Grundsatzdebatte über künftige Finanzierung der Pflegeversorgung
Die von der Bundesregierung vorgelegte Pflegereform hat im Bundestag zu einer kontroversen Grundsatzdebatte über die langfristige Organisation und Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung geführt. Redner der Opposition bemängelten in der ersten Beratung des Gesetzentwurfs am Donnerstag, 27. April 2023, die Finanzierung der Pflegeversicherung sei nicht nachhaltig. Angesichts der demografischen Entwicklung und der immer höheren Kosten müsse die Pflege neu aufgestellt werden.
Die Bundesregierung und Redner der Ampelkoalition räumten ein, dass über eine grundsätzliche Weichenstellung in der Pflege beraten werden müsse und der vorliegende Entwurf ein Kompromiss sei, der in den Beratungen noch verändert werden sollte. Nach der Debatte überwiesen die Abgeordneten die Initiative „zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege (Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz – PUEG)“ (20/6544) gemeinsam mit einem Antrag der Linken mit dem Titel „Gute Pflege stabil finanzieren“ (20/6546) in den Gesundheitsausschuss.
Gesetzentwurf der Koalition
Die Ampelkoalition will mit der Pflegereform die Pflegebedürftigen entlasten und die Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung stabilisieren. Der Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sieht zum 1. Juli 2023 eine Anhebung des Pflegebeitrags um 0,35 Punkte auf 3,4 Prozent vor. Das soll Mehreinnahmen in Höhe von rund 6,6 Milliarden Euro pro Jahr bringen. Der Arbeitgeberanteil liegt paritätisch bei 1,7 Prozent. Die Bundesregierung soll außerdem dazu ermächtigt werden, den Beitragssatz künftig durch Rechtsverordnung festzusetzen, falls auf einen kurzfristigen Finanzierungsbedarf reagiert werden muss.
Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugunsten einer besseren Berücksichtigung der Kinderzahl bei den Pflegebeiträgen wird der Beitragssatz nach der Zahl der Kinder weiter ausdifferenziert. Der Beitragszuschlag für Kinderlose soll von derzeit 0,35 auf 0,6 Beitragssatzpunkte steigen.
Pflegegeld und Sachleistungen
In der häuslichen und stationären Pflege werden die finanziellen Belastungen begrenzt. So werden das Pflegegeld und die ambulanten Sachleistungen zum 1. Januar 2024 um fünf Prozent angehoben.
Zum Jahresbeginn2025 und 2028 werden die Geld- und Sachleistungen regelhaft und in Anlehnung an die Preisentwicklung automatisch dynamisiert. Das Pflegeunterstützungsgeld können Angehörige künftig pro Kalenderjahr für bis zu zehn Arbeitstage je Pflegefall in Anspruch nehmen und nicht nur einmalig.
Zuschläge der Pflegekassen
Gestaffelt angehoben werden mit Jahresbeginn 2024 auch die Zuschläge der Pflegekassen an die Pflegebedürftigen in vollstationären Pflegeeinrichtungen. Je länger die Verweildauer im Heim, umso höher der Zuschlag. Neu strukturiert und systematisiert werden sollen die Regelungen beim Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach Paragraf 18 SGB XI.
Schließlich soll die Reform auch zu besseren Arbeitsbedingungen beitragen. So soll in der stationären Pflege die Umsetzung des Personalbemessungsverfahrens durch die Vorgabe weiterer Ausbaustufen beschleunigt werden. Vorgesehen ist ferner ein Kompetenzzentrum Digitalisierung und Pflege. Das Förderprogramm für digitale und technische Anschaffungen in Pflegeeinrichtungen im Volumen von insgesamt rund 300 Millionen Euro soll ausgeweitet und bis Ende des Jahrzehnts verlängert werden.
Lauterbach: Wir sind an einem Wendepunkt
Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) sagte, die Langzeitpflege stehe vor wichtigen Herausforderungen. Immer mehr Menschen benötigen immer länger pflegende Unterstützung. Die Pflegekräfte würden besser bezahlt, die Ausgaben in der Pflege stiegen. Das seien alles im Grunde gute Nachrichten, die es zu würdigen gelte, denn sie stünden für mehr Lebensqualität. Lauterbach betonte, in der Pflegeversicherung werde ausgesprochen effizient gearbeitet, die Qualität sei hoch, das System brauche aber einfach mehr Geld.
Lauterbach ging auf die kontinuierlich steigenden Ausgaben in der sozialen Pflegeversicherung ein, die sich zwischen 2017 und 2023 fast verdoppelt hätten. Die Pflege sei der am stärksten wachsende soziale Bereich und latent unterfinanziert. Daher müsse der paritätisch getragene Beitrag maßvoll angehoben werden. Der Minister sagte, er wolle nichts beschönigen oder verschweigen und fügte hinzu: „Wir sind, was die langfristige Finanzierung der Pflege angeht, an einem Wendepunkt.“ Das System könne nicht dauerhaft so ausgebaut werden. Er kündigte einen Vorschlag dazu im kommenden Jahr an. Dabei werde es etwa um die Frage der Steuerfinanzierung gehen, eine mögliche Vollkaskoversicherung oder auch die Bürgerversicherung. Er versprach eine Reform aus einem Guss.
Grüne: Pflege braucht Rückhalt des Finanzministers
Maria Klein-Schmeink (Bündnis 90/Die Grünen) sprach von einer mehr als überfälligen Reform, in der jedoch nicht alles enthalten sei, was ihre Partei sich vorgestellt habe. Sie sehe noch Verbesserungsbedarf, sagte sie und ging insbesondere auf die häusliche Pflege ein, die es zu stärken gelte, denn 80 Prozent der Pflegebedürftigen würden zu Hause betreut. Wenn die Politik nicht dafür sorge, dass Angehörige die Betreuung stemmen könnten, „stehen wir vor einem riesigen Problem“.
Die Pflege brauche nicht nur Rückhalt im Parlament, sondern auch des Finanzministers. Sie warnte davor, die Herausforderungen der Zukunft durch die höhere Zahl an Pflegebedürftigen und den Fachkräftemangel auszusitzen und forderte moderne und zeitgemäße Formen der Betreuung. „Das ist eine essenzielle Zukunftsaufgabe.“
FDP will „die Pflege auf sichere Füße stellen“
Nach Ansicht von Nicole Westig (FDP) werden mit der jetzt vorliegenden Reform die pflegenden Angehörigen bereits in einigen Punkten unterstützt. Die moderate Beitragssatzerhöhung sei ihrer Partei schwergefallen wegen der dadurch weiter steigenden Sozialabgabenquote.
Westig wies zugleich Forderungen nach einer Bürgerversicherung zurück. Sie sehe die in immer kürzeren Zeiträumen auftretenden Finanzprobleme der Pflegeversicherung mit großer Sorge. Benötigt werde eine nachhaltige und generationengerechte Finanzierung mit mehr Kapitaldeckung und einer verpflichtenden Zusatzvorsorge. Sie warb für eine offene Diskussion darüber, um „die Pflege auf sichere Füße zu stellen“.
SPD: Pflege muss einfacher werden
Verbesserungen im laufenden Verfahren kann sich auch Claudia Moll (SPD) vorstellen, die aus ihrer Erfahrung die teils dramatische Lage im häuslichen Pflegealltag schilderte. Die Menschen in der häuslichen Pflege hätten bislang zu wenig Entlastung erfahren, sagte sie und fügte hinzu: „Sie verdienen unsere volle Solidarität.“ Sie warnte, wenn die häusliche Pflege wegen Überlastung wegbräche, kämen auf die Gesellschaft sehr hohe Kosten zu.
Moll würdigte die geplanten Verbesserungen bei den Leistungen, kritisierte aber die Finanzierung nur über Beitragserhöhungen statt über Steuergelder. Das sei fragwürdig. Es sei sinnvoll, Steuermittel für die Pflege freizugeben. Außerdem müssten die Leistungen individueller, flexibler und niedrigschwellig angeboten werden. „Pflege muss einfacher werden.“ Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sei „das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht.“ Pflege müsse ganz neu gedacht werden. Die Pflegebedürftigen und ihrer Betreuer hätten „Respekt und einen Steuer-Doppel-Wumms verdient“.
Union für Strukturreform in der Pflege
Aus der Opposition kam teils heftige Kritik am Vorgehen der Regierung und Forderungen nach einer stabilen langfristigen Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung. Erich Irlstorfer (CDU/CSU) kritisierte, der vorgelegte Entwurf könne nicht als Reformgesetz bezeichnet werden, allenfalls als Diskussionspapier.
Es sei immerhin gut, dass Lauterbach Klartext rede, denn über die Pflege müsse grundsätzlich neu diskutiert werden. Die Menschen lebten länger und wollten so lange wie möglich in der eigenen Häuslichkeit bleiben. Es sei daher sinnvoll, auch über Pflegeprävention zu sprechen. Nötig sei eine Strukturreform in der Pflege. Was die Finanzierung angehe, müssten dabei andere Prioritäten gesetzt werden.
AfD kritisiert Entwurf als „Pflegebelastungsgesetz“
Heftige Kritik an der Regierung kam von der AfD-Fraktion. Martin Sichert (AfD) sprach angesichts der geplanten Beitragserhöhung von einem „Pflegebelastungsgesetz“. Er kritisierte auch, dass sich die Bundesregierung dazu ermächtigen lassen wolle, „jederzeit willkürlich die Beiträge erhöhen zu können“. Damit werde die demokratische Gewaltenteilung mit Füßen getreten.
„Ihre Ermächtigungsfantasien lehnen wir genauso ab wie weitere Belastungen für die Bürger.“ Die Menschen müssten in dieser Zeit nicht belastet, sondern entlastet werden. Es würden Milliarden für Entwicklungshilfe, Waffen für die Ukraine oder für Zuwanderer ausgegeben, die besser in die Pflege und für niedrigere Beiträge investiert würden.
Linke: System der Langzeitpflege in schwerer Krise
Nach Einschätzung von Ates Gürpinar (Die Linke) befindet sich das System der Langzeitpflege in einer schweren Krise. Es gehe um alte, arme und schwache Menschen. Die Altenpflege sei im Vergleich zur Krankenpflege schlecht bezahlt und mit hoher Arbeitsbelastung verbunden. Pflegekräfte bräuchten keinen Dank mehr, sondern mehr Lohn.
Oft blieben die wirklichen Probleme versteckt, weil für die Pfleger ihr Beruf zugleich Berufung sei. Sie arbeiteten immer mehr. Das Versicherungssystem sei ungerecht und werde nicht angegangen. Die geplante Anhebung der ambulanten Leistungen sei angesichts der hohen Inflation völlig unzureichend. Gürpinar sagte mit Blick auf den Gesetzentwurf: „Der Vorschlag ist schlecht, und das war erwartbar.“
Antrag der Linken
Die Linksfraktion fordert eine „nachhaltige und gerechte Finanzierung“ der sozialen Pflegeversicherung. Die Bundesregierung lege einen Gesetzentwurf vor, der auf Kosten der Beitragszahler die Pflegeversicherung kurzfristig zu stabilisieren versuche, heißt es in ihrem Antrag. Neben der finanziellen Sanierung der Pflegeversicherung brauche es auch bessere Leistungen für die Versicherten und bessere Löhne für die Beschäftigten in der Pflege.
Die Abgeordneten fordern in ihrem Antrag unter anderem, zur Gegenfinanzierung von sofortigen Leistungsverbesserungen übergangsweise Steuermittel des Bundes einzusetzen. Die Beitragsbemessungsgrenze und die Versicherungspflichtgrenze sollten abgeschafft werden. Die Beiträge der Pflichtversicherten müssten auf alle Einkommensarten, also auch auf Kapitaleinkommen, ausgeweitet werden. Privat Pflegeversicherte sollen vollständig in das System der sozialen Pflegeversicherung einbezogen werden.
Das Pflegegeld, ambulante Sachleistungen, Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege sowie Zuschläge für langfristige stationäre Leistungen sollten um 20 Prozent angehoben werden. Alle Leistungen müssten zudem künftig jährlich entlang der aktuellen Teuerungsrate dynamisiert werden, heißt es in dem Antrag. (pk/27.04.2023)