Parlament

De Ridder: Russland unter­miniert die Arbeit der OSZE auf systematische Weise

Daniela De Ridder steht hinter dem Rednerpult im Plenum und spricht

Dr. Daniela De Ridder (SPD), amtierende Leiterin der deutschen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung der OSZE und Vizepräsidentin der OSZE PV (© picture alliance / Flashpic | Jens Krick)

Für den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der Parlamentarischen Versammlung sowie „für eine breite Sicherheitsstrategie, die sich nicht nur in militärischen Aspekten erschöpfen darf“, werde sie sich in der aktuellen Krisenzeit einsetzen, sagt Dr. Daniela De Ridder (SPD), amtierende Leiterin der deutschen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung der OSZE (OSZE PV), nach der Jahrestagung der Organisation in Vancouver in Kanada vom 30. Juni bis 4. Juli 2023, wo sie mit breiter Mehrheit zur neuen Vizepräsidentin der OSZE PV gewählt wurde. Im Interview spricht De Ridder, die auch Sonderbeauftragte der OSZE PV für Osteuropa ist, über die aktuellen Krisenherde dort, die destruktive Rolle Russlands und darüber, wie die OSZE damit umgehen sollte. Das Interview im Wortlaut:

Frau Dr. De Ridder, die Parlamentarische Versammlung hat Sie fraktionsübergreifend mit dem besten Ergebnis gleich für drei Jahre zur neuen Vizepräsidentin der OSZE PV gewählt. Die Zeiten sind schwer, es braucht starke Persönlichkeiten. Was haben Sie sich selbst als Vizepräsidentin vorgenommen und was erwarten Sie von der ebenfalls neu gewählten Präsidentin Pia Kauma aus Finnland?

Ich freue mich sehr über das enorme Vertrauen meiner internationalen Kolleginnen und Kollegen, die mich mit großer Mehrheit in dieses Amt gewählt haben. Vordringlichste Aufgabe ist nun, in diesen Krisenzeiten den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der Parlamentarischen Versammlung zu bewahren und zu stärken. Friedliche Konfliktlösungen, humanitäre Aufnahme von Geflüchteten, Klimaschutz, Ernährungssicherheit, Rechte von Frauen und Minderheiten sowie Wahlbeobachtungen und Feldmissionen der OSZE - zum parlamentarischen Dialog gehört eine breite Sicherheitsstrategie, die sich nicht nur in militärischen Aspekten erschöpfen darf. Dafür werde ich mich mit ganzer Kraft einsetzen und der neuen Präsidentin Pia Kauma, der ich herzlich zu ihrer Wahl gratuliere, meine volle Unterstützung anbieten.

Russland ist weiterhin Mitglied der OSZE, dem traditionellen west-östlichen Gesprächsforum, die russische Delegation aber erhält wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine keine Einreisevisa zu den Tagungsorten. Moskau wiederum zahlt keine Mitgliedsbeiträge mehr. Die Situation scheint total verfahren. Wie wirkt sich der Konflikt in Osteuropa nach eineinhalb Jahren auf die Arbeit der PV aus?

Russland unterminiert die Arbeit der OSZE auf systematische Weise: Es  behält seine Mitgliedsbeiträge ein, blockiert die Verabschiedung des OSZE-Haushalts sowie die weitere Durchführung der langjährigen OSZE-Mission in der Ukraine. Die OSZE hat sich davon aber nicht lähmen lassen und ihre Arbeit in der Ukraine mit extrabudgetär finanzierten Unterstützungsprogrammen fortgesetzt. Auch die Parlamentarische Versammlung kommt weiterhin zu den turnusmäßigen Tagungen zusammen, unabhängig davon, ob die russische Delegation daran teilnimmt oder nicht. Die Erteilung von Einreisevisa für die russische Delegation ist Sache der nationalen Regierung des OSZE-Teilnehmerstaats, der die jeweilige Tagung ausrichtet.

Was für Vorschläge machen die Parlamentarier, wie die Krise um die Ukraine gelöst werden kann?

Wir haben als Parlamentarierinnen und Parlamentarier unmissverständlich klar gemacht, dass unsere volle Solidarität der zu Unrecht angegriffenen Ukraine gilt und sie das Recht hat, ihre territoriale Integrität und staatliche Souveränität zu verteidigen. Wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, steht ihre staatliche Existenz auf dem Spiel. Wenn sich hingegen Russland aus der Ukraine zurückzieht, ist der Krieg beendet. Deshalb haben wir mehrere Beschlüsse gefasst, die Russland zum vollständigen Rückzug seiner Truppen aus der Ukraine und zu Reparationszahlungen auffordern. Ich selber habe dazu als Sonderbeauftragte für Osteuropa auf der Jahrestagung einen umfassenden Ergänzungsantrag eingebracht, der mit großer Zustimmung angenommen wurde.

Welches sind die wichtigsten Punkte in ihrem Ergänzungsantrag?

Wichtige Punkte sind die Solidarität mit der Ukraine und die scharfe Verurteilung Russlands als alleiniger Aggressor, die Strafverfolgungs- und Anklagemöglichkeiten von russischen Kriegsverbrechen in den OSZE-Teilnehmerstaaten nach dem Weltrechtsprinzip sowie Vorschläge zur künftigen Arbeitsweise. Ich habe insbesondere vorgeschlagen, das Thema Ernährungssicherheit prominent zu platzieren. Durch den Ukrainekrieg sind die internationalen Lieferketten für die Nahrungsmittelversorgung der Weltbevölkerung akut gefährdet. Es droht eine massive Verschärfung der Hungerkrise, insbesondere in den Ländern des globalen Südens.

Eine Ländergruppe um die Ukraine möchte eine Änderung der Geschäftsordnung dahingehend, dass Delegationen aus Staaten, die einen Krieg gegen andere Staaten beginnen, mit dem Entzug der Mitgliedsrechte sanktioniert werden. Für die Änderung ist aber die nötige Mehrheit nicht in Sicht. Welche Möglichkeiten sieht die deutsche Delegation, das Vorhaben umzusetzen?

In der Parlamentarischen Versammlung gilt das Konsensprinzip minus eins, was dem historischen Entwicklungsprozess der Mutterorganisation geschuldet ist. Das ist grundsätzlich eine sehr hohe Hürde für Änderungen der Geschäftsordnung. Faktisch hat sich Russland mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine komplett isoliert, indem es die Werte und Prinzipien der Organisation mit Füßen tritt, die es einst selbst mitgegründet hat. Ich sehe einen möglichen Kompromiss darin, unterhalb der Schwelle einer Vollsuspendierung aller Mitgliedsrechte bestimmte Einzelsanktionen einzuführen, wie etwa den Entzug des aktiven und passiven Wahlrechts bei der Besetzung von internen Spitzenfunktionen. Wer die Prinzipien der eigenen Organisation missachtet, soll sie auch nicht nach außen hin repräsentieren dürfen.

Mit der Erklärung von Vancouver wollte die Versammlung auf ihrer Jahrestagung ein starkes Signal senden. Ist das gelungen? Was sind für Sie wichtigsten Punkte?

Die Abschlusserklärung ist ein starkes Signal der Solidarität mit der Ukraine und eine klare Botschaft, dass es mit Russland und Belarus kein Business as usual gibt, solange Russland seinen verbrecherischen Angriffskrieg fortsetzt und Belarus dies unterstützt. Zudem haben die Forderungen nach Strafverfolgung der russischen Kriegsverbrechen breite Zustimmung gefunden. Die politisch Verantwortlichen und die Straftäter sollen wissen, dass sie nicht straffrei bleiben werden. Auch die systematischen Kinderdeportationen aus den besetzen Gebieten der Ukraine nach Russland wurden dank einer Initiative der Kollegin Renata Alt aus der deutschen Delegation in die Abschlusserklärung aufgenommen und scharf verurteilt.

Was für Themen standen jenseits des Krieges in der Ukraine auf der Tagesordnung der Versammlung, mit denen die OSZE ihrer Bedeutung als Ort der Zusammenarbeit in Fragen der Sicherheit und darüber hinaus gerecht wird?

Das Alleinstellungsmerkmal der OSZE ist ihre Bedeutung als diplomatische Dialogplattform. Andere wichtige Themen auf der Jahrestagung waren die Situation in Belarus, der Republik Moldau und Georgien, der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, Geopolitik, Klimakrise und globale Migration sowie die Wahlbeobachtungsmissionen. Zudem hat die Jahrestagung meine Initiative zur Wissenschaftsdiplomatie ebenfalls verabschiedet. Insgesamt war die Jahrestagung für die deutsche Delegation ein voller Erfolg. Das zeigt die Wichtigkeit und die Wertschätzung, die unsere Mitarbeit in den Gremien der OSZE erfährt.

Wie lässt sich die Haushaltskrise der Organisation lösen?

Kurzfristig soll ein interner Business- und Finanzaudit die Haushaltssituation begutachten, um Effizienzpotenziale zu erschließen. Parallel dazu bezahlen einige OSZE-Teilnehmerstaaten bereits freiwillige Zusatzbeiträge, insbesondere Deutschland. Mittelfristig muss das gesamte System der Beitragsfinanzierung grundlegend optimiert werden. Der bisherige Beitragsschlüssel ist völlig unzureichend. Das System der Beitragsfinanzierung muss deutlich gerechter werden. Die OSZE benötigt eine deutlich bessere Finanzausstattung, um den sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden.

(ll/12.07.2023)