„Bürgerschaftliches Engagement“ zwischen Gesellschaft und Staat
An nichts weniger als einer umfassenden, interdisziplinären Bestandsaufnahme und Begriffsschärfung des „Bürgerschaftlichen Engagements“ und dessen Verortung zwischen Gesellschaft und Staat versuchte sich der Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement in einem öffentlichen Fachgespräch am Mittwoch, 15. März 2023. Hintergrund ist das laufende Beteiligungsverfahren für die im Entstehen begriffene Engagementstrategie der Bundesregierung. Die Engagementstrategie soll dazu beitragen, die Rahmenbedingungen für das bürgerschaftliche Engagement in Deutschland zu verbessern und die Zivilgesellschaft umfassender zu unterstützen.
Inklusive Funktion bürgerschaftlichen Engagements
Auf die inklusive Funktion von Bürgerschaftlichem Engagement für die Gesellschaft wies Dr. Ansgar Klein, Geschäftsführer des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement, hin. „Bürgerschaftliches Engagement kann den sozialen Zusammenhalt verstärken.“ Bürgerschaftliches Engagement und Demokratieförderung seien außerdem auf das Engste miteinander verbunden. Eine zentrale Fähigkeit zivilgesellschaftlicher Praxis bestehe darin, dass sie „Selbstwirksamkeitserfahrungen bei der Gestaltung der Gesellschaft im Kleinen, aber – wenn gut begleitet und vernetzt – auch Zugänge zum politisch- demokratischen Engagement ermögliche“.
An der Schnittstelle des Gebens und Nehmens zwischen Staat und Gesellschaft in diesem Bereich gehe es um einen „respektvollen Umgang“ miteinander. Die Politik müsse vor allem die nachhaltige, strukturelle Förderung der Zivilgesellschaft verbessern. Die Bundesebene sei gefordert, „sonst werden arme Kommunen und Regionen, die gesellschaftliches Engagement nach Kassenlage behandeln, abgehängt“. Der demokratische Rechtsstaat müsse zudem genügend sichere Räume für gesellschaftliches Engagement schaffen und schützen. Regierungs- und Verwaltungshandeln dürfe dabei jedoch nicht übergriffig werden und die Engagementsphäre nicht politisch vereinnahmen. So wie es gelte einerseits neue, unkonventionelle Engagementformen zu würdigen - „Bleiben Sie förderpolitisch dran!“ -, müsse andererseits Hass-Akteuren in den sozialen Medien mit allen rechtlichen Mitteln das Handwerk gelegt werden. „Die online-Kommunikationsräume sind keine rechtsfreien Kommunikationsräume.“
Die Zivilgesellschaft müsse im Digitalisierungsprozess unterstützt werden. Außerdem müsse man den unzivilen Akteuren mit politischer Bildung und der Einübung grundlegender zivilgesellschaftlicher Spielregeln wie Toleranz, Respekt, Gewaltlosigkeit und argumentativer Auseinandersetzung begegnen. „Wir dürfen nicht hinnehmen, dass unsere Werte in den social media demontiert werden.“ Keinesfalls dürfe bürgerschaftliches Engagement als Lückenbüßer mangelnder staatlicher Daseinsvorsorge des Sozialstaats herhalten und dort etwa fest eingebunden werden, mahnte Klein. Umgekehrt bleibe die Gesellschaft „auf entgegenkommende Entwicklungen des Sozialstaats und staatlich geförderte wie gesetzlich verbriefte Regelaufgaben angewiesen“. Diese könnten in einem „Engagementfördergesetz“ im Rahmen der geplanten Engagementstrategie niedergelegt werden.
Experte: Verfassungsrechtliches Niemandsland
Was der angemessene rechtliche Rahmen für das Handlungsfeld des Bürgerschaftlichen Engagements sei, beschäftigte den Verfassungsrechtler Prof. Dr. Martin Nettesheim von der Eberhard Karls Universität Tübingen. In der Entstehungszeit des Grundgesetzes habe man angenommen, dass Bürgerschaftliches Engagement selbstverständlich sei und nicht in der Verfassung geregelt werden müsse. Nettesheim legte dar, dass für das Konzept des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland weder grundrechtlich noch staatsorganisationsrechtlich ein angemessener Platz gefunden wurde. „Bürgerschaftliches Engagement bewegt sich aus verfassungsrechtlicher Sicht in einem Niemandsland.“
In Deutschland werde, wenn es um die die Verwirklichung des Gemeinwohls gehe, meist in erster Linie der Staat in der Verantwortung gesehen. „Das Verfassungsrecht kann vor diesem Hintergrund keine Kriterien zur Verfügung stellen, nach denen entschieden werden könnte, ob etwas sinnvollerweise in die Hände der sich engagierenden Bürgerschaft gelegt werden sollte.“ Das große Vertrauen in die hohe Leistungsfähigkeit des deutschen Staates berge die Gefahr einer „nachlassenden Bereitschaft der Bevölkerung, sich von unten freiwillig für die Förderung des Gemeinwohls einzusetzen“, eine „Psychologie des Disengagements“ werde so gefördert.
Auch das Demokratieverständnis, das das gegenwärtige Staats- und Verfassungsdenken präge, habe „für bürgerschaftliches Engagement im Raum unterhalb der Ebene der organisierten Staatlichkeit kein theorieimmanentes Verständnis und keinen Platz“, so Nettesheim in seiner Stellungnahme. Bürgerinnen und Bürger würden vielfach auf wählende Akteure reduziert, die alle vier Jahre zur Wahlurne gehen und in der Zwischenzeit gut regiert werden. „Ein Demokratieverständnis, das den Staat als Leistungsträger einer individualistisch-selbstinteressierten Bourgeoisie gegenüberstellt, kann der Gemeinwohlerfüllung von unten keine funktionale Rolle zuweisen. Wenn sich demokratische Mitbestimmung auf die politische Steuerung und Kontrolle der Amtsträger der organisierten Staatlichkeit beschränkt, kann das Selbstverständnis von “citoyens„, die sich in der Verantwortung sehen, durch ein freiwilliges Engagement zum Gemeinwohl beizutragen, nicht abgebildet werden.“
„Der Staat kann nicht alles leisten“
„Der politische Mut festzustellen, dass der Staat nicht alles leisten kann“, sei in Deutschland eher unterentwickelt. Es lohne sich aber, auf eine Veränderung der bestehenden Sinnmuster hinzuarbeiten, um bürgerschaftliches Engagement in Deutschland zu stärken. Gefragt werden müsse, worin die Menschen den Wert eines solchen Engagements sehen. Vermutlich kämen dabei drei Aspekte gleichermaßen zum Tragen: Sinnstiftung, Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Entlastung des Staates. Die Verfassungsrechtswissenschaft müsse sich dann der Frage einer „angemessenen Aufgabenverteilung zwischen der Ebene der organisierten Staatlichkeit“ und der Konzeption eines Raumes zuwenden, in dem Gemeinwohlverwirklichung von Institutionen und Initiativen „von unten“ aus der Gesellschaft heraus betrieben werden könne.
„Die Staatsarchitektur muss in Denkmustern beschrieben werden, die neben der Ebene der organisierten Staatlichkeit und der Ebene selbstinteressierten Handelns der Menschen einen Raum bürgerschaftlichen Engagements vorsehen“, führte der Verfassungsrechtler aus. „Nicht schädlich wäre es, wenn in diesem Zusammenhang schon in der Grundbeschreibung deutlich gemacht würde, dass sich ein staatliches Gemeinwesen nicht von oben herab, sondern von unten heraus konstituiert.“
Er regte an, eine Bestimmung zum Bürgerschaftlichen Engagement in Art. 20 Abs. 2 oder in Art. 28 des Grundgesetzes aufzunehmen. „Eine Verfassungsbestimmung, die die konstitutionelle Funktion und den verfassungspolitischen Wert bürgerschaftlichen Engagements betont, könnte etwa folgenden Inhalt haben: Zum demokratischen Leben gehört das bürgerschaftliche Engagement.“ Dem Bereich des bürgerschaftlichen Engagements Verfassungsrang zuzuweisen sei einerseits ein wertstiftender und wertschätzender Akt. Anderseits formuliere man damit auch „eine Verfassungserwartung an die Bürgerinnen und Bürger, die darauf hinausläuft, dass funktionierende Staatlichkeit auch den Einsatz für die “res publica„ verlangt“.
Schutz bürgerlicher Selbstorganisation
„Bürgerschaftliches Engagement gehört zu einem funktionierenden Gemeinwesen und zu einer funktionierenden Demokratie hinzu“, unterstrich auch Seniorprofessorin Dr. Annette Zimmer von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Es handele sich um eine in allen Lebensphasen und für die gesellschaftliche Integration zentrale Einrichtung. Handlungsleitende Fragestellung für Wissenschaft und Politik müsse sein, wie staatliche Verwaltung und engagierte Bürger ideal zusammenarbeiten und was der Staat dafür leisten könne. Vor allem müsse der Staat Bürgerschaftliches Engagement als einen Raum bürgerlicher Selbstorganisation schützen.
Zimmer warb dafür, sich den liberalen Blick auf diese selbstorganisierten Räume zu bewahren und nicht, wie in vielen Ländern, bürgerschaftliches Engagement staatlich einzukaufen. So würden in Russland ausgewählte Initiativen in die regionale governance integriert und gelenkt. Sie erinnerte daran, dass Engagement auch im privatwirtschaftlichen Bereich stattfinde, durch Unternehmen oder etwa, wenn sich Bürgerinnen und Bürger zur Bewältigung der Energiekrise zu Energiegenossenschaften zusammentäten oder, um andere Risiken zu teilen. Viele neue Formen einer Gemeinwirtschaft seien so im Entstehen begriffen.
Für ein gutes Zusammenwirken müssen man die beiden Welten des Engagements einerseits, das beispielsweise die Belange von Geflüchteten gut verstehe, und der starren staatlichen Verwaltungsstrukturen, die in Fachressorts und bestimmten Zuständigkeiten organisiert seien, einander näher bringen, indem man gemeinsame Querschnittsbereiche schaffe.
Engagementstrategie des Bundes
Gegenwärtig läuft das Beteiligungsverfahren im Rahmen des Erarbeitungsprozesses hin zu einer Engagementstrategie des Bundes. Diese soll dazu beitragen, die Bedingungen für das bürgerschaftliche Engagement in Deutschland zu verbessern und die Zivilgesellschaft auf diese Weise umfassender zu unterstützen.
In diesem Prozess stellen sich vielfältige Fragen, die über einzelne Maßnahmen hinaus zeigen und zugleich sehr grundlegend sind. Neben der Diskussion konkreter Maßnahmen sind daher auch Begrifflichkeiten zu klären. Außerdem gilt es, sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des bürgerschaftlichen Engagements auseinanderzusetzen. Ziel der Sitzung ist es daher, das Verständnis grundlegender Begriffe sowie des bürgerschaftlichen Engagements in seinen grundlegenden Zügen zu beleuchten und zu diskutieren. (ll/15.03.2023)