Auswärtiges

Experten: Russland hat sich als Energieanbieter disqualifiziert

Zeit: Mittwoch, 21. September 2022, 18.30 bis 20.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E. 800

Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine, der Lieferunterbrechung für Erdgas und dem Vertrauensbruch gegenüber seinen Kunden hat Russland sich auf lange Sicht als Energieanbieter disqualifiziert, erklärten die Sachverständigen in einem öffentlichen Expertengespräch zum Thema „Internationale Energiesicherheit angesichts gedrosselter Gaslieferungen aus Russland“ des Unterausschusses Internationale Klima- und Energiepolitik am Mittwoch, 21. September 2022. Die Energieunternehmen im Westen stellten nun die Weichen für Investitionen in andere Richtungen und legten so neue Versorgungswege für die kommenden Jahre fest. Zudem gewännen erneuerbare Energieträger weiter an Bedeutung, so die Experten.

Auswirkungen auf die Schwellenländer

„Das russische Gas ist weg“ vom Weltmarkt, „daher steigt der Preis“, Russland könne seine  Gasförderung auch nicht einfach umlenken oder als Flüssiggas (LNG) exportieren, erläuterte Prof. Dr. Andreas Goldthau, Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS), Potsdam. Die Angebotsverknappung mache insbesondere den wirtschaftlichen Schwellenländern zu schaffen. Der Preis für LNG sei auf nie gekannte Höhen gestiegen. Industrieländer wie Deutschland kauften, egal was es koste. Bisherige asiatische Kunden seien bereits ausgestiegen, litten unter Energiearmut und reaktivierten als Ersatz klimaschädliche Kohlekraftwerke.

Pakistan beispielsweise könne kein LNG mehr kaufen. Aber auch der Preis von Kohle sei signifikant gestiegen, seit im August auch für diesen Energieträger ein Embargo gegen Russland wirksam sei. Länder wie Bangladesch, die Strom subventionierten, liefen in eine Haushaltskrise. Afrikanischen Länder, die noch besonders von der Covid-Krise geschwächt seien, mache vor allem der gestiegene Ölpreis zu schaffen. Energiearmut greife um sich, öffentliche und private Budgets stünden massiv unter Stress. Der Markt sei bei allen Energieträgern volatil und angespannt.

Europa als integrierter Energiemarkt müsse versuchen, seine Kosumstruktur zu verändern, weniger zu verbrauchen und eine Abkehr von Kohle Öl und Gas forcieren. Auch in den Schwellenländern müssten Investitionen in erneuerbare Energien angeregt werden. Die aktuelle Krise biete die Chance, auch privates Geld zu mobilisieren. Dabei spielten die regionalen Entwicklungsbanken ein Schlüsselrolle. Kurzfristig werde Deutschland sein Gas aus anderen Quellen beziehen, per Pipeline aus Norwegen und den Beneluxstaaten, oder in Form von LNG aus Kanada, den USA oder Katar. Dabei sei man in dem Dilemma, dass die meisten Lieferländer eine lange zeitliche Bindung vertraglich festschreiben wollten, um die Investitionskosten zu decken oder Umweltschäden zu beseitigen, während Deutschland seine fossilen Energieimporte schneller reduzieren wolle. Es gehe nun darum, als Alternative zu Erdöl und Erdgas schnell ein globalen Wasserstoffmarkt zu schaffen.

Renaissance bei Nuklearenergie und Kohlekraftwerken

Welche globalen „Kaskadeneffekte“ das Ausbleiben russischen Erdgases zur Folge habe, erklärte Maria Pastukhova von der Organisation Third Generation Environmentalism. Nicht nur, dass die Preise für fossile Brennstoffe stiegen und vor allem Entwicklungsländer in Bedrängnis brächten. Die Versorgungssicherheit sei weltweit in Gefahr. Zudem erlebten die Nuklearenergie und Kohlkraftwerke eine Renaissance, was die Klimaschutzziele gefährde. In Indien, Pakistan oder Myanmar fehle das teure LNG, für das Deutschland mehr biete. Die Inflation gefährde die wirtschaftliche Erholung. Unsicher sei auch, wie China die Energiekrise bewältige.

Neben kurzfristigem Krisenmanagement müsse es darum gehen, geopolitische und ökonomische Spannungen abzubauen und international verloren gegangenes Vertrauen wiederherzustellen. Dabei müsse man sich vor Augen halten, dass die „gegenwärtige Krise systemischer Natur“ und durch den russischen Angriffskrieg nur verstärkt worden sei. Die Lösung bestehe darin, den Weg zu der Dekarbonisierung weiterzugehen.

Selbst wenn Krieg schnell zu Ende gehe, werde Russland nicht wieder zu seiner bisherigen Rolle als Gasexporteur aufsteigen, erklärte Pastukhova. Russische Unternehmen hätten einen massiven Vertrauensverlust erlitten, die westlichen Abnehmer träfen jetzt Investitionsentscheidungen, die ohne Russland auskämen. Politik, Gesellschaft und Wirtschaft müssten zudem den Fokus auf eine dauerhafte Nachfragereduzierung richten. „Die Knappheit wird bleiben.“ Deutschland müsse da auf der Verbraucherseite noch innovativer werden, die Leute anleiten zu sparen. Man scheue sich hierzulande noch zu sehr, Grundlagen aus der Verhaltensökonomie anzuwenden, und zu fragen: Was ist zumutbar?

Wasserstoff als Ausweg

„Ein Stuhlbein des Stuhls, auf dem wir sitzen“ sei abgesägt worden, illustrierte Toralf Pilz vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. (BDEW) den Wegfall russischer Energielieferungen. „Über Nacht fiel über ein Viertel unserer Primärenergielieferungen weg.“ Kurzfristig beziehe man einen Teil der benötigten fossilen Brennstoffe aus anderen Ländern, halte Atom- und Kohlekraftwerke am Laufen. Länder überall auf der Welt ersetzten ausbleibendes Gas durch Kohle. In Deutschland löse die Industrie das Problem zudem durch das Herunterfahren von Betriebsteilen. Neue LNG-Lieferverträge, etwa mit den USA, Kanada, Katar oder Australien schüfen erst ab 2026 Linderung.

Um zu einem verlässlichen Energiemarkt zurückzukehren müsse man auch auf Wasserstoff setzen. „Mittelfristig brauchen wir ein Hochlaufen der Wasserstoffwirtschaft.“ Die entsprechende Infrastruktur müsse besser gefördert werden. Trotzdem werde man technologisch noch einige Jahre auf das knappe Gas angewiesen sein. Erdgas sei eine Übergangslösung. Um wieder zu moderaten Preisen auch für die Verbraucher zurückzukommen und im Klimaschutz voranzukommen, müsse man aber weiter dekarbonisieren und vermehrt die erneuerbaren Energieträger nutzen. „Wir wollen die globale Transformation anpacken und müssen dazu Anreize und Anstöße finden.“

Universeller Zugang zu Energie in Gefahr

Sehr prekär stelle sich die Situation infolge der Rohstoffknappheit in Afrika und Asien dar, sagte Dienel Wetzel von der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris, „dahin sollten wir unsere globale Aufmerksamkeit richten.“ Die hohen Energiepreise machten besonders den dortigen Schwellenländern zu schaffen, der „universelle Zugang zu Energie“ gerate in Gefahr, Energiearmut greife mehr als anderswo um sich. Der russische Aggressionskrieg habe Unternehmen weltweit getroffen, bedeute politische Instabilität und eine Rückkehr zu fossilen Energieträgern, bringe Haushalte unter Druck und lasse Klimaschutzverträge wackeln. Jedes Land versuche die Energiekrise auf seine Art abzufedern.

Die Industrieländer seien jedoch im Vorteil. Diese nähmen zehnmal so viel Geld in die Hand, um saubere Energieträger zu fördern, während die Schwellenländer weiter abhängig blieben von Energie als Handelsware und nicht in Lage seien, vor Ort eigene, grüne Energie zu generieren. Vor allem denen müsse mit Misch-Investitionen regionaler Entwicklungsbanken und privatem Kapital geholfen werden. Um die weltweite Rohstoffkrise, deren Teil die deutsche Gaskrise sei, abzufedern und zu einem funktionierenden Energiemarkt zurückzukehren, müssten Politik, Wirtschaft und Gesellschaft alle möglichen „Maßnahmen zusammenstücken“: Gasfelder und Pipelines aus alternativen Richtungen anzapfen, Methan-Leckagen reduzieren, auf LNG setzen, in die Wasserstoffwirtschaft und andere, erneuerbare Energieformen einsteigen, aber auch das Verbraucherverhalten ändern. Die Vorzeichen stünden nicht mehr auf unnötigem Überfluss. (ll/22.09.2022)