Diskussion über Straffreiheit für Schwarzfahren und andere Delikte
Der Bundestag hat sich am Donnerstag, 26. Januar 2023, erstmalig mit zwei Gesetzentwürfe (20/2081, 20/4421) und drei Anträgen (20/4416, 20/4420, 20/4419) der Fraktion Die Linke zur Strafrechtspolitik befasst. Unter dem Schlagwort „Armutsbekämpfung abschaffen“ fordert die Fraktion darin unter anderem die Entkriminalisierung des Schwarzfahrens, des Drogenkonsums und des Containers. Zudem soll die Ersatzfreiheitsstrafe abgeschafft, die Prozesskostenhilfe und das Recht auf Verteidigung gestärkt sowie die Systematik der Geldstrafe überarbeitet werden. Die Anträge wurden zur federführenden Debatte an den Rechtsausschuss überwiesen.
Linke: Soziale Probleme nicht mit Repression lösen
Für die Fraktion Die Linke sprach als Mitglied des Bundesrates die Berliner Justizsenatorin Dr. Lena Kreck. „Soziale Probleme lassen sich nicht mit Repression lösen“, sagte die Linken-Politikerin. Sie berichtete vor allem von der Situation von Menschen in Berlin, die eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. Die Menschen seien meist in einem „desolaten Zustand“ und häufig psychisch oder suchterkrankt.
Häufig hätten sie nicht mitbekommen, dass sie zu einer Geldstrafe verurteilt worden seien, und seien auch nicht in der Lage, diese zu begleichen. Die Haftzeit sei zudem zu kurz, um die Menschen zu behandeln. Sie leiste keinen Beitrag dazu, „dass die Menschen ein gesundes Leben jenseits von Straftaten leben können“, sagte die Senatorin. Die meisten Betroffenen säßen wegen Fahren ohne Fahrscheins im Gefängnis, berichtete Kreck. Sie sprach sich dafür aus, die Norm ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.
SPD: Koalition will Gerechtigkeitsdefizite abschaffen
Für die SPD-Fraktion nutzte Carmen Wegge die Debatte, um – wie auch Rednerinnen und Redner von Bündnis 90/Die Grünen und FDP – auf die Vorhaben der Koalition im Strafrechtsbereich hinzuweisen. Die Koalition wolle „Gerechtigkeitsdefizite abschaffen“ und eine „große Gerechtigkeitsoffensive“ starten. Das Strafrecht solle umfassend modernisiert sowie die Kriminalpolitik unter die Lupe genommen werden.
Die Ersatzfreiheitsstrafen würden „benachteiligte Bevölkerungsgruppen“ treffen, die nicht in der Lage seien, die Geldstrafen zu begleichen. Die Sozialdemokratin verwies auf die Pläne der Bundesregierung, die Ersatzfreiheitsstrafe zu halbieren. Sie sei sich sicher, „dass wir den Entwurf noch ein bisschen besser machen werden“, sagte Wegge.
CDU/CSU ist gegen ein „politisches Strafrecht“
Für die CDU/CSU-Fraktion übte Ingmar Jung scharfe Kritik an den Vorschlägen der Linken. „Sie teilen die, die Recht und Gesetz brechen, in Gut und Böse ein. Sie wollen unterschiedliche Urteile“, sagte Jung mit Verweis auf das ebenfalls von der Links-Fraktion geforderte Unternehmensrecht. Ein „politisches Strafrecht“ sei mit der Union nicht zu machen.
Mit Blick auf das Containern, die Entnahme weggeworfener, aber noch verzehrbarer Lebensmittel aus Müllbehältern von Supermärkten, sprach der Christdemokrat von einem riesigen Problem, dass Unmengen von Lebensmitteln weggeworfen würden. Zur Lösung sei aber das Landwirtschaftsministerium und nicht das Strafrecht zu adressieren, meinte Jung. Auch die Entkriminalisierung des Schwarzfahrens lehnte er ab.
Grüne: Entkriminalisieren, liberalisieren und legalisieren
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen betonte Canan Bayram, dass eine moderne Gesellschaft ein modernes Strafrecht brauche. „Wir werden entkriminalisieren, wir werden liberalisieren und wir werden legalisieren“, kündigte Bayram an. Die Gesellschaft müsse klären, was sie als gerecht empfinde und was nicht.
„Wenn das Parken ohne Parkschein eine Ordnungswidrigkeit ist, dann stellt sich doch die Frage, warum das Fahren ohne Fahrschein eine Straftat ist“, betonte die Grünen-Abgeordnete. Neben der Reform der Ersatzfreiheitsstrafe forderte Bayram zudem – wie auch die Linke – die Pflichtverteidigung und die Prozesskostenhilfe auszuweiten.
AfD: Vorschläge aus der Mottenkiste des Sozialismus
Für die AfD-Fraktion lehnte Thomas Seitz die Vorschläge rundherum ab. Sie stammten aus der „Mottenkiste des Sozialismus“ und seien von dem „ideologischen Konstrukt der Armutsbestrafung“ durchzogen, die es in Deutschland gar nicht gebe. Die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein würde „die Finanzierung des ÖPNV zerstören“, sagte der AfD-Abgeordnete.
Es gebe gute Gründe gegen Geldstrafen, dann müssten aber Alternativen genannt werden, forderte Seitz. Die Ersatzfreiheitsstrafe sei aber ein „notwendiges Druckmittel, das der Geldstrafe Durchsetzungskraft verleiht“, meinte der AfD-Abgeordnete.
FDP will Zeitenwende in der Strafrechtspolitik
Für die FDP-Fraktion kündigte Stephan Thomae eine „Zeit der Zeitenwende in der Strafrechtspolitik“ an. „Immer mehr und immer härter zu bestrafen, das war lange Zeit die einzige Richtung, die wir in der Strafrechtspolitik gekannt haben“, kritisierte Thomae. Dabei werde Kriminalität nicht mit mehr und höheren Strafen bekämpft, sondern mit mehr Personal und besserer Ausstattung.
Im Rahmen der avisierten Strafrechtsreform werde man auch einen Blick auf das Fahren ohne Fahrschein werfen, in Sachen Containern sei schon Bewegung in der Diskussion, sagte Thomae mit Verweis auf Vorschläge zur Änderung der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren. Der Liberale hob ebenfalls auf die geplante Reform der Ersatzfreiheitsstrafe ab, eine Abschaffung lehnt er indes ab. Es müsse eine Markierung bleiben, dass eine Sanktion auch durchgesetzt werden könne.
Straffreiheit für Fahren ohne Fahrschein
In ihrem ersten Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuchs (20/2081) setzt sich die Linksfraktion für die Straffreiheit des Fahrens ohne Fahrschein ein. Wie die Abgeordneten schreiben, sei die im Paragrafen 265a des Strafgesetzbuches („Beförderungserschleichung“) enthaltene Strafandrohung nicht verhältnismäßig und widerspreche der Funktion des Strafrechts als letztes Mittel (Ultima-Ratio-Funktion). Es drohten Geldstrafen, bei Zahlungsunfähigkeit auch nicht selten Haft durch Ersatzfreiheitsstrafe, „obwohl beim Einsteigen in Bus oder Bahn eine Überwindung von Schutzvorrichtungen nicht erforderlich und damit die Entfaltung von ,krimineller Energie' nicht notwendig ist“.
Zusätzlich werde von den Verkehrsbetrieben ein nicht unerhebliches erhöhtes Beförderungsentgelt erhoben, was einer Doppelbestrafung gleichkomme. Die Strafe treffe zudem häufig arme und hilfsbedürftige Menschen sowie Obdachlose, die sich die Fahrkarte nicht leisten könnten, schreiben die Abgeordneten. „Gerade bei armen Menschen hat die Strafandrohung auch nicht die gewünschte abschreckende Wirkung, weil die Gelder schlichtweg nicht aufgebracht werden können. Zudem kommen weder Personen noch Sachen zu Schaden. Der Unrechtsgehalt ist gering, ein besonderer gesellschaftlicher Schaden nicht ersichtlich.“ Als Lösung schlagen die Abgeordneten vor, im Paragrafen 265a Absatz 1 die Wörter „die Beförderung durch ein Verkehrsmittel“ zu streichen.
Straffreiheit des Containerns von Lebensmitteln
Mit dem zweiten Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuchs (20/4421) will Die Linke das sogenannte Containern entkriminalisieren. Dabei handelt es sich um die Entnahme noch genießbarer Lebensmittel aus Abfallcontainern von Supermärkten. Wie die Fraktion ausführt, könnten solchen Taten gegenwärtig als Diebstahl eingeordnet werden. Sie verweist auf Umfragen, nach denen sich 80 Prozent der Befragten gegen eine Strafbarkeit aussprechen. „In der aktuellen Situation der steigenden Lebensmittelpreise kann eine Strafbarkeit von Menschen, die sich noch genießbare Lebensmittel aneignen, noch weniger gerechtfertigt werden“, schreibt die Fraktion.
Der Gesetzentwurf sieht eine Änderung des Paragrafen 248a des Strafgesetzbuches („Diebstahl und Unterschlagung geringwertiger Sachen“) vor. Danach soll von einer Strafverfolgung dann abgesehen werden, „wenn sich die Tat auf Lebensmittel bezieht, die vom Eigentümer in einem Abfallbehältnis, welches der Abholung und Beseitigung durch einen Entsorgungsträger dient, deponiert oder anderweitig zur Abholung bereitgestellt wurden“.
Erster Antrag der Linken
In ihrem ersten Antrag (20/4420) spricht sich die Linksfraktion in der laufenden Debatte um die Reform der Ersatzfreiheitsstrafe für deren komplette Streichung aus. Zudem schlagen die Abgeordneten vor, die Bestimmung von Geldstrafen am Einbußeprinzip zu orientieren.
Die Fraktion führt zur Begründung aus, dass die Ersatzfreiheitsstrafe nach Paragraf 43 des Strafgesetzbuches „ein Instrument der Diskriminierung von einkommens- und vermögensschwachen Menschen, die häufig am Existenzminimum leben“, sei. Vor allem ärmere Menschen seien von den Ersatzfreiheitsstrafen betroffen, weil sie nicht in der Lage seien, die hohen Geldstrafen zu bezahlen. „Soziale Desintegration in Form von Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und Abhängigkeit von legalen und illegalisierten Drogen spielen dabei oft eine entscheidende Rolle“, heißt es in dem Antrag. In der Praxis würden Ersatzfreiheitsstrafen überwiegend wegen Bagatelldelikten wie dem Fahren ohne Fahrschein oder Ladendiebstählen verhängt.
Zweiter Antrag der Linken
In ihrem zweiten Antrag (20/4416) fordert die Linksfraktion, das Recht auf Pflichtverteidigung sowie die Prozesskostenhilfe deutlich auszuweiten. Sie schreibt, dass die bisherigen Beschränkungen vor allem im Bereich typischer Fälle der „Armutskriminalität“ und besonders im Strafbefehlsverfahren negative Auswirkungen haben.
Konkret fordert die Fraktion, die notwendige Verteidigung auf alle Fälle zu erweitern, bei denen zu erwarten ist, dass eine Freiheitsstrafe in Betracht kommt. Auch im Strafbefehlsverfahren soll laut Antrag die notwendige Verteidigung gewährt werden. Ferner solle das Antragserfordernis für die notwendige Verteidigung gestrichen und die Prozesskostenhilfe neben der notwendigen Verteidigung im Strafprozessrecht verankert werden. Damit solle ermöglicht werden, dass nach einer Bedürftigkeitsprüfung jeder beziehungsweise jede ein Recht auf Verteidigung hat. Überdies schlagen die Abgeordneten vor, dass künftig die örtlichen Rechtsanwaltskammern die Auswahl der Pflichtverteidigung übernehmen.
Dritter Antrag der Linken
In ihrem dritten Antrag (20/4419) fordert Die Linke „mehr Gleichheit im Strafrecht“. Dazu müsse „Armutsbestrafung“ abgeschafft und ein Unternehmensstrafrecht eingeführt werden. Zur Begründung führt die Fraktion beispielsweise an, dass sich geschätzt 56.000 Menschen pro Jahr in Gefängnissen befänden, „weil sie nicht dazu in der Lage sind, die meist durch Strafbefehl verschickten und für sie zu hohen Geldstrafen zu bezahlen“. Dahinter stünden Bagatelldelikte. Gleichzeitig würden Unternehmen in Deutschland „Schäden in Millionenhöhe oder auch Milliardenhöhe anrichten, ohne dafür strafrechtlich belangt zu werden“. Die verurteilten Vorstandschefs oder Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen würden die ihnen auferlegten Geldstrafen über den Konzern von der Steuer absetzen können, kritisieren die Abgeordneten.
Zu den Forderungen der Fraktion gehört die Entkriminalisierung von Straftaten wie Fahren ohne Fahrschein, Containern und Drogenbesitz zum Eigengebrauch sowie die mildere Bestrafung des Diebstahls von Verbrauchsmitteln. Ferner sollten Ersatzfreiheitsstrafen abgeschafft, Geldstrafen am Einbußeprinzip orientiert, die Zustellung der Strafbefehle reformiert und die Pflichtverteidigung und die Prozesskostenbeihilfe ausgeweitet werden. Das von der Fraktion geforderte Unternehmensstrafrecht soll laut Antrag unter anderem ermöglichen, Gewinne und Vermögen abzuschöpfen, umsatzorientierte Geldsanktionen zu verhängen, Konzessionen und Lizenzen zu entziehen, Unternehmen von öffentlichen Aufträgen auszuschließen und „als letztes Mittel“ Unternehmen aufzulösen. (scr/vom/ahe/26.01.2023)