1. Untersuchungsausschuss

Zeugin berichtet über Grundlagen des Ortskräfteverfahrens

Bundeswehrsoldaten gehen am Mittwoch (31.08.2011) nahe Kundus im Distrikt von Char Darreh gemeinsam mit afghanischen Polizisten auf eine Mission, um in Kontakt mit der Bevölkerung zu bleiben.

Bundeswehrsoldaten gehen am Mittwoch (31.08.2011) nahe Kundus im Distrikt von Char Darreh gemeinsam mit afghanischen Polizisten auf eine Mission, um in Kontakt mit der Bevölkerung zu bleiben. (© picture alliance / dpa | Maurizio Gambarini)

Der 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan hat in seiner am Donnerstag, 15. Juni 2023, Sitzung ein ehemalige Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Aufenthaltsrecht und humanitäre Aufnahme des Bundesministeriums des Inneren (BMI) zum Ortskräfteverfahren und dessen Anwendung in Afghanistan befragt. Ihr zufolge war deren Aufgabe, darauf zu achten, dass andere Ressorts die rechtlichen Bestimmungen einhalten. Für die Kritik früherer Zeugen am BMI zeigte sie daher kein Verständnis. Die Beamtin unterstrich, das Ortskräfteverfahren habe von Beginn an die Einzelprüfung jedes einzelnen Antrages vorgesehen.

Es seien besondere Kriterien für eine Zusage definiert und die Verantwortlichkeiten verschiedener Ressorts festgelegt worden. Die Ortskräfte hätten dann selbst entschieden, ob und wann sie nach einer Zusage ihr Land verlassen und nach Deutschland kommen wollen. Ihr Ministerium habe dabei stets daran festgehalten, dass die Einzelfallprüfung nicht durch eine pauschale Aufnahme ersetzt werde. Denn dafür hätte man die gesetzliche Grundlage während des laufenden Prozesses ändern müssen. Diese Grundlage sei auch nie aufgegeben worden. Andererseits wies die Zeugin darauf hin, dass es gewisse Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung des Verfahrens bedürfe. „Dafür braucht man Institutionen vor Ort, die die Anträge entgegennehmen und prüfen“, sagte sie. Diese Voraussetzung sei vor allem nach dem Abzug aus Afghanistan nicht mehr gegeben gewesen.

Nachfrage zu Einzelprüfungsverfahren

Auf die Frage, warum das BMI auf das Einzelprüfungsverfahren bestanden habe, wo doch der Bundesnachrichtendienst (BND) festgestellt habe, dass „alle Ortskräfte latent gefährdet“ seien, antwortete die Zeugin mit dem Hinweis darauf, dass laut Gesetz eine latente Gefährdung für eine Aufnahmezusage in Deutschland nicht ausreichend sei. Dafür müsse die Ortskraft aufgrund ihrer Tätigkeit bei einer deutschen Organisation konkret gefährdet sein. Sie fügte hinzu, sie habe in keiner Bewertung der Lage gehört, „dass die Taliban gesagt haben, sie würden alle Ortskräfte töten“. Außerdem müsse das Ortskräfteverfahren, vor allem in Bezug auf Familienzusammenführung, auch mit dem allgemeinen Aufenthaltsrecht in Deutschland vereinbar sein.

Die Zeugin gab jedoch auch zu, dass spätestens bei der Evakuierungsoperation nach dem Fall der afghanischen Hauptstadt Kabul klar gewesen sei, dass dieses Verfahren nicht funktioniere. Daher sei vorübergehend zu einem Gruppenverfahren übergegangen worden, um „niemanden zurückzulassen“. Es habe jedoch vor Ort niemand gegeben, der dieses Verfahren organisieren und unterstützen konnte. Nachdem die Operation am Kabuler Flughafen zu Ende ging, habe ihr Ministerium darauf bestanden, wieder zur Einzelfallprüfung zurückzukehren. Inzwischen habe es aufgrund der Entwicklungen viele Erneuerungen im Verfahren gegeben.

Aufnahme von Ortskräften

Als die Abgeordneten sie daran erinnerten, dass ihr Ministerium und vor allem ihr Referat auch migrationspolitische Gründe erwähnt hätten, um ein Listenverfahren zu verhindern, sagte die Zeugin, das gehe auf eine Ministervorlage zurück. Daran würden mehrere Abteilungen, unter anderem auch ihre Abteilung, arbeiten. Deshalb sei es klar, dass auch migrationspolitische Aspekte Erwähnung fände. Würde sich herumsprechen, dass Deutschland pauschal alle Ortskräfte aufnehme, würden viele Menschen einen Antrag stellen. Solche Maßnahmen hätten auch einen migrationspolitischen Effekt, in diesem Fall einen Pull-Effekt, der auch zu berücksichtigen sei.

Die Beamtin des BMI vertrat die Ansicht, es sei eine politische Entscheidung, wie viele Menschen ein Land aufnehme. Auch die Entscheidung, was das gesetzlich vorgeschriebene Fürsorgepflicht konkret bedeutet, sei eine politische. Schließlich könne, beispielsweise, auch in Form von Abfindungen dieser Pflicht nachgekommen werden. Auch eine Unterbringung in einem Nachbarland könne der Fürsorgepflicht gerecht werden.

Keine pauschale Aufnahme von Ortskräften

Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss hat im weiteren Verlauf seiner Sitzung einen Referatsleiter im Bundesministerium des Inneren (BMI) befragt und sich dabei weiter auf das Ortskräfteverfahren konzentriert. Dem Beamten zufolge habe sich das Auswärtige Amt „relativ früh“ für eine pauschale Aufnahme der Ortskräfte eingesetzt. Das BMI habe jedoch darauf bestanden, das Einzelprüfungsverfahren beizubehalten und keine „humanitäre Geste, im Sinne von, wir nehmen alle auf, wenn wir gehen“, zu vollziehen. Das Ortskräfteverfahren sei von allen beteiligten Ressorts gemeinsam vereinbart worden und hätte daher nur mit Einverständnis aller Ressorts geändert werden können, führte der Zeuge aus. Er ist laut eigenen Angaben für internationale grenzpolitische Angelegenheiten und die Geschäftsstelle AG Internationale Polizeimissionen zuständig.

Visaausstellung an der deutschen Grenze

Vor allem zwei Themen, nämlich „Visa on Arrival“, also eine Visaausstellung an der deutschen Grenze durch die Bundespolizei, und Charterflüge für die Ortskräfte, seien permanent ein Diskussionsthema gewesen. Da beides hoch politische Themen seien, habe man sich auf Arbeitsebene nicht einigen können. Dazu sei eine politische Entscheidung notwendig gewesen. Der Staatssekretär seines Ministeriums habe betont, dass man auch „Visa on Arrival“ machen könne, wenn es notwendig werde. Das sei in Ausnahmefällen, wie im Falle der hochschwangeren Ehefrau einer Ortskraft, auch geschehen.

Nach dem Bekanntwerden des Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung und den Taliban hätten die beteiligten Ministerien über drei Varianten diskutiert, berichtete der Zeuge. Eine sei gewesen, das Ortskräfteverfahren mit dem Abzug zu beenden. Eine andere, eine humanitäre Aufnahme aller Ortskräfte in Betracht zu ziehen. Beschlossen worden sei, das Verfahren so weiterzuführen, wie es bis dahin gehandhabt wurde - mit Einzelfallprüfungen. Erst nachdem US-Präsident Joe Biden entschieden habe, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen, sei Zeitdruck entstanden, sagte der Referatsleiter. Der Versuch die Internationale Organisation für Migration (IOM) als Dienstleister für die Zeit nach dem Abzug zu gewinnen, sei, seinen Schilderungen zufolge, nicht besonders erfolgreich gewesen. Ortskräfte, die das IOM kontaktiert hätten, hätten keine Antwort erhalten. 

Kooperation mit dem Auswärtigen Amt

Im Falle der Ortskräfte der Bundeswehr sei eine andere und erfolgreiche Lösung gefunden worden. Die Truppe habe in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt die Visaanträge selbst entgegengenommen. Das sei bei anderen Ressorts nicht möglich gewesen. Auch für den Fall, dass die Sicherheitslage kritisch werden würde und die Strukturen vor Ort nicht aufrechterhalten werden könnten, habe man sich auf ein Notfallszenario geeinigt. Dann wären wegen „Visa on Arrival“ und Charterflügen politische Entscheidungen notwendig gewesen.

Auf die Frage, ob es die Linie des BMI gewesen sei, die Migration aus Afghanistan minimal zu halten, antwortete der Referatsleiter, dass die Abteilung Migration diesen Aspekt „sicherlich berücksichtigt“ habe. Die Abgeordneten fragten auch, warum das BMI auf eine Anfrage des Bundestages keine Zahlen zum Ortskräfteverfahren geliefert habe. Dazu erklärte der Zeuge, das BMI habe bis auf die Zahlen des Auswärtigen Amtes die Zahlen aller betroffenen Ressorts gehabt. Die Frage sei gewesen, wie man damit umgehe. Man habe sich dafür entschieden, die bereits bekannten Zahlen nicht weiterzugeben und zu berichten, dass die Bundesregierung die Zahlen noch eruiere. Diese Antwort stieß bei den Ausschussmitgliedern teilweise auf Unverständnis.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/16.06.2023)