Vor 50 Jahren: Bundestag ratifiziert Grundlagenvertrag mit der DDR
Vor 50 Jahren, am Freitag, 11. Mai 1973, ratifizierte der Deutsche Bundestag nach heftiger politischer Auseinandersetzung zwischen der sozialliberalen Regierungskoalition und der CDU/CSU-Opposition den „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“. Bereits bei seiner Unterzeichnung am 21. Dezember 1972 im Ministerratsgebäude in Ost-Berlin war das Abkommen höchst umstritten. Vier Monate hatten die Unterzeichner des Vertrages – Egon Bahr (1922-2015, SPD), Bundesminister für besondere Aufgaben und Michael Kohl (1929-1981), Sekretär für Westdeutsche Fragen im Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der SED – verhandelt.
Im sogenannten Grundlagenvertrag verpflichteten sich beide deutsche Staaten „normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung“ zu entwickeln und sich dabei leiten zu lassen von den Zielen und Prinzipien, „die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, insbesondere der souveränen Gleichheit aller Staaten, der Achtung der Unabhängigkeit, Selbständigkeit und territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht, der Wahrung der Menschenrechte und der Nichtdiskriminierung“.
Moskauer und Warschauer Vertrag
Die Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung polarisierte seit ihrem Wahlsieg im September 1969 die Bundesrepublik. In einer weltpolitisch angespannten Lage, unter dem Eindruck des Wettrüstens zwischen den USA und der Sowjetunion und der in der Folge eingeleiteten Entspannungspolitik zwischen den Blockmächten, hatten Bundeskanzler Willy Brandt (1913-1992, SPD) und Bundesaußenminister Walter Scheel (1919-2016, FDP) bereits kurz nach Ihrem Amtsantritt im Oktober 1969 begonnen, sich um Gewaltverzichtsverträge sowohl mit der Sowjetunion als auch mit Polen zu bemühen.
Man müsse versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen, das hatte Willy Brandt bereits in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 gefordert. „Wandel durch Annäherung“, lautet das Konzept, mit dem Brandt und Bahr nach 20 Jahren die starre Blockkonfrontation zwischen Ost und West aufweichen wollen. Nach den sogenannten Ostverträgen – Moskauer Vertrag (1970), Warschauer Vertrag (1970), Viermächteabkommen über Berlin (1971) – folgte mit dem Grundlagenvertrag ein weiterer Schritt der Entspannungspolitik zwischen Ost und West.
Der Vertrag soll, nach den Worten von Außenminister Scheel, „die Verbindung und das Gespräch zwischen den Menschen in Deutschland erleichtern und das Bewusstsein der nationalen Zusammengehörigkeit aller Deutschen lebendig erhalten; die Voraussetzung einer Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten auf vielen Gebieten schaffen. Er soll den gegenwärtigen Zustand der Teilung als Konfliktherd in der Mitte Europas entschärfen, ohne dass wir auf das Ziel der Überwindung der Teilung verzichten“.
„Verfehlte Ostpolitik der Bundesregierung“
Wie schon die Ratifizierung der Ostverträge im Jahr zuvor, lehnte die CDU/CSU-Opposition auch den Grundlagenvertrag als weiteren Beleg der verfehlten Ostpolitik der amtierenden Bundesregierung von Anfang an ab. Wieder kritisierte die Opposition den „Ausverkauf deutscher Interessen“. Auch die Überzeugung der Regierungskoalition, dass das langfristige Ziel einer deutschen Wiedervereinigung nur durch friedliche Annäherung und fairen Interessenausgleich zwischen beiden Seiten zu erreichen wäre, teilte die Opposition nicht.
Die Regierung, so ihre Kritik, erkenne mit dem Vertrag die deutsche Teilung unwiderruflich an. Sie gebe ohne Not das grundgesetzlich vorgegebene Ziel der Wiedervereinigung preis. Unter Erfolgszwang und Termindruck habe die Bundesregierung langjährige Forderungen der DDR erfüllt und keine entsprechenden Gegenleistungen erhalten. Der Vertrag besiegle den Status quo und mache eine Wiedervereinigung unmöglich. Im Grunde sei dies einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR gleichzusetzen, denn die DDR würde als selbständiger und unabhängiger Staat anerkannt. Außerdem, kritisierte die Opposition, enthalte der Vertrag keine abgesicherten Aussagen über menschliche Erleichterungen und Verbesserungen der Freizügigkeit.
„Dieser Vertrag legitimiert ein Unrechtssystem und eine unmenschliche Grenze mit Tötungsanlagen. Wir können dies nicht mitmachen, denn das erschwert den Kampf der Demokraten für die Sache der Freiheit in Deutschland und in Europa. Wir lehnen diesen Vertrag ab“, lautete das abschließende Fazit des Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel (1924-2006, CDU/CSU) in der ersten Lesung des Vertrages am 15. Februar 1973.
Vertrag für Entspannung und Frieden in Europa
In seinem Schlusswort vor der Abstimmung über den Grundlagenvertrag stellte der Bundeskanzler deshalb noch einmal klar: „Nichts spricht dafür, dass der zerbrochene deutsche Nationalstaat in alter Form wieder erstehen könnte. Das ist die tatsächliche Lage. Von ihr haben wir auszugehen. Ich meine, nur so dienen wir unserem Volk, der deutschen Nation, das heißt konkret: den Menschen in Deutschland.“ Und weiter sagte Brandt: „Es gibt das Wort, dass ein Volk seine Substanz verliert, wenn es seine Geschichte preisgibt. Ich stimme dem zu und ergänze, (…) ein Volk verweigert sich seiner Geschichte, wenn es meint, sie mit Wunschträumen fortschreiben zu können. Illusionen schaffen keine Zukunft. Die Ihnen vorliegenden Verträge sollen die geschichtliche Kontinuität unserer nationalen Existenz auf der Basis der jetzt gegebenen Bedingungen sichern helfen.“
„Der Grundvertrag soll der Entspannung und dem Frieden in Europa dienen und damit auch der Sicherung unserer nationalen Substanz. Er kann nichts darüber aussagen, ob, wann und wie eine gemeinsame Lebensform der Deutschen wiedergefunden werden kann. Wir wissen darüber in diesem Augenblick nichts.“
Gefahr für die Wiedervereinigung
Die Opposition sah in dem Abkommen nicht nur eine Gefahr für die Verwirklichung der deutschen Wiedervereinigung, sondern fürchtete, dass am Ende auch niemand mehr daran glauben würde. Ex-Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (1904-1988, CDU/CSU), der das Amt des Fraktionsvorsitzenden kommissarisch vom kurz zuvor zurückgetretenen Rainer Barzel übernommen hatte, warf Brandt vor, seine Politik werde im Ausland „als eine endgültige Besiegelung des Status quo“ verstanden. „Die Gefahr der Verträge und die Gefahr der Meinung der Welt zu diesen Verträgen ist, dass gerade dieses Ziel uns nicht mehr geglaubt wird – ja, dass wir selber eines Tages nicht mehr daran glauben, dass wir nicht mehr an die Verwirklichungsmöglichkeit glauben, so schwer sie sein mag, sondern dass sie dann tatsächlich für uns nur noch eine 'abstrakte Denkmöglichkeit' sein wird.“
Dennoch fand der kommissarische Fraktionsvorsitzende zum Abschluss der dreitägigen teils erbittert geführten Debatte fast schon versöhnliche Worte: „Was nun die angestrebten Verbesserungen für das Leben des geteilten Volkes in unserem Lande anlangt, so dürfen Sie sicher sein, Herr Bundeskanzler: Sie werden für alles und jedes, was da nach vorne führen kann, was die Qualität des Lebens auch in diesem Zusammenhang für unser Volk und vor allem für jene drüben verbessern kann, unsere Unterstützung haben. Unsere Kritik an der Verhandlungsführung, unsere Kritik an den Verträgen, unsere Stellungnahme auch zum Grundvertrag wird uns nicht daran hindern, Ihnen unsere volle Unterstützung zu geben, wenn es gilt, diese Ziele Ihrer Bemühungen zu erreichen.“
Grundlagenvertrag und Uno-Beitritt
Mit der Mehrheit der Regierungskoalition verabschiedete der Bundestag in namentlicher Abstimmung den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ratifizierung des Grundlagenvertrages (7/153, 7/500, 7/516). Allerdings sprachen sich mit Dr. Norbert Blüm (1935-2020), Dr. Karl-Heinz Hornhues (1939), Dr. Josef Klein (1940) und dem CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep (1926-2016) auch vier Abgeordnete der CDU für den Vertrag aus. Insgesamt hatten 485 Parlamentarier an der Abstimmung teilgenommen. 268 Abgeordnete stimmten mit Ja, 217 Abgeordnete mit Nein. Von den 22 Berliner Abgeordneten stimmten 13 mit Ja und neun mit Nein.
Am 21. Juni 1973 trat der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR in Kraft. Die Bundesrepublik und die DDR unterhielten nun zwischenstaatliche Beziehungen. Auch wenn die Bundesrepublik der DDR mit dem Grundlagenvertrag eine gewisse staatliche Eigenständigkeit zuerkannte und damit für die DDR die Aufnahme internationaler Beziehungen möglich wurde (nach Abschluss des Grundlagenvertrages nahmen 68 Länder diplomatische Beziehungen mit Ostberlin auf), konnte dies aufgrund des grundgesetzlich verankerten Wiedervereinigungsgebots keine volle völkerrechtliche Anerkennung bedeuten. In Bonn und in Ostberlin wurden deshalb keine Botschaften, sondern Ständige Vertretungen eingerichtet. In der Folge erleichterte der Grundlagenvertrag den Reise-, Brief- und Telefonverkehr und ermöglichte den Bau weiterer Verkehrsverbindungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin.
Der Grundlagenvertrag war auch die Voraussetzung für die Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen. In der im Anschluss an die Ratifizierung des Grundlagenvertrages stattfindenden namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta der Vereinten Nationen, votierten 365 Abgeordnete dafür und 121 dagegen. Dafür sprachen sich auch 13 Berliner Abgeordneten aus, neun stimmten dagegen. Am 18. September 1973 wurden die Bundesrepublik Deutschland als 133. und die DDR als 134. Mitgliedstaat in die Vereinten Nationen aufgenommen. (klz/04.05.2023)