Parlament

Karlsruhe sieht keinen Einstieg in eine EU-Transferunion

Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts sitzen in magentafarbenen Roben hinter der Richterbank.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgericht, (l-r) Astrid Wallrabenstein, Peter Müller, Peter M. Huber, Doris König (Vorsitz), Monika Hermanns, Sibylle Kessal-Wulf und Christine Langenfeld, verkündet das Urteil zu milliardenschweren EU-Corona-Fonds. (© picture alliance/dpa | Uli Deck)

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am Dienstag, 6. Dezember 2022, zwei Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz richteten (Aktenzeichen: 2 BvR 547 / 21, 2 BvR 798 / 21). 

EU-Eigenmittelbeschluss 2020

Im Juli 2020 hatten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie das temporäre Aufbauinstrument “Next Generation EU“ (NGEU) vereinbart. Der auf dieser Grundlage gefasste Eigenmittelbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 14. Dezember 2020 (Eigenmittelbeschluss 2020) ermächtigt die Europäische Kommission, zur Finanzierung von NGEU im Namen der Europäischen Union bis 2026 an den Kapitalmärkten Mittel bis zu einem Betrag von 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 aufzunehmen.

Der Bundestag hatte das Gesetz „zum Beschluss des Rates vom 14. Dezember 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom“ (Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz, 19/26821) am 25. März 2021 mit 478 Stimmen bei 95 Gegenstimmen und 72 Enthaltungen beschlossen (19/27901). Die AfD hatte in zweiter Beratung dagegen gestimmt, Die Linke hatte sich enthalten. Am 26. März 2021 stimmte auch der Bundesrat einstimmig zu.

Auf den Antrag mehrerer Beschwerdeführer auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hin hatte der Zweite Senat am 26. März 2021 zunächst angeordnet, dass das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz bis zur Entscheidung über den Eilantrag durch den Bundespräsidenten nicht ausgefertigt werden darf. Mit weiterem Beschluss vom 15. April 2021 lehnte der Senat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Daraufhin wurde das Gesetz durch den Bundespräsidenten am 23. April 2021 ausgefertigt und am 28. April 2021 im Bundesgesetzblatt verkündet.

Keine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof

Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts verletzt das Gesetz die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht auf demokratische Selbstbestimmung aus Artikel 38 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absätze 1 und 2 und Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes, weil der Eigenmittelbeschluss 2020 jedenfalls „keine offensichtliche Überschreitung des geltenden Integrationsprogramms der Europäischen Union darstellt“ und weil er auch die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages nicht beeinträchtigt. Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union bedurfte dem Urteilsspruch zufolge nicht. Die Entscheidung erging mit 6:1 Stimmen, wobei der Richter Peter Müller ein Sondervotum abgab.

Der Eigenmittelbeschluss 2020 ermächtigt die Europäische Kommission zur Aufnahme von Krediten bis zu 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 im Namen der Europäischen Union. Von diesen Mitteln können bis zu 360 Milliarden Euro für die Gewährung von Darlehen und bis zu 390 Milliarden Euro für Ausgaben verwendet werden. Die EU darf die an den Kapitalmärkten aufgenommenen Mittel nicht zur Finanzierung operativer Ausgaben verwenden.

„Verfassungsbeschwerden unbegründet“

Grundlage des temporären Aufbauinstrument NGEU ist die EU-Verordnung 2020/2094 zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union („European Union Recovery Instrument“) zur Unterstützung der Erholung nach der Covid-19-Krise. Kernstück von NGEU ist die sogenannte Aufbau- und Resilienzfazilität („Recovery and Resilience Facility“), die mit EU-Verordnung 2021/241 vom 12. Februar 2021 geschaffen wurde, wie das Gericht ausführt. Der Eigenmittelbeschluss 2020 trat am 1. Juni 2021 rückwirkend zum 1. Januar 2021 in Kraft. Die ersten NGEU-Mittel wurden den Angaben zufolge am 28. Juni 2021 ausgezahlt.

Der Zweite Senat hält die zulässigen Verfassungsbeschwerden für unbegründet, die Beschwerdeführer würden in ihrem Recht auf demokratische Selbstbestimmung nicht verletzt. Dises Recht vermittele Bürgerinnen und Bürgern nicht nur Schutz vor einer substanziellen Erosion der Gestaltungsmacht des Deutschen Bundestages, sondern auch ein Recht darauf, dass Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union nur die Zuständigkeiten ausüben, die ihnen durch den Artikel 23 Absatz 1 des Grundgesetzes übertragen wurden.

„Kreditaufnahme strikt zweckgebunden“

Aus Sicht des Gerichts stellt der Eigenmittelbeschluss 2020 keine offensichtliche und strukturell bedeutsame Überschreitung des geltenden Integrationsprogramms der Europäischen Union dar. Die Ermächtigung der Europäischen Union zur Aufnahme von Krediten an den Finanzmärkten verstoße jedenfalls dann nicht offensichtlich gegen den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), wenn die Mittel für eine der EU zugewiesene Einzelermächtigung verwendet werden und insoweit von vornherein strikt zweckgebunden sind.

Die nach dem Eigenmittelbeschluss 2020 vorgesehene Aufnahme von Krediten im Namen der EU sei auf den „historischen Ausnahmefall“ der Bewältigung der Folgen der Covid-19-Krise beschränkt und strikt zweckgebunden, heißt es in dem Beschluss. Es erscheine nicht unvertretbar, die im Rahmen von NGEU vorgesehene Mittelzuweisung als eine „der Wirtschaftslage angemessene Maßnahme“ einzuordnen. Eine offensichtliche Überschreitung des AEUV sei vor diesem Hintergrund zu verneinen, falls die Verordnung strikt auf den historischen Ausnahmefall beschränkt bleibe, die Erholung nach der Covid-19-Krise beziehungsweise die Bewältigung der negativen wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Krise zu unterstützen.

„Reaktion auf eine präzedenzlose Krise“

Bundesregierung und Bundestag hätten in der mündlichen Verhandlung betont, dass das NGEU ein einmaliges Instrument zur Reaktion auf eine „präzedenzlose Krise“ sei, welche die Covid-19-Pandemie mit massiven Auswirkungen für die europäischen Volkswirtschaften ausgelöst habe, und dass diese Bewertung auch der mit dem Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz erteilten Zustimmung Deutschlands zugrunde liege. Es gehe insoweit nicht um den Einstieg in eine Transferunion, urteilt das Gericht.

Die Ermächtigung der Europäischen Union zur Aufnahme von Krediten an den Kapitalmärkten im Eigenmittelbeschluss 2020 und die damit verbundenen sonstigen Einnahmen seien auch der Höhe nach auf den Maximalbetrag von 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 begrenzt und zeitlich befristet. Zwar erscheine zweifelhaft, ob die Einnahmen aus den Krediten im Verhältnis zu den Eigenmitteln die Ausnahme bleiben, doch spreche viel dafür, dass der AEUV verletzt sein dürfte, wenn die Kreditermächtigung in einem Haushaltsjahr den Umfang des EU-Haushalts übersteigt, wie dies 2021 und 2022 der Fall gewesen sei.

„Regel-Ausnahme-Verhältnis bleibt gewahrt“

Stelle man jedoch auf den Mehrjährigen Finanzrahmen der EU ab, so reiche der Zeitraum, auf den sich die Ermächtigung zur Kreditaufnahme im Eigenmittelbeschluss 2020 bezieht, bis 2026. In den Jahren 2023 bis 2026 werde die vorgesehene Kreditaufnahme deutlich hinter dem Volumen des regulären Haushalts zurückbleiben, sodass für die Mehrzahl der Jahre bis 2026 das vom AEUV geforderte Regel-Ausnahme-Verhältnis gewahrt bleibe, betont das Gericht.

Es erscheine zumindest nicht offensichtlich unhaltbar, statt auf das einzelne Haushaltsjahr auf den Mehrjährigen Finanzrahmen abzustellen, argumentieren die Richter. Der Mehrjährige Finanzrahmen 2021-2027 belaufe sich auf insgesamt 1.074,3 Milliarden Euro; im Vergleich dazu hätten die NGEU-Mittel mit bis zu 750 Milliarden Euro zwar ein signifikantes Volumen, das Regel-Ausnahme-Verhältnis stellten sie jedoch nicht in Frage.

„Vorsorglicher Mittelabruf ist keine Schuldenübernahme“

Wie es in dem Beschluss weiter heißt, sehe der AEUV vor, dass weder die EU noch die Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats haften und nicht für derartige Verbindlichkeiten eintreten. Zweck dieses Bail-out-Verbots ist es, dass die Mitgliedstaaten in ihrer Finanzpolitik autonom bleiben und nicht wechselseitig die Verantwortung für ihre jeweiligen Verbindlichkeiten übernehmen. Einen Finanzausgleich zwischen den Mitgliedstaaten kennt das EU-Recht nicht.

Sollten die Haushaltsmittel der EU jedoch nicht genügen, um die im Rahmen von NGEU aufgenommenen Schulden zu tilgen, könne die EU-Kommission „als letztes Mittel“ von den Mitgliedstaaten velrangen, den Fehlbetrag vorläufig zur Verfügung zu stellen. Ein solcher vorsorglicher Mittelabruf sei jedoch nur temporär und führe nicht zu einer Übernahme von Schulden anderer Mitgliedstaaten.

„Parlamentarischer Einfluss sichergestellt“

Laut Beschluss ist nicht ersichtlich, dass aufgrund des Eigenmittelbeschlusses 2020 Verpflichtungen für den Bundeshaushalt entstehen können, die das Budgetrecht des Bundestages substanziell einschränken. Es würden keine dauerhaften Mechanismen begründet, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinausliefen und die für das Budgetrecht des Deutschen Bundestages von struktureller Bedeutung wären.

Über die im Eigenmittelbeschluss 2020 verankerte Zweckbindung und die Einwirkungsmöglichkeiten des Bundestages auf das Verhalten der Bundesregierung beim Vollzug von NGEU sei zudem ein hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln sichergestellt.

„Haftungsrisiko fortlaufend beobachten“

Dies gelte auch für die Nachschusspflicht, die keine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten oder auch der Europäischen Kommission darstelle, sondern einen vorübergehenden anteiligen Vorschuss, den der Bundestag mit der Zustimmung zum Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz in vollem Umfang verantworte. Die rechnerische jährliche Maximalbelastung für den Bundeshaushalt von etwa 21 bis 28 Milliarden Euro wären zwar erheblich, ließe das Budgetrecht des Parlaments jedoch nicht leerlaufen, hebt der Zweite Senat hervor.

Allerdings sei der Bundestag gehalten, die Verwendung der Mittel aus NGEU und die Entwicklung des damit verbundenen Haftungsrisikos für den Bundeshaushalt fortlaufend zu beobachten und gegebenenfalls Maßnahmen zum Schutz des Bundeshaushalts zu ergreifen.

Sondervotum von Richter Müller

Richter Peter Müller argumentiert in seinem Sondervotum unter anderem, die Senatsmehrheit öffne den Weg zu einer grundlegenden Veränderung der Finanzarchitektur der Europäischen Union, die durch ein dauerhaftes, nahezu paritätisches Nebeneinander von Eigenmitteln und Kreditaufnahmen geprägt sei.

Die Haushaltsstrukturen der EU veränderten sich damit evident in Richtung auf eine Fiskal- und Transferunion. Es sei in keiner Weise ersichtlich, dass diese Haushaltsarchitektur dem Integrationsprozess des AEUV entspreche, so Müller. (vom/06.12.2022)