Wie junge Menschen auf das Bildungssystem und die Arbeitswelt blicken
Was aus Sicht junger Menschen gute Lebens- und Arbeitsbedingungen ausmacht, darum ging es am Mittwoch, 21. Juni 2023, in der Kinderkommission des Deutschen Bundestages (Kiko). Während des öffentlichen Fachgesprächs mit dem Titel „Soziale Gerechtigkeit, Ausbildung, Arbeit“ teilten die eingeladenen Sachverständigen – junge Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren – den Abgeordneten mit, wie sie dazu stehen.
Kritik am Bildungssystem
Mitglieder des JugendExpert*innen-Teams der Bertelsmann Stiftung räumten mit dem Klischee auf, junge Leuten seien arbeitsfaul. In einer Befragung zu ihrer Lebensrealität hätten die Kinder und Jugendlichen zum Ausdruck gebracht, dass sie der Bildung einen hohen Stellenwert einräumen, um grundlegende Fähigkeiten zu erwerben sowie als Grundlage für eine guten Job und ein gutes Leben. Schule und Bildung sollten demnach Talente und Kompetenzen fördern, damit die Jugendlichen ihre Potenziale voll ausschöpften.
Die Erwartungen, die die jungen Menschen an das Bildungssystem hätten, sähen diese aber als nicht erfüllt an. Zentrale Fähigkeiten vermittele das Bildungssystem nicht. Noch immer komme der sozialen Herkunft eine zu hohe Bedeutung zu, um ein erfolgreiches Leben zu führen. In materiellen Fragen träten junge Menschen eher bescheiden auf, so der Befund der Bertelsmann-Umfrage. Es gehe ihnen vor allem darum, sich aus eigener Kraft die Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe zu sichern.
„Junge Menschen sind nicht faul“
Das Lebensgefühl der jungen Leute sei heute geprägt durch die Wahrnehmung, von zahlreichen Krisen umgeben zu sein: der gerade erst durchgestandenen Pandemie, dem allgegenwärtigen Klimawandel und dem russischen Angriffskrieg mit all seinen unangenehmen Folgen für jeden einzelnen.
Junge Menschen seien keinesfalls faul und arbeitsscheu. Sie wollten sich aber nicht kaputtarbeiten, sondern einer sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen und für die Arbeitszeit ein faires Entgelt, echte freie Zeit und Erholung als Ausgleich erhalten. Junge Leute von heute verstünden Arbeit als Teil des Lebens, aber nicht als Zentrum des Lebens. Es müsse eine Arbeit sein, die dem Erhalt einer hohen Lebensqualität diene. Eine hohen Stellenwert habe zudem der Wunsch, selbstbestimmt zu leben und mitbestimmen zu können.
„Vieles in unserem Leben ist fremdbestimmt“
Die beiden jungen Sachverständigen vom Selbstvertretungsnetzwerk junger Menschen mit Behinderungen bbe e.V. brachten die Perspektive von Kindern und Jugendlichen mit geistigen und körperlichen Einschränkungen ein. Auch sie möchten gerne einen Schulabschluss machen, in ihrem Wunschberuf arbeiten, etwas Sinnvolles mit ihrem Leben anfangen und aufgrund ihrer Behinderung keine Nachteile erleiden, betonten die beiden Mädchen, von denen eine sich über ihren Sprachassistenten verständlich machte.
Sie illustrierten die Kompliziertheiten des Alltags von Menschen mit Einschränkungen, die auch im Jahr 2023 in Deutschland keine wie von den Vereinten Nationen geforderten gleichwertigen Lebensbedingungen vorfänden. Könne sie etwa spontan in ein Café gehen? Nein, sie müsse sich Gedanke machen, ob der Transport dorthin funktioniere, so eine der sachverständigen. Bekomme sie einen Studienplatz, einen normalen Arbeitsplatz? „Vieles in unserem Leben ist fremdbestimmt.“ Auch die Kommunikation mit Behörden sei kompliziert. Unterstützung werde verwehrt, individuelle Stärken relativiert. „Aber wir wollen wertgeschätzt werden.“
Die beiden Expertinnen warben für inklusive Schulen. Diese stellten eine wichtige Erfahrung für Kinder mit Beeinträchtigungen und eine Voraussetzung für ein gelingendes Leben dar, signalisierten sie doch, dazu zu gehören. Eine inklusive Schule mache Mut, stärke das Vertrauen, die eigenen Stärken auch einzusetzen, und sich durch Schwächen, geistige und körperliche Defizite, nicht unterkriegen zu lassen. „Wir wollen im ersten Arbeitsmarkt eine Arbeit finden. Dazu brauchen wir ein System, das uns wertschätzt.“
„Wer Fachkräfte will, muss gute Ausbildungsbedingungen bieten“
Auch Jim Lutz Raphael Frindert, Bezirksjugendsekretär der DGB-Jugend Berlin-Brandenburg, unterstrich, wie wichtig jungen Menschen eine gute Ausbildung und Arbeit seien und beklagte einen Substanzverlust des dualen Ausbildungssystems. Dass heute 2,6 Millionen junge Leute keinen Berufsabschluss hätten, sei ein „bildungspolitischer Skandal“. Ebenso, dass nur noch 19 Prozent der Betriebe Ausbildungsplätze anböten. Und die Ausbildungsqualität sei oft schlecht. Dabei klagten doch alle über den Fachkräftemangel.
„Die Jugend hat noch Interesse. Aber es gelingt nicht, das Potenzial zu heben. Wer Fachkräfte will, muss gute Ausbildungsbedingungen bieten und mehr junge Leute in Ausbildung bringen“, forderte Frindert. Den Jugendlichen machten zudem die gestiegenen Preise zu schaffen, besonders bei den Themen eigenständiges Wohnen und Mobilität. (ll/22.06.2023)