren. Auch wenn es um Kinder geht, werden meist die Eltern und Lehrer angesprochen. Die Schulpolitik ist an Eltern und Lehrern ausgerichtet. Partizipation ist der Weg, diesen Zustand zu verbessern und Kinder und Jugendliche mehr mitgestalten zu lassen. Unsere Familienministerin Lisa Paus führt da einen ehrgeizigen Kampf, die Kindergrundsicherung ist ein erster wichtiger Schritt, ein Einstieg, aber das Geld reicht natürlich noch nicht, da sind sich alle Experten einig.
Haben es Kinder grundsätzlich gut in Deutschland?
Die Ressourcen für ein gutes Leben sind auch im reichen Deutschland weiterhin ungleich verteilt. Ein gutes Leben hängt zu stark vom Geldbeutel der Eltern ab, jedes fünfte Kind lebt in Armut. Das wirkt sich oft auch massiv auf die körperliche und seelische Gesundheit aus und formt so, ob junge Menschen mit Sorge oder Zuversicht in die Zukunft blicken können.
Haben es Kinder heute besser als zu Ihrer Kindheit?
Wir wissen, dass Armut und soziale Ausgrenzung junger Menschen in Europa gerade ein trauriges Rekordhoch erreicht haben. Zu dieser andauernden Krise kommt die immer spürbarere Klimakrise hinzu, mit deren Folgen auch wieder die Kinder am längsten und somit am stärksten betroffen sind. Der Schutz der Umwelt ist daher auch das Thema unserer Sitzung am 20. September. Wir behalten aber auch die universellen Kinderrechte im Auge, an deren vollständiger Umsetzung es vielerorts hapert.
Schauen Sie in erster Linie auf Deutschland oder haben Sie die Lage der Kinder weltweit im Blick?
Als Bundestagsabgeordnete schauen wir natürlich auch über den Tellerrand und behalten die globale Entwicklungen im Auge. So haben wir beispielsweise unsere große Sorge über die aus der Ukraine verschleppten Kinder zum Ausdruck gebracht und uns im Gespräch mit dem Beauftragten für Kinderrechte in der Ukraine informiert. Universelle Kinderrechte machen nicht an Ländergrenzen halt.
Warum haben Sie persönlich sich entschieden, Politik für Kinder, ja mit Kindern, zu machen, und an dieser Stelle, der Kiko, zu wirken?
Der Emanzipationskampf der jungen Generation um ihren Platz in der Gesellschaft liegt mir am Herzen. Die Kiko im Deutschen Bundestag ist der Ort, wo wir dafür kämpfen, dass Kinder ernst genommen und ihre Interessen beachtet werden. Ich lade Kinder und Jugendliche statt 'Erwachsenen-Sachverständigen' ein, um ihnen zu vermitteln, dass es sich lohnt, politisch aktiv zu werden und sich zu beteiligen, statt zu resignieren in einer Welt, die immer krisenhafter zu werden scheint. Zahlreiche Studien zeigen, dass sich Kinder von der Politik nicht gut vertreten fühlen. Daran will ich etwas ändern. Es fängt mit Zuhören und echter Beteiligung an.
Ihre eigene Kindheit liegt noch nicht allzu weit zurück, Sie sind mit 25 die zweitjüngste Abgeordnete im 20. Deutschen Bundestag. Qualifiziert Sie das in besonderer Weise für Ihr Engagement im Namen der Kinder?
Klar, ich bin einfach näher dran als die meisten, der Altersdurchschnitt unter den Abgeordneten liegt bei 47 Jahren. Das hilft, aber ich definiere mich als Jugendpolitikerin nicht allein durch mein junges Alter, das macht mich nicht zur Expertin. Aber vielleicht gelingt es mir dadurch etwas besser, meiner Generation Politik verständlicher und nahbarer zu machen. Wir kümmern uns in der Kiko übrigens nicht nur um Kinder, sondern haben auch die folgenden Altersgruppen bis 27, also alle jungen Leute, im Blick. Zwischen den Altersgruppen gibt es viele thematische Schnittmengen. So sind beispielsweise gerade junge Erwachsene in besonderem Maße von Armut betroffen.
Sie machen sich im Rahmen einer interfraktionellen Initiative dafür stark, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Warum? In Deutschland gilt doch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen als nationales Recht.
Wir wollen damit die Gleichberechtigung der Kinder als Rechtsträger sichtbarer machen. Es ist schon ein Gefälle, ob man es in der Rechtsordnung hat durch die Konvention oder ob es in den Rang von Verfassungsrecht gehoben wird. An der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt sieht man beispielhaft, wie wenig den darin garantierten Rechten in nationalen Rechtsordnungen zum Durchbruch verholfen wird. Daher müssen Kinderrechte als ein klarer staatlicher Auftrag im Grundgesetz garantiert werden.
Was für kinder-spezifische Rechte sollten denn in der Verfassung ergänzt werden? Und inwieweit würde das, über ein politisches Statement hinaus, helfen, die Situation von Kindern zu verbessern?
Es geht darum, das Kindeswohl und die Beteiligungsrechte von Kindern zu stärken. Wir wollen auf keinen Fall hinter die Kinderrechtskonvention zurückfallen. Durch die Kinderrechte im Grundgesetz würde keine neue Rechtslage entstehen, aber eine Hilfe bei der Rechtsauslegung, bei der wir beispielsweise die Jugendämter hinter uns wissen. Wenn wir dafür eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit bekommen, würden wir einen Paradigmenwechsel schaffen, der über den Jugend-Check des Bundesfamilienministeriums hinausgeht. Kinderrechte müssten dann bei allen Entscheidungen vorrangig in Betracht gezogen werden.
Werden es Kinder in Zukunft besser haben als heute?
Es muss unser Ziel sein, unseren Kindern eine bessere Welt zu überlassen als eine, wie sie sich heute darstellt. Dann ja. Aber um das zu erreichen, müssen wir politisch so langsam in Schwung und über Symbolpolitik hinauskommen in zentralen Fragen: vom Klimaschutz über die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit bis hin zur Umsetzung der Kinderrechte. Wir müssen politisch und gesamtgesellschaftlich Verantwortung für die Zukunft übernehmen.
(ll/18.09.2023)