Situation migrantischer Selbstorganisation in Deutschland
Ein aktuelles Bild von den vielfältigen Formen migrantischer Selbstorganisation in Deutschland haben sich die Mitglieder des Unterausschusses Bürgerschaftliches Engagement in einem öffentlichen Fachgespräch am Mittwoch, 14. Juni 2023, verschafft. Migrantische Organisationen leisteten wertvolle Arbeit bei der Integration vieler der mehr als 23 Millionen Menschen in Deutschland mit Einwanderungshintergrund, seien für diese ein Raum der Selbsterfahrung und des Schutzes, müssten aber weiterhin um Anerkennung in der Mehrheitsgesellschaft und um eine angemessene finanzielle Ausstattung ringen, so die geladenen Sachverständigen.
Beitrag zur inklusiven und solidarischen Gesellschaft
Aus der Arbeit des Bundes der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V. berichtete deren Geschäftsführerin Özge Erdoğan. Man dürfe Organisationen wie ihre nicht einfach als Kulturverbände marginalisierter Gruppen abtun. Diese leisteten im Gegenteil Großes, schafften für ihre Mitgliedsvereine Zugänge zu den staatlichen Strukturen auf kommunaler sowie auf Landes- und Bundesebene und trügen durch ihre Arbeit zu einer inklusiven und solidarischen Gesellschaft bei.
Vor allem junge Menschen und eine steigende Zahl an Ehrenamtlichen machten in der vielfältigen Projektarbeit ihres Verbandes wesentliche Selbstwirksamkeitserfahrungen, ja die Erfahrung, dass ihre Identität Teil der Identität dieses Landes ist, indem sie einen Beitrag leisteten, Deutschland mitzugestalten
Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls
Anlaufstelle für Menschen mit Migrationshistorie in diesem Land, Bindeglied zum Staat, Interessenvertretung auf politischer Ebene, sei ihr Dachverband mit 60 Mitgliedsorganisationen, sagte Dr. Soraya Moket, stellv. Geschäftsführerin des Dachverbandes der Migrantinnenorganisationen – DaMigra e.V. Thematisch arbeite man gegen Rassismus, Sexismus und Formen der Mehrfachdiskriminierung, berate die Mitgliedsvereine und trage auf diese Weise dazu bei, die Teilhabe und das Zugehörigkeitsgefühl von Migrantinnen und Migranten in Deutschland zu stärken.
Für die Zukunft wünsche sie sich eine noch größere Sichtbarkeit und Anerkennung ihrer Arbeit, eine bessere Zusammenarbeit mit Kommunen und Ländern sowie mehr finanzielle Ressourcen. Von der Mehrheitsgesellschaft werde man bislang nicht als wichtiger Akteur wahrgenommen. Vor allem in Ostdeutschland schlage vielen Menschen mit Migrationshintergrund weiterhin Rassismus entgegen.
Migrantenselbstorganisationen als Übergangsform
Seine Organisation arbeite mit allen Menschen in diesem Land zusammen, solchen mit und solchen ohne Migrationshintergrund, betonte Ahmad Mansour, Geschäftsführer der Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention (MIND) GmbH. Innerhalb der Zugewanderten, die man nicht als eine homogene Gruppe definieren dürfe, gebe es eine ebenso große Vielfalt wie in der Mehrheitsgesellschaft. Er wünsche sich, dass die Zugewanderten eines Tages komplett in der Mehrheitsgesellschaft ankämen und deren Vereine in den bestehenden Strukturen aufgingen, so dass man die Migrantenselbstorganisationen nicht mehr brauche. Diese seien nur eine Übergangsform, jedoch ein wichtiger Schritt für die Ertüchtigung und die Interessenvertretung der Zugewanderten und deren Nachkommen. Momentan werde ihnen leider kaum zugehört.
Es gehe darum, viel stärker in der Wir-Form zu denken statt in einzelnen Gruppen, Teilhabe für alle zu schaffen und auf die Kompetenzen der Menschen zu schauen statt auf deren Herkunft. Dazu müsse man viel mehr Begegnungen schaffen zwischen Menschen, die sich im Alltag sonst nicht treffen, sondern in Parallelgesellschaften lebten, separat einkauften, wohnten und zur Schule gingen. Die Mehrheitsgesellschaft und diese Gruppen müssten stärker aufeinander zugehen. Dadurch bekämen Menschen mit Migrationshintergrund Gelegenheit, sich emotionale Zugänge zur Mehrheitsgesellschaft zu schaffen.
Komme man zusammen, stiegen Verständnis und Respekt füreinander und nehme der Rassismus ab. Das versuche man in der Projektarbeit seiner Initiative. Beiden Seiten vermittele man: Demokratie bedeute Vielfalt, aber auch die Achtung gemeinsamer, für alle geltender Werte. Eine noch zu wenig beachtete Herausforderung für die Gesamtgesellschaft seien die Falschmeldungen und Hasskommentare im Internet. Sowohl Islamisten als auch Rechtsradikale hätten diesen Ort besetzt. „Demokraten müssen den digitalen Raum zurück erobern.“ Für die Jugendlichen, mit und ohne Migrationshintergrund, brauche es neben der Sozialarbeit auf der Straße eine digitale Sozialarbeit.
Schwierige Lage im ländliche Raum
Auf die spezifische Situation in Ostdeutschland ging Ayman Qasarwa, Geschäftsführer des Dachverbandes der Migrantinnenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst), ein. Man sei thematisch sehr breit aufgestellt und biete Projekte im Bereich des Sports ebenso wie im Bereich der Kultur an, sei in Jugendarbeit und im Ehrenamtlichen Engagement tätig. Für die Mitgliedsvereine biete man Beratung, Vernetzung und Stärkung von deren Strukturen an und vertrete deren Interessen gegenüber der Politik. Man sehe sich in einer Brückenfunktion. Leider mangele es auch seinem Verband noch an Anerkennung. Die Zusammenarbeit mit Bund, Ländern und und Kommunen könnte ebenso wie die finanzielle Förderung besser sein.
Es sei sehr schwierig an kommunale Strukturen heranzukommen. Noch schwieriger stelle sich die Lage im ländliche Raum dar, dort fehlten die aus der Stadt gewohnten Infrastrukturen. Bei Anfragen stoße man auf Ablehnung, die mit Geld- und Personalmangel begründet werde. Aber „für Begegnungen braucht man Zugänge“. Stattdessen erhalte man auf jeden Veranstaltungshinweis im Internet Hasskommentare. (ll/14.06.2023)