1. Untersuchungsausschuss

Evakuierung in Afghanistan wurde laut Zeugen zu spät geplant

Ein Radpanzer Boxer fährt im Einsatz in Afghanistan im Lager der deutschen ISAF-Truppen.

Der Ausschuss beschäftigt sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. (© Bundeswehr/Krumbach)

Ein Oberstleutnant vom Bundesverteidigungsministerium (BMVg) hat am Donnerstag, 11. Mai 2023, im 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) ausgesagt, eine frühzeitige Planung hätte mehr Ortskräften die Ausreise ermöglichen können. Er frage sich, warum nicht mehr Ortskräfte und ihre Familien während der Evakuierungsmission in Kabul im August 2021 aus dem Land herausgeholt werden konnten, erklärte er den Abgeordneten. Dies wäre machbar gewesen. 

Der Oberstleutnant, im Untersuchungszeitraum Referent im Referat Militärpolitik und Einsatzregion Asien, Ozeanien und Amerika im BMVg, war zwischen 2016 und 2022 ausschließlich verantwortlich für das Ortskräfteverfahren. Vor allem beschäftigte er sich, laut eigener Aussage, mit Afghanistan. 

Zeuge: Bundeswehr war sehr um Ortskräfte bemüht

Er wies jede Kritik am BMVg bezüglich des Ortskräfteverfahrens entschieden zurück. Aus seiner persönlichen Sicht sei das Ministerium Bittsteller beim Bundesministerium für Inneres (BMI) und dem Auswärtigen Amt (AA) gewesen. „Das BMVg kann keine Ortskräfte nach Deutschland bringen“ sagte er, „das ist gesetzlich nicht möglich.“ Dass die Bundeswehr sich aber sehr um die Ortskräfte bemühe, sei auch daran zu erkennen, dass viele Soldatinnen und Soldaten, vor allem Afghanistan-Veteranen, ehemalige Ortskräfte heute in Deutschland betreuten.

Mit dem Abschluss des Doha-Abkommens im Februar 2020 zwischen den USA und den Taliban, mit dem der Rückzug amerikanischer Truppen aus Afghanistan beschlossen wurde, sei der Bundeswehr klar gewesen, dass auch sie nicht in Afghanistan bleiben würde. Ab diesem Zeitpunkt bis Anfang 2021 habe das BMVg darauf gepocht, die Evakuierung der Ortskräfte frühzeitig vorzubereiten. Doch andere Ressorts seien der Meinung gewesen, dass das Ortskräfteverfahren ausreichend sei. Dies bedürfe einer Einzelprüfung jedes Antragstellers und könne sich nach Angaben des Zeugen mehrere Jahre hinziehen.

Einstufung als „latent gefährdet“

Sein Ministerium habe versucht, ein beschleunigtes Verfahren durchzusetzen, berichtete der Zeuge, doch diese Initiative habe bis April 2021 weder beim BMI noch beim AA oder dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Gehör gefunden. Auch die Einstufung der Ortskräfte als „latent gefährdet“ durch den Bundesnachrichtendienst (BND) habe daran nichts geändert. Erst nachdem die damalige Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) in einem Statement bekannt gegeben habe, sie wolle die gefährdeten Ortskräfte vereinfacht und schnell nach Deutschland holen, habe das BMI seine blockierende Haltung aufgegeben.

Der Zeuge beschrieb das bis Mai 2021 praktizierte Ortskräfteverfahren als langsames und den damaligen Bedingungen in Afghanistan nicht angepasstes Verfahren. Zunächst hätten die Ortskräfte eine Gefährdung schriftlich anzeigen sollen, danach habe ein persönliches Gespräch geführt werden müssen, dem eine Schlüssigkeitsprüfung eines Gremiums vor Ort folgte. Erst dann seien die Anträge dem BMI weitergeleitet worden. Nachdem das Ministerium sie geprüft und in der Regel allen vom BMVg weitergeleiteten Anträgen eine Aufnahmezusage erteilt habe, sei dies dem Antragsteller mitgeteilt worden.

Ersatz durch Listenverfahren

Weil  dieses Verfahren sehr umständlich gewesen sei, habe das BMVg es ab Mai 2021 durch das sogenannte Listenverfahren ersetzt. Dabei wurde die Entscheidung der Verantwortlichen der Bundeswehr nicht mehr hinterfragt und der Prozess beschleunigt.

Danach hätten die Antragsteller aber noch Visa besorgen müssen. Diese habe die deutsche Botschaft in Kabul zu dem Zeitpunkt aber nicht mehr ausgestellt. Deshalb hätten die Ortskräfte erst Visa von Nachbarländern einholen müssen, um bei den dortigen deutschen Botschaften einen Visaantrag für Deutschland zu stellen. 

Auf Nachfrage betonte der Zeuge, ihm sei nicht bekannt, dass das Auswärtige Amt danach Maßnahmen ergriffen hätte, um die Visavergabeverfahren zu verbessern.

Als im Mai 2021 das Listenverfahren durchgesetzt wurde, habe das BMVg „dem AA Amtshilfe geleistet“, führte der Oberstleutnant aus. Bundeswehrpersonal im Lager habe in Masar-e Scharif die Anträge der ausreiseberechtigten Ortskräfte entgegengenommen. Diese Anträge seien dann mit Militärmaschinen nach Deutschland gebracht und die Visa wiederum mit Militärmaschinen zurückgeflogen worden. Sein Ministerium habe auch angeboten, die Ortskräftelisten aller Ministerien zusammenzuführen und das Call Center des BMVg gemeinsam zu nutzen. Dieser Vorschlag sei von anderen Ressorts jedoch nicht angenommen worden. „Es wäre gut gewesen, wenn wir einen AA-Mitarbeiter als Verbindungselement gehabt hätten. Hatten wir aber nicht.“

Der „Taliban-Express“

Die militärische Evakuierung aus dem Kabuler Flughafen nach dem Fall der afghanischen Hauptstadt in die Hände der Taliban sei kurzfristig geplant und organisiert worden, sagte der Zeuge. Diesem Umstand seien viele Schwierigkeiten geschuldet. So habe ein Schweizer Offizier mit den Taliban Busfahrten zum Flughafen ausgehandelt und den Deutschen Hilfe angeboten. Diesen Vorschlag habe man angenommen. Viele Ortskräfte und ihre Familien seien mit Hilfe dieser Busse, die Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten „Taliban-Express“ tauften, gerettet worden. Deutschland habe aber, seines Wissens nach, kein Geld an die Taliban gezahlt.

Der Oberstleutnant betonte, wäre die Evakuierung bereits im April 2021 geplant worden, hätten viel mehr Menschen aus Afghanistan herausgeholt werden können. Er fügte hinzu, es wäre wünschenswert gewesen, dass eine höhere Stelle ein entscheidendes Wort gesprochen hätte. Aber das Bundeskanzleramt habe sich seiner Ansicht nach sehr passiv verhalten.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/17.05.2023)

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