Parlament

Wissenschaftspreis 2023 an Mechthild Roos und Oliver Haardt verliehen

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat am Mittwoch, 10. Mai 2023, den Wissenschaftspreis 2023 des Deutschen Bundestages an die Politikwissenschaftlerin Dr. Mechthild Roos und an den Historiker Dr. Oliver Haardt verliehen. Beide Arbeiten „erzählen Erfolgsgeschichten von Volksvertretungen, die sich gegen Widerstände behaupten mussten“, sagte die Bundestagspräsidentin.

Das Europäische Parlament in den Anfangsjahren

Mechthild Roos wurde für ihre in englischer Sprache verfasste Dissertation „The Parliamentary Roots of European Social Policy. Turning Talk into Power“ aus dem Jahr 2021 geehrt. Darin beschäftigt sie sich mit den Anfängen des Europäischen Parlaments vor den ersten Direktwahlen im Jahr 1979. Sie zeigt auf, dass das Europäische Parlament bereits in diesen frühesten Jahren trotz der eingeschränkten Kompetenzen politischen und gesetzgeberischen Einfluss entwickelt hat.

Mechthild Roos ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe „Politikwissenschaft, vergleichende Systemanalyse (Europa und Nordamerika)“ im Fach Politikwissenschaft der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Augsburg. Die Nachricht, dass sie den Wissenschaftspreis des Bundestages erhält, ereilte sie beim Windelwechseln, wie sie am 22. Februar glücklich twitterte. Die Jury hat diese Arbeit überzeugt, da sie in beachtlichem Maße zur Erforschung des Europäischen Parlaments beitrage. Sie liefere neue Erkenntnisse zur Entwicklungslogik des europäischen Parlamentarismus und zum Prozess der Institutionalisierung von Parlamenten.

Der Bundesrat in der Zeit des Kaiserreichs

Oliver Haardt erhielt die Auszeichnung für sein 944 Seiten umfassendes Werk „Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs“ aus dem Jahr 2020. Haardt setzt sich darin mit der Verfassungs- und Politikgeschichte des Kaiserreichs von 1871 bis 1918 auseinander. Er verfolgt dabei eine neue Herangehensweise, indem er die Entwicklung des Bundesrates in den Vordergrund rückt. Oliver Haardt studierte am Trinity College der Universität Cambridge Geschichte und promovierte bei Sir Christopher Clark. Danach lehrte er am Magdalene College der Universität Cambridge. Heute wirkt der 35-jährige Rheinland-Pfälzer als freier Autor und Historiker.

Die Jury war der Auffassung, dass Haardt mit seinem Werk einen bedeutenden und innovativen Beitrag zur Geschichte des deutschen Parlamentarismus vorgelegt habe. Durch seine Arbeit werde das Verständnis von Parlamentarisierungsprozessen politischer Systeme erweitert. Die Jury-Vorsitzende Prof. Dr. Suzanne S. Schüttemeyer sagte, dass 60 Prozent der 35 eingereichten Bewerbungen aus dem Bereich der Rechtswissenschaft eingegangen waren, 15 aus der Politikwissenschaft und nur zwei aus der Geschichtswissenschaft. Sie betonte, dass es nicht darum gegangen sei, die beste wissenschaftliche Arbeit zu prämieren, sondern darauf zu achten, ob sie geeignet ist, Innovatives über den Parlamentarismus zu liefern. 

Bas: Abgeordnete haben ihren Einfluss ausgeweitet

Bärbel Bas erinnerte daran, dass Kaiser Wilhelm II. den Reichstag als „Schwatzbude“ verspottet habe und dass das Europaparlament lange im Ruf stand, machtlos zu sein. In beiden Fällen sei es den Abgeordneten aber schnell gelungen, ihren Einfluss auszuweiten. Die Studien zeigten, dass in der Verfassungswirklichkeit der Reichstag und das frühe Europaparlament stärker gewesen seien als es die Reichsverfassung oder die europäischen Verträge vermuten ließen.

Die Abgeordneten hätten öffentlich Druck für ihre Anliegen aufgebaut, sich mit anderen Institutionen verbündet, sich mit Expertinnen und Experten vernetzt und sich demonstrativ an die Seite der Bürgerinnen und Bürger gestellt, betonte die Bundestagspräsidentin. Mechthild Roos zeige, dass das Europaparlament über die Macht verfügt habe, eine Nervensäge zu sein, den Regierungen zur Last zu fallen. Die Abgeordneten hätten geschickt ihre Doppelrolle im supranationalen Europaparlament und in den nationalen Parlamenten genutzt, um ihre Institution zu stärken. Das Fazit von Oliver Haardt laute, dass der Reichstag zu einem der Orte geworden sei, an denen das Kaiserreich zu einem einheitlichen Staat zusammenwuchs – auf Kosten des damaligen Bundesrates.

Sie lese daraus die politische Botschaft, so Bärbel Bas, die Parlamente nicht zu unterschätzen. Entscheidend sei, dass am Ende der demokratische Streit im Parlament und nicht in den Talk-Shows öffentlich ausgetragen wird. Alle Bürgerinnen und Bürger könnten die Plenardebatten auf der Website des Bundestages oder bei Phoenix verfolgen. Auf www.bundestag.de würden auch viele Ausschusssitzungen im Livestream gezeigt. Diese Transparenz mache die Verantwortlichkeiten für die politischen Entscheidungen klar. Die Abgeordneten hätten „allen Grund, selbstbewusst zu sein“ und könnten sich dabei auch mal von Abgeordneten des Reichstags und des Europaparlaments inspirieren lassen, hob die Bundestagspräsidentin hervor.

Machtzuwachs „Schritt für Schritt“

Jury-Mitglied Prof. Dr. Martin Sebaldt sagte, Oliver Haardt arbeite die Entwicklungsstränge des kaiserzeitlichen Föderalismus heraus und zeige, dass sich nicht institutionalisierte Netzwerke gebildet hätten, um Probleme zu regulieren. Die „überragende Arbeit“ sei „brillant geschrieben“ und zeige, dass der Reichstag Schritt für Schritt an Macht gewonnen habe. Haardt liefere Anhaltspunkte zur Deutung moderner Bundesstaatlichkeit. Jury-Mitglied Prof. Dr. Gabriele Abels würdigte die Studie von Mechthild Roos, die ein faszinierendes Bild des frühen Europaparlaments gezeichnet habe, das erst mit der ersten Direktwahl 1979 einen Kompetenzzuwachs erfahren habe. Roos belege die „starke Bodenhaftung“ des Parlaments von Anfang an.

In der von Ines Arland geleiteten Gesprächsrunde hoben beide Preisträger einmütig hervor, dass der zunehmende Einfluss der Parlamente weniger durch Krisensituationen als durch die politische Alltagsarbeit bestimmt sei. Der Reichstag habe verstanden, Freiräume zu nutzen und dadurch seinen Einfluss zu erweitern. Das Europaparlament wiederum habe versucht, sich als „Stimmte der Bevölkerung“ zu etablieren, sagte Mechthild Roos. Von Ines Arland auf ihren Brief an die Regierung angesprochen, die parlamentarischen Beratungszeiten nicht weiter einzuengen, sagte die Bundestagspräsidentin, in der Zeit der Pandemie hätten sich Eilgesetzgebungen eingeschliffen, große Gesetzeswerke hätten in der Kürze der vorgegebenen Zeit nicht mehr richtig durchdrungen werden können. Sie stelle nun fest, dass dies seither wieder auf ein „vernünftiges Maß“ zurückgegangen sei. 

Der Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages

Der Wissenschaftspreis wurde vom Deutschen Bundestag 1989 aus Anlass seines 40-jährigen Bestehens eingeführt und wird seit 1997 im zweijährlichen Turnus verliehen. Er ist mit 10.000 Euro dotiert und würdigt hervorragende wissenschaftliche Arbeiten, die zur Beschäftigung mit Fragen des Parlamentarismus anregen und zu einem vertieften Verständnis parlamentarischer Praxis beitragen.

Der unabhängigen Jury, die im Auftrag der Bundestagspräsidentin die Auswahl trifft, lagen 35 Bewerbungen vor. Die Jury besteht aus neun Professorinnen und Professoren des Staatsrechts, der Geschichtswissenschaft sowie der Politikwissenschaft. Ihre Arbeit endet mit der Legislaturperiode. Eine neue Jury wird jeweils zu Beginn einer Legislaturperiode vom Bundestagspräsidenten ernannt.

Der Jury gehören an:

  • Prof. Dr. Gabriele Abels, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Institut für Politikwissenschaft – Jean-Monnet-Professor for Comparative Politics & European Integration
  • Prof. Dr. Sabine Freitag, Universität Bamberg, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte
  • Prof. Dr. Thomas Mergel, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaft – Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts
  • Prof. Dr. Andreas Rödder, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar – Neueste Geschichte
  • Prof. Dr. Martin Sebaldt, Universität Regensburg, Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft (Westeuropa)
  • Prof. Dr. Stefanie Schmahl, LL.M. (E), Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Juristische Fakultät – Lehrstuhl für deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht
  • Prof. Dr. Sophie Schönberger, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht
  • Prof. Dr. em. Suzanne S. Schüttemeyer, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Parlamentarismusforschung (IParl) Berlin, Juryvorsitzende
  • Prof. Dr. Christian Waldhoff, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät – Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht

(vom/10.05.2023)