Afghanistan-Ausschuss nimmt Doha-Abkommen unter die Lupe
Zeit:
Donnerstag, 22. September 2022,
12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal, PLH 4.900
Mit einer öffentlichen Anhörung hat der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) am Donnerstag, 22. September 2022, seine inhaltliche Arbeit aufgenommen. Thema war die Lage in Afghanistan zum Zeitpunkt des Doha-Abkommens über einen US-Truppenabzug aus Afghanistan. Die USA und die radikalislamischen Taliban hatten es im Februar 2020 unterzeichnet. Zunächst hörte der Ausschuss Sachverständige zur Lage der Zivilgesellschaft und der Stabilität der Institutionen in dieser Zeit an.
Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte 1. Untersuchungsausschuss der 20. Wahlperiode befasst sich unter Leitung von Ralf Stegner (SPD) mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des Doha-Abkommens – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.
„Abkommen war aus Sicht der Friedensforschung handwerklich miserabel“
Dr. Conrad Schetter vom Bonn International Center for Conflict Studies erklärte in der mehrstündigen Sitzung, das Abkommen sei aus Sicht der Friedensforschung „handwerklich miserabel“ gewesen. Es hätten verbindliche Kriterien, Instrumente zum Monitoring und ein Plan gefehlt, an den die Vertragspartner sich hätten orientieren könnten. Außerdem habe es keine Koordinierung zwischen dem Abzug der US-Militärs aus Afghanistan und der Implementierung des Abkommens gegeben. Viele Afghanen hätten nicht daran geglaubt, dass die USA und ihre internationalen Verbündeten sich tatsächlich aus dem Land zurückziehen würden und seien deshalb unvorbereitet gewesen.
Seine Kollegin Dr. Katja Mielke unterstrich, das Abkommen sei bilateral zwischen der US-Regierung und den Taliban verhandelt und viele Akteure „außen vor gelassen“ worden, etwa die damalige afghanische Regierung, die Vertreter der Zivilgesellschaft und nach ihrer Kenntnis auch die internationalen Partner der USA.
Sachverständige: Zivilgesellschaft wurde umgangen
Mariam Safi von der Organization for Policy Research and Development Studies urteilte ebenfalls, die afghanische Zivilgesellschaft sei während des ganzen Prozesses umgangen worden. Sie hätte gehofft, dass Deutschland ihre Forderungen an den Verhandlungstisch herantragen würde. Doch sie seien enttäuscht worden.
Deutschland, fügte sie hinzu, sei nach den USA der wichtigste internationale Akteur in Afghanistan gewesen. Die deutschen Diplomaten hätten jahrelang immer auch mit der Zivilgesellschaft gesprochen und ihre Meinung eingeholt.
Entwicklungspolitische Zusammenarbeit
Zu den entwicklungspolitischen Aspekten äußerten sich der ehemalige Regionalleiter der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ (früher GTZ), Hans-Hermann Dube, und Ellinor Zeino, die ehemalige Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul. Dube berichtete, die Gelder der internationalen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, vor allem die der USA, seien der Korruption im Land zum Opfer gefallen. „Die Gelder wurden sofort wieder aus dem Land gebracht“, sagte Dube. Dennoch habe gerade die deutsche Entwicklungspolitik viel erreicht und genieße in Afghanistan weiterhin hohes Ansehen.
Im Hinblick auf das Bestreben Chinas, seinen Einfluss in Afghanistan auszuweiten, sprach er sich für die Fortführung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit im Land aus. Zeino hingegen vertrat die Ansicht, durch die große finanzielle Hilfe der Geberländer sei Afghanistan in Abhängigkeit zum Ausland geraten.
Kritik an Abschiebungen im Sommer 2021
Thema der Anhörung waren auch die Abschiebungen aus Deutschland nach Afghanistan im Sommer 2021. Katja Mielke erklärte, dass die Sicherheitslage im Land durch das Doha-Abkommen nicht positiv beeinflusst worden sei.
Die Gewalt vor allem gegen die Zivilgesellschaft habe sogar zugenommen. Sie vertrat daher die Ansicht, dass die Abschiebungen damals hätten überdacht werden sollen.
Auftrag der Bundeswehr war widersprüchlich
Im zweiten Teil der öffentlichen Anhörung hat der 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan die militärische Lage vor dem Ende des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr analysiert. Im Mittelpunkt stand auch die Zustimmung des Bundestages am 25. März 2021 zur Fortsetzung des Einsatzes, obwohl das Doha-Abkommen bereits einen Rückzug der US-Truppen vorsah. Die USA und die radikalislamischen Taliban hatten das Abkommen im Februar 2020 unterzeichnet.
General a.D. Hans-Lothar Domröse erklärte während der Anhörung den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses, der Wechsel von der Nato-Mission ISAF zur nachfolgenden Mission Resolute Support zu einem Widerspruch in der Mandatierung geführt habe. Denn danach hätten zwei Missionen mit unterschiedlichen Aufgaben nebeneinandergestanden. Während die US-Truppen weiterhin kämpften, sollten gleichzeitig die afghanischen Truppen ausgebildet werden. Niemand mehr habe unterscheiden können, „welches Kontingent 'ausbildete' und welches 'kämpfte'.“
Außerdem habe die Bundeswehr die Kasernen nicht verlassen dürfen. So sei aber die Kontrolle der afghanischen Soldaten nicht mehr möglich gewesen, die ausgebildet wurden. Auch die Kontakt zur Bevölkerung sei dadurch verloren gegangen. „Soldaten werden doch nicht zur Stationierung geschickt“, so Domröse. In seiner schriftlichen Stellungnahme (20(27)99) bemängelte Domröse auch das Zustandekommen des Doha-Abkommens. Bilaterale Verhandlungen seien nicht geeignet, dauerhaft Frieden zu schaffen und stünden auch im Widerspruch mit dem „militärischen Verständnis“, das bis dahin galt.
US-Regierung ändert ihre Haltung
Auch Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik ging auf das Vorgehen der US-Regierung ein. „Bis 2018, 2019 war das Mantra der US-Politik: nie über die Köpfe der Afghanen verhandeln.“ Diese Haltung habe sich danach schlagartig geändert. Ein Punkt, den auch der Schweizer Journalist Franz J. Marty teilt, der seit 2014 in Afghanistan lebt und arbeitet. „Sie haben ihr Mantra über Nacht verworfen und nicht mehr davon gesprochen, die Taliban müssen mit der afghanischen Regierung verhandeln.“ Es sei nur von „den Afghanen“ die Rede gewesen.
Die afghanische Politikerin Fatima Gailani berichtete von den Verhandlungen zwischen den Taliban und den Vertretern Afghanistans, die gemäß Doha-Abkommen parallel zum Abzug der US-Truppen vorgesehen waren. Sie hätten keine Informationen darüber gehabt, was die USA und die Taliban mit dem Doha-Abkommen vereinbarten. Während der Verhandlungen hätten sie jedoch gemerkt, dass beide Unterzeichner des Doha-Abkommens uninteressiert waren. Der Misserfolg habe schließlich nicht im militärischen Bereich gelegen, sondern im politischen. Die afghanische Delegation habe eine politische Lösung angestrebt, die eine inklusive Regierung beinhalten sollte. Sie hätte sich jedoch keine Gedanken darüber gemacht, wo sie ihre „roten Linien“ hatte und an welcher Stelle sie Kompromisse eingehen könnte. Die Taliban hingegen hätten ganz klar gewusst, was sie erreichen wollten.
Situation afghanischer Sicherheitskräfte
Auf die Frage von Ralf Stegner, ob er im Rückblick einen Fehler in der letzten Zustimmung des Bundestages zur Weiterführung des Bundeswehreinsatzes erkennen könne, antwortete Markus Kaim, einige Indikatoren und Eckpunkte seien übersehen worden. So sei kurz davor bekannt geworden, dass die afghanische Armee nicht 280.000 Soldaten, wie bis dahin angenommen, sondern nur 150.000 hatte. Außerdem sei es bekannt gewesen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte auf die Luftunterstützung der USA angewiesen waren.
Der Kriminalwissenschaftler und AfD-Abgeordnete im Landtag in Nordrhein-Westfalen, Daniel Zorbin, stellte am Ende der Anhörung seinerseits fest, der Westen habe unbedingt gewollt, „dass dieses Projekt gelingt.“ Das sei ein Fehler gewesen. In Zukunft müsse man genau überlegen, welchen Einsatz man mitmache. Sicherlich müsse die europäische und deutsche Komponente gestärkt werden. (crs/23.09.2022)