Kinderkommission

Experten: Hilfen für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern verzahnen

Eine Verzahnung der unterschiedlichen Hilfsangebote, deren flächendeckende Einführung sowie eine kontinuierliche finanzielle Förderung von Vereinen, die betroffenen Familien Unterstützung anbieten, würde die Situation von Kindern in Familien mit psychisch oder suchtkranken Eltern verbessern, so die Sachverständigen im Fachgespräch der Kinderkommission zum Thema „Kinder psychisch und suchtkranker Eltern“ am Mittwoch, 26. April 2023.

Das Bewusstsein für die Thematik sei in den vergangenen Jahren gestiegen, sagte Dr. Koralia Sekler vom AFET Bundesverband für Erziehungshilfe. Politik, vor allem das Parlament, und Fachleute hätten in den vergangenen Jahren zueinander gefunden. Dennoch bleibe der Handlungsbedarf groß und dringend.

Drei bis vier Fälle pro Schulklasse

Dabei wisse man nur wenig über die genaue Größe der Zielgruppe. Die Datenlage sei leider mau. Vermutlich seien zwischen drei und sechs Millionen Minderjährige oder jedes sechste Kind in Deutschland betroffen – pro Schulklasse komme man auf drei bis vier Fälle. Über Zahlen verfüge man nur bei denjenigen Kindern und Jugendlichen, bei denen bei mindestens einem Elternteil eine psychische Erkrankung festgestellt worden sei.

Etwa 50 Prozent der eigentlich gesunden Kinder entwickelten durch die Belastungssituation in ihren Familien im Lauf ihres Lebens eigene Auffälligkeiten. Die Umstände der Corona-Pandemie hätten die Lage nicht leichter gemacht. Kranke Eltern fielen als Anwälte ihrer Kinder aus, viele machten aus Angst vor Stigmatisierung nicht auf ihre schwierige und die verzweifelte Lage ihrer Kinder aufmerksam.

„Hilfen sind nicht aufeinander abgestimmt“

Die Versorgung solcher Kinder sei immer noch unzureichend. Vor allem griffen die unterschiedlichen Versorgungssysteme, von denen betroffene Familien profitieren könnten, nicht optimal ineinander, sondern stünden weitgehend „versäult“ nebeneinander. „Es gibt leider nur eine Addition von Hilfen, die nicht aufeinander und nicht auf die individuelle Situation der Familien abgestimmt sind.“

Problem seien die unterschiedlichen oder fehlenden Finanzierungen sowie die unterschiedliche Ausrichtung der zugrundeliegenden Sozialgesetzbücher. So sei nicht geregelt, wer für die Unterbringung von Kindern im Fall eines Klinikaufenthaltes der Eltern zahle. Zudem befinde man sich zumeist noch in der Phase von Modellprojekten. Gebraucht würde jedoch die Möglichkeit einer regel- und dauerhaften Mischfinanzierung sowie einer deutschlandweit flächendeckenden Versorgung für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern.

Empfehlungen der Arbeitsgruppe

Sekler erinnerte an den überfraktionellen Entschließungsantrag des Bundestages von 2017, woraufhin eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus drei Ministerien und 50 Fachverbänden auf Bundesebene einvernehmliche Empfehlungen gegeben habe. Darin werde auf die nötige Ganzheitlichkeit des Themas verwiesen. Die Zielgruppe der betroffenen Eltern und Kinder habe Anspruch auf eine Vielzahl an Leistungen. Viele Kommunen setzten jedoch Gesetzesnovellierungen wie sie im Jugendstärkungsgesetz vollzogen worden seien nicht um, Leistungen würden wegen Geldmangel nicht gewährt. Es komme zu einer Ungleichbehandlung von Kindern. Eine bessere Verzahnung der verschiedenen rechtlichen Rahmenbedingungen sei bisher nicht angefasst worden. 10 der 19 Empfehlungen der Arbeitsgruppe seien überhaupt nicht aufgegriffen worden.

Die unterschiedlichen Behandlungsangebote müssten stärker ineinandergreifend am realen Bedarf der betroffenen Familien ausgerichtet und flächendeckend angeboten werden. Dabei gelte es vor allem mehr auf präventive Leistungen zu setzen. Man müsse zu einer Mischfinanzierung kommen. Die entsprechenden Sozialgesetzbücher seien rechtlich entsprechend anzupassen. Vereine, die eine Unterstützung anböten, benötigten eine Verstetigung von Projekten und Finanzierungen. Es lasse sich aus dem existierenden System früher Hilfen für Kinder von 0-3 Jahren lernen. Das könne auf die Versorgung für Klein- und Schulkinder ausgedehnt werden.

Forderung nach „Entsäulung“ der Angebote

Über die Patenschaftsangebote ihres Vereins, „Patenschaften für Kinder psychisch erkrankter Eltern“, AMSOC e.V., berichtete Franziska Quednau. Lediglich Eltern, die sich ihrer Erkrankung bewusst und behandlungseinsichtig seien, nähmen das Angebot wahr. Die Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung und beruflichen Nachteilen stelle für viele eine unüberwindliche Hürde dar.

Vor allem alleinerziehende Mütter wolle man mit einer Patenschaft unterstützen, beispielsweise, wenn diese für eine Behandlung eine Klinik aufsuchen und die Kinder untergebracht werden müssten. Um Müttern und Kindern gleichermaßen helfen zu können, wünsche man sich eine „Entsäulung“ der verschiedenen Angebote. Noch arbeiteten die sozialpädagogische Familienhilfe und der Kinderpsychologe aneinander vorbei und man bemühe sich die Schnittstellen zwischen den unterschiedlichen Fachbereichen und rechtlichen Instrumenten abzudecken. Um passgenau mit den Betroffenen arbeiten zu können, sei ihr Angebot außerhalb des rechtlichen Rahmens des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe) verortet.

Ehrenamtliche Patenschaften

Während der Verein seine Hilfe für Betroffene so niedrigschwellig wie möglich anbiete, sei die Auswahl der ehrenamtlichen Paten an ein komplexes und mehrstufiges Verfahren gebunden. Mit einer Patenschaft installiere man eine „Art zusätzliches, stabilisierendes Familienmitglied“. Es gehe nicht um eine Konkurrenz zu den Eltern. Eltern geben ihr Einverständnis. Hauptamtliche Koordinatoren schauten sich die Bewerber genau an und schulten diese für ihre bevorstehend Aufgabe.

Für die Angebote des Vereins werbe man vor allem bei den Eltern, sensibilisiere diese, baue deren Ängste vor einer Kontaktaufnahme und einer Behandlung ab. Nur so erhalte man Zugang zu Familien und Kindern. Das brauche oft Zeit. „Wir werden von Eltern gut angenommen, da diese uns nicht als Kontrollinstanz wahrnehmen.“ Viele Eltern gingen aus Angst, dass ihnen die Kinder weggenommen werden, wenn sie ihre psychische Erkrankung offen legen, nicht zu einer staatlichen Stelle.

Der in Berlin ansässige Verein habe sich bis 2020 nur durch Spenden finanziert. Seitdem habe man verschiedene staatliche Projektmittel seitens der Bezirke und mehrerer Sentsverwaltungen erhalten. Für die Zukunft wünsche man sich eine dauerhafte Finanzierung.

Lotsen durch das Versorgungssystem

Möglichst bis zur Volljährigkeit des betreuten Kindes solle eine Patenschaft andauern, erläuterte Mascha Roth, ebenfalls AMSOC e.V. Der Bewerbungsprozess für die ehrenamtlichen Paten umfasse eine Schulung in fünf Modulen. Erst nach einem abschließenden Haubesuch kämen diese für die Vermittlung einer Patenschaft infrage. Für die Auswahl und dauerhafte Betreuung seien die hauptamtlichen Kräfte des Vereins von großer Bedeutung. Als Lotse durch das Versorgungssystem oder bei Veränderungen in den betroffenen Familien trete man auf den Plan.

Individuelle Lösungen für die Betroffenen zu finden bleibe aufwändig. Die fehlende Verzahnung der einzelnen Leistungsbereiche könne man nicht ersetzen. Man bewege sich jenseits der Sphäre der Sozialgesetzbücher, trage aber zur Erfüllung vieler dort verankerter Ziele bei. Wenn die Zusammenarbeit vor Ort gut laufe, könnten die Fachleute die systemischen Lücken überbrücken.

Schutzprogramm für Drei- bis Achtjährige

In belastender Lage befänden sich vor allem die Drei- bis Achtjährigen, sagte Paul Lehrieder (CDU/CSU), Vorsitzender der Kinderkommission. Für diese Gruppe „kleiner Helden“ brauche man dringend ein nachfolgendes Schutzprogramm, wie es bereits für die Null- bis Dreijährigen bestehe. Kinder, denen nicht geholfen werde, litten möglicherweise ein Leben lang unter den Folgen eines durch die Krankheit der Eltern geprägten Umfeldes. Gesellschaft und Staat müssten dann mit einer noch größeren Zahl Betroffener umgehen.

Zu den größten Problemen im Umgang mit Kindern sucht- und psychisch Kranker gehöre, wie man die betroffenen Kinder erreiche, wenn die Eltern uneinsichtig seien und mauerten und die Kinder sich selber nicht trauten zu reden, aus Angst, dass ihnen die Eltern genommen werden. Man arbeite in dem „ganz sensiblen Bereich“ der grundgesetzlich geschützten Familie. Auch der Datenschutz stelle zu Recht eine hohe Hürde dar. Abhilfe schaffen lasse sich vielleicht mit einem System „aufsuchender Hilfe“ von ärztlicher Seite. (ll/27.04.2023)

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